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Rituale - eine Kindheitserinnerung

Elfie

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Der Mensch macht aus seinen Gewohnheiten Rituale. Meist unbewusst.
Kinder phantasieren. Ganz bewußt.
Versetzen sich in imaginäre Figuren, die Bestimmtes tun, weil es zu ihrer Rolle gehört.
Rituale sind vielleicht sichtbar gewordene Phantasien, wer weiß das schon?

Davon weiß Lisa mit ihren kaum 4 Jahren noch nichts und was war Brauchtum mehr als Gewohnheit?
Doch sie kennt den Brauch, Haarlocken aufzubewahren.
Als man ihr die Locken abschnitt, weil sie zwar lang, aber ziemlich dünn waren, sollte das der Kräftigung des Haares dienen. Erinnern kann sie sich daran nicht, doch in Omas Nähkästchen gibt es einen kleinen Stoffbeutel und darin in Seidenpapier gewickelt ihre Locken. Also nimmt sie an, es wäre üblich, Haare in Papier zu wickeln und in Nähkästchen zu legen.

Eines Tages ist Lisa mit ihrem Großvater allein zu Hause.
Sie sind in der Küche, das Kind steht auf der Bank und spielt auf dem Tisch herum, der Mann bemüht sich redlich, es zu unterhalten. Irgendwie dürfte das auch gelungen sein, denn nur gut unterhaltene Kinder sind brav und nur neben solchen kann man schlafen. Jedenfalls legt Großvater den Kopf auf die Unterarme am Tisch und entschlummert.

Lisa ist ganz still.
Sie weiß, dass der Großvater schwer arbeiten und mit dem Fahrrad weit zu den Baustellen fahren muss. Dabei hat er nicht eine einzige Zehe an den Füßen – in Russland abgefroren, sagt die Großmutter. Im Krieg.
Das Kind versucht sich selbst zu unterhalten, darin ist es geübt und irgendwann würde Opa ja wieder aufwachen.
Kratzen und klopfen auf der Steinplatte des Tisches darf sie nicht, das würde Lärm machen, also beschließt sie ihr zweitliebstes Spiel, das die Großmutter gar nicht mag, aber die ist jetzt nicht da.
Sie beginnt aus den Spalten zwischen Platte und umgebendem Holzrand die weiche Masse heraus zu holen. Mit einer Stricknadel aus Omas Nähkörbchen, das immer in der Bankecke steht. Wie gut, dass da verschieden starke Nadeln sind, denn manchmal gibt es gar keinen Zwischenraum und dann wieder einen ganz schmalen, der allmählich breiter wird. Jedenfalls hat sie schon eine Reihe dunkelgrauer Krümel liegen, die sie später zu Kügelchen, Würstchen oder Plättchen formen würde. Sehr häufig kann sie das ohnehin nicht machen, sie muss wieder warten bis sich genug gesammelt hatte an Material, das beim Essen, Kochen und Spielen entsteht und durch das Wischtuch – besser gesagt, den nassen Fetzen – verflüssigt, verdichtet und in den Spalt geschmiert wird und später diese schöne Modelliermasse ergibt.

Irgendwie freut sie dieses Spiel heute nicht, es ist wohl Großvaters Haupt, das der Kreativität im Wege liegt.
Lisa beginnt, im Nähkörbchen zu kramen, Knöpfe zu bewundern, Fäden aus Nadeln zu ziehen…
Immer wenn es langweilig wird, schlüpft sie in Rollen. Ist mal dies, mal das, Zauberin oder Fee, Ärztin oder Krankenschwester und oftmals beides zugleich.
Eine Schere im Nähkörbchen dürfte diesmal Ähnliches auf den Plan gerufen haben.
Lisa schaut auf den Kopf des Großvaters, klettert von der Bank, holt aus der Holzlade unterm Herd ein Stück Zeitung und ist gleich wieder oben. In gehörigem Abstand umkreist sie mit magischen Fingerbewegungen das graue Haupt, kichert in sich hinein und schnippt ein kleines Büschel Haare, soviel sie eben zwischen drei Fingern halten kann, ab und legte es auf das ausgebreitete Papier.

Dann ein zweites und wieder und noch mal. Ein paar mal verändert sich der Atem des Schlafenden, dann gilt es, mit der Operation inne zu halten.
Inzwischen ist ein schöner kreisrunder haarfreier Fleck entstanden. Die Operation ist erfolgreich beendet, nun noch das Abschlussritual, das Lisa nach jeder Handlung, jedem Spiel setzt. Vielleicht soll es diesmal einen Verband symbolisieren.

Lisa nimmt einen schönen dunkelblauen Knopf – einen mit einer Metallschlinge zum Annähen an der Rückseite – und drückt ihn in Großvaters kahle Stelle.
Mit einem Auweh und den Fragen, was sie denn schon wieder Dummes mache und ob er etwa eingeschlafen sei, schreckt dieser auf.
„Macht nix“ meint das Kind, verschnürt mit einem Faden das Papierpäckchen und legt es ins Körbchen.

„Ram zaum, sunst schimpft d´Muada“, meint der Mann gutmütig und Lisa folgt.

„Voda, du kriagst aa scho a Glotz´n“ sagt später die Großmutter.
Großvater ist empört. Er doch nicht. Daraufhin ist das Thema vom Tisch.
Als er vom nächsten Frisörbesuch heimkommt, meint er mürrisch: „Der Hoarschneider spinnt. Sogt glott, des is ka Glotz´n, de Hoar san ogschnitt´n.“

Unauffällig begleitet Lisa die Katze zur Tür hinaus…

Eines Tages liest Großvater die Zeitung, Lisa kritzelt ein Blatt Papier voll und die Großmutter näht.
„Schau, des san da Kloan ihre Lockerln“ ruft sie entzückt, während sie den Zeitungswutzel entfaltet.

„Voda, des san deine Hoar“ meint sie gleich darauf drei Töne tiefer und beide schauen das Kind an, das aber gerade so intensiv zeichnet, dass es keiner dabei stören will.
 
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