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Auf Anregung von Harry hier ein paar Pressestimmen zum Untergang der "Titanic" am am 14. April 1912 gegen 23:40 Uhr.

Die "Neue Freie Presse" berichtet am Dienstag den 16. April 1912 (verfasst am 15. April) erstmals vom Unglück der Titanic. Der Artikel schildert recht eindrucksvoll die technikgläubige Aufbruchstimmung dieser Zeit und gibt einen guten Einblick, warum die Hoffnungen genau an diesem Schiff lagen: Das "Zusammenwirken menschlichen Talents", die "Vollendung der technischen Kultur", der "Sieg über die Entfernung" und endlich eine Form zu Reisen "wie auf einer Brücke, die Weltmeere verbindet".

Und dann das Unvorstellbare: "Das schwimmende Eis, auch eine Art von Schiff, aber ein Totenschiff, dem kein lebendiges nahen darf, zertrümmert das Erzeugnis einer Zeit, die gewohnt ist, die Natur wie selbstverständlich ihrem Bedürfnisse nach Ausbreitung und Verbindung dienstbar zu machen." - Ein Satz, der wohl bis heute kaum verstanden und immer noch gültig ist...

"Wien, 15. April.​
Das Schiff „Titanic“ wäre beinahe durch einen Eisberg vernichtet worden. Es ist das größte Schiff der Welt; selbst ein schwemmender, haushoher Berg, eine wandelnde Stadt, die aber, von mächtigsten Triebkräften in Bewegung gesetzt, über den Ozean in ferne Länder geht. Das größte Schiff der Welt! Und doch nur ein armseliger Zwerg, der vor der Wucht eines Eisberges in die Knie sinkt, nach allen Seiten hin um Hilfe ruft und noch glücklich sein muss, wenn das Element in seiner Übermacht ihn nicht ganz zerstört. Vierzehnhundert Menschen waren seit gestern Nacht in schwerster Gefahr, vierzehnhundert lebensfrohe, wegfreudige, reiselustige Männer und Frauen; gewiss viele verwöhnt und unbekümmert, mit jener anmaßenden Sorglosigkeit, die aus der Vollendung unserer technischen Kultur entspringt, deren Siege so oft hochmütig genossen werden. Die meisten aber wohl mit jenem Gefühl der Befreiung und des Vordringens, mit jener seltsam prickelnden, hinreißenden Erregung, die ein so organisierter, gleichsam selbstverständlich gewordener Sieg über die Entfernung und das Meer hervorruft. Fast wirkt es altvaterisch, daran zu erinnern, dass Horaz gesungen hat: Dreifach gepanzert müsse die Brust dessen gewesen sein, der zuerst das Schiff dem wilden Meere anvertraute. Schon die Namen der jetzt in England gebauten Dampfer klingen wie eine schmetternde Fanfare des Erfolges. Es ist etwas Napoleonisches in dieser Durchbildung jeder Einzelheit, in dem gigantischen Zusammenströmen und Zusammenwirken menschlichen Talents und elementarer Kräfte. Die Vorstellung kann kaum heftiger angeregt werden als durch das Bild eines jener Rauchfänge, in welchen bequem und ohne Mühe eine Lokomotive mit ihren Waggons Platz fände. Alle Dimensionen, alle Verhältnisse sind wie durch einen Zauberspruch ins Unüberblickbare gesteigert. Es ist, als würde durch menschliche Begabung die Urweltgröße wieder aufstehen. Als dieser größte Dampfer der Welt vor fünf Tagen von Southampton wegfuhr, wirbelte ein so reißender Strom aus dem Meere auf, dass ein Schiff, von seinen Ketten losgerissen, beinahe niedergefahren worden wäre. Das erinnert an die alten Sagen, in denen erzählt wird, wie der Mahlstrom den Schiffer mit schauriger Schnelligkeit in die Tiefe zieht.​
Die „Titanic“ ist ausgefahren wie ein stolzes Admiralsschiff unserer technischen Kultur. Im Innern: Wärme, höchster Luxus und Behaglichkeit. Tennisplätze, Schwimmbäder, ein türkisches Bad und, als Kuriosität, ein Café Parisien, das mit Efeu geschmückt ist, der am Gitterwerk sich emporrankt; Staatsräume zu fabelhaften Preisen, ganze Wohnungen mit Schlafzimmer, Salon und Bad, mit abgeteiltem Promenaderaum. Keine Rede mehr von den dumpfen, unbequemen Kabinen, welche früher die Qual und Plage der Überfahrt vermehrten. Keine Rede auch von der Einpferchung der ärmeren Passagiere ins Zwischendeck. Silbernes Besteck für zehntausend Menschen, Fassungsraum für mehr als zwanzigtausend.​
Die drahtlose Telegraphie verbindet das Meer mit dem Festland und vermindert die Gefahren der Isolierung. Gefahr? Gibt es für solche Riesen wirklich noch eine Gefahr? Für diese bis zur Vollendung ausgerüstete, zur Einheit gewordene Armada, die siegreich das Meer durchzieht? Wird ein Leck geschlagen und dringt Wasser ein, so schließen sich sofort Stahlklappen, die jede Verbreitung, jedes Vorwärtsströmen der Wellen verhindern. Bricht ein Brand aus, so bedarf es nichts als eines Handgriffes in jeder Kabine, in jedem Zimmer, und ein Strahl schießt hervor, der stark genug ist, die wildeste Flamme zu beherrschen und zu ersticken. Und dennoch Gefahr? Dennoch keine Ruhe und vollständige Sicherheit? Wie seltsam und zugleich wie furchtbar berühren die Nachrichten, die von den Ängsten und Hilferufen und von der Rettung der Passagiere, von der Eile all der Schiffe erzählen, die den Notschrei auf Hunderte von Meilen weg vernommen hatten. Ein Eisberg gegen ein Schiff; ein Stück Gletscher wird von der Strömung abgerissen, oft mit Moränenschutt beladen. Umbrandet von Wellen, ragt er wie ein Plateau oder wie ein ungeheurer Keil aus ihnen hervor. Von Grönland schwimmt er langsam nach Süden hin, der Schrecken aller Schiffahrer, ein Schrecken besonders jener Küsten von Neufundland, wo die „Titanic“ getroffen wurde. Und so groß ist dieser Schrecken, dass die Seewarte in Hamburg, das Seeamt in Newyork Eisprognosen anstellen, Eiskarten anlegen, die den auslaufenden Schiffen mitgegeben werden. So groß ist dieser Schrecken, dass die einander begegnenden Schiffe sich gerade bei der Neufundlandbank Signale geben, die den Eisverhältnissen gelten. Dieses Urgebilde, dieser barbarische Klumpen, der vielleicht im Nebel unsichtbar blieb, stößt nun wie ein Sturmbock donnernd an die Wände des großen Schiffes. Ist es nicht, als wäre hier an einem phantastischen Beispiel wieder der alte Kampf, zwischen der scheinbar unterjochten, scheinbar schwächer gewordenen Natur und der menschlichen Energie aufgenommen? Das schwimmende Eis, auch eine Art von Schiff, aber ein Totenschiff, dem kein lebendiges nahen darf, zertrümmert das Erzeugnis einer Zeit, die gewohnt ist, die Natur wie selbstverständlich ihrem Bedürfnisse nach Ausbreitung und Verbindung dienstbar zu machen. In den tiefsten Wildnissen von Zentralafrika wird über die Stromschnellen des Zambesi in schwindelnder Höhe eine Brücke gebaut: für eine Bahn, die das Kap mit Kairo verbinden, ganz Afrika mit einem einzigen Strange durchmessen soll. Geschosse gibt es, die eine Entfernung etwa von Krefeld nach Düsseldorf bestreichen. Wie in Stockwerken und Türmen richten sich die Stahlgehäuse der Dampfmaschinen, der Turbinen mit ihren Tausenden von Schaufelordnungen und kolossalen Dynamos auf.​
Dennoch hat diese Maschinenkraft nicht ausgereicht, um die „Titanic“ zu retten. Die Menschen sind ans Land gebracht worden, sie haben ihr Leben, mühsam gewiss und mit vielen Gefahren, erhalten. Erhalten nach einer Nacht, die wie ein einziger großer Hohn gewesen sein muss auf all die feinen Köstlichkeiten und fabelhaften Luxusdinge, die ihnen auf dem Schiffe geboten waren. Wie die Bilder aus der alten Zeit Schiffbrüchige zeigen, die zusammengedrängt, angstzitternd ihr Schicksal erwarten, Boote, die mit den Wellen kämpfen, aussenden, so mag auch hier auf der Glanzstätte siegreichster Vollendung alles wie- in der armen verachteten Vergangenheit zugegangen sein. Verschwunden alle Sicherheiten, verschwunden alle Tünche des „modernen“ Reisenden, der sich wie auf einer Brücke fühlt, die Weltmeere verbindet, und wie im Traum ganze Länder durcheilt. Und was ist Zurückgeblieben? Der arme, schwache, von einer starken Faust niedergeschmetterte Mensch, der als letzten Rest dieser gloriosen „Jungfraufahrt“ der „Titanic“ ein Wrack in den Wellen treiben sieht und mit allen großartigen Hilfsmitteln eben nur sein Leben rettet.​
Aber diese Stimmung, die ein bisschen an die Melancholie des guten „Jedermann“ erinnert, der von seinem Freudenmahl, von seinem Geld und Gut abgeholt und abberufen wird, vergeht sehr rasch. Wie geringfügig ist dieses einzige Unglück, das schließlich nur ein Schiff und kein Leben getroffen hat, gegen die regelmäßige, unbeirrbare, eherne Sicherheit des Weltverkehrs, der uns wie eine von Menschen geschaffene Natur zur Denkgewohnheit geworden ist. Die Küste von Neufundland, wo die „Titanic“ vom Unglück getroffen wurde, ist dieselbe, wo im elften Jahrhundert Normänner schon gewohnt haben sollen, es ist dieselbe Küste, die im sechzehnten Jahrhundert ein Spanier entdeckt und in Besitz genommen hat. Sie alle haben dem Meere mit seinen Stürmen, den Eisbergen auf ihren armseligen Wikingerbooten, deren Reste wir jetzt ausgraben, auf ihren Gallionen getrotzt, und das Unglück der „Titanic“, es ist doch nur ein, wenn auch furchtbares Rückzugsgefecht der Natur, die den Übermütigen zeigt, dass ihre Kräfte nur schlummern, dass sie immer noch wuchtiger, immer noch brutaler ist, als die Menschen in ihrer ganzen Klugheit und List vermuten. Wenn sie ganz sicher zu sein glauben, wenn sie sich am freudigsten den, glänzenden Genüssen hingeben, erhebt sie nur ein klein wenig den Finger und pflanzt drohend und schaurig ihre Übermacht als Warnung auf. Die „Titanic“ hat so eine böse Laune des Elements zu spüren bekommen. Freuen wir uns, dass kein Menschenleben verloren ging. Freuen wir uns, dass selbst gegen ein solches Unglück noch Hilfsmittel gefunden wurden. Freuen wir uns, dass wir stark genug sind, auch solchen Gefahren gegenüber den Mut zu wahren, der nicht rückwärts sieht, sondern der aus der Erfahrung und aus dem Kampfe sich neue Waffen schmiedet und den Zufall durch die Erkenntnisse, die er bringt, zum Glück werden lässt. An mehr als vierzehnhundert Menschen ist der Tod schaurig nahe vorbeigegangen. Das klingt furchtbar. Aber es bedeutet nur das, was täglich und stündlich das allgemeine Schicksal ist, und dennoch sagen wir in dieser Zeit, wo alle Kräfte zu so ungeheurer Leistung angespannt sind, wo selbst ein so großes Unglück zwar das Schiff zerstören, aber die Rettung der Menschen nicht verhindern konnte: Es ist eine Freude zu leben!"​

Quelle: Neue Freie Presse, 16. April 1912

Wolfgang (SAGEN.at)
 

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Ziemlich ernüchtert dann Paul Zifferer am nächsten Tag in der "Neuen Freien Presse. In diesem ausdrücklich als "Feuilleton" gekennzeichneten Artikel werden außerordentlich viele Dinge erwähnt, die der Autor zu diesem Zeitpunkt und mit den damaligen Kommunikationsmitteln zumindest von der "Titanic" nicht gewusst haben konnte. Dieser Artikel ist damit ein sehr gutes Beispiel journalistischer Schriftstellerei, die Fakten und Fiktion vermischt.


"„Titanic."

Dieser Name, dessen Klang das erschreckte Pochen eines Telegraphenapparates nachzuahmen scheint, das plötzlich abreißt, war einem stolzen Schiff zu eigen, das nun tief unten im Atlantischen. Ozean begraben ruht. Den Triumph der modernen Kultur zu verkünden, hatte man diesen Namen aus der griechischen Heldensage hergeholt, an den gewaltigen Kampf sollte er mahnen, den ein empörtes Geschlecht, über die gemeinen Niederungen der Menschheit erhoben, den Göttern doch nicht ebenbürtig, Ossa auf Pelion türmend, gegen den Olymp zu führen sich vermaß. Seltsames Zusammentreffen: aus dem Holze der Pelionwälder ward das erste große Schiff gebaut, von dem die hellenische Welt Kunde bekam, die fünfzigruderige Argo, auf der Jason auszog, das goldene Vlies sich zu gewinnen. Athene selbst hatte den Bau dieser frühen „Titanic“ überwacht und ins Vorderteil ein Stück der heiligen Eiche von Dodona gefügt, aber neidig und missgünstig verfolgte Poseidon den kühnen Zug der Argonauten, wie er auch gegen die Titanen mitten aus dem Meere plötzlich einen gewaltigen Sturmbock reckte. Direkt an die Heldensage knüpft die große Schiffskatastrophe an, die heute den Gleichmut der ganzen Menschheit wachrüttelt; ein ewiger Mythos offenbart sich uns, tief ergreifend und gespenstig zugleich:, von den erzürnten Naturgewalten, die den Übermut der Irdischen brechen, die Hochfahrenden demütigen, die Allzukühnen zerschmettern. Was sich ferne im Weltmeere an Schrecknissen zugetragen hat, ist Sache der ganzen Menschheit. Wenn zwei Völker einander bekriegen und der Tod viel tausend junge Leben auf den Schlachtfeldern hinrafft, nehmen die Nachbarn mitleidsvoll zwar die Botschaft hin, werden aber des eigenen friedlichen Lebens doppelt, froh. Der Untergang dieses Schiffes indessen, das bestimmt war, eine neue schnelle Brücke zwischen zwei Weltteilen zu wagen, berührt uns alle gleichmäßig. Ein wildes Ungetüm, der vom Perserkönig gepeitschte Ozean, den man längst gebändigt, der Menschheit untertan glaubte, zersprengt von neuem seine Ketten, die Polarwelt, deren Bannkreis die Menschheit vor kurzem erst siegreich gebrochen, nimmt nun selbst den Kampf außerhalb der Grenzen ihres Reiches auf, lässt die Flotte ihrer eisgepanzerten „Invincibles“ in der nördlichen Atlantis kreuzen, sucht nach Piratenart in Nacht, und Nebel die gute Beute. So wird der Name des gesunkenen Riesenschiffes, der „Titanic“, zum Symbol, Deutsche und Franzosen, Engländer und Russen, weiße und rote, gelbe und schwarze Rassen sprechen heute zitternd und lief erregt diesen Namen aus, willig passt er sich allen Idiomen an. Und man mag sich ausmalen, wie vielleicht irgendwo in Tripolis, wo Italiener und Türken kämpfend einander gegenüberstehen, bei den Wachtfeuern hüben und drüben die finstere Botschaft sich verbreitet und einen Augenblick lang allen Hass und alle Siegeshoffnung vergessen lässt, als genügte dies eine Wort, um jeglichem Hader der Menschen gegen die Menschen Einhalt zu gebieten, der eine Schreckensruf: „Titanic".

Früher einmal gehörte der Schiffbruch zu den regelmäßigen Fährlichkeiten reiselustiger Völker, Seefahrt war Beutezug und Eroberung und der Schiffbruch ein notwendiges Übel wie etwa die Pest beim Landkrieg. Mit dem Fremden kannte man kein Erbarmen, wer die Fremde suchte, zog „ins Elend“, der Schiffbruch galt als Strafe für den Übermut des Reisens, der Gestrandete verlor Hab und Gut, es fiel den Uferbewohnern zu. „Afflavit Deus et dissipati sunt“, ließ die Königin Elisabeth auf goldene Denkmünzen prägen, als das britische Meer die große „Armada“ verschlang. Die Odyssee war das griechische Heldenepos des Schiffbruches, wie der Roman von Robinson Crusoe den Engländern des achtzehnten Jahrhunderts das große Abenteuer des Meeres neu erzählte; wer sich dem Ozean anvertraute, sah dem Tod ins Antlitz, und in allen Spinnstuben liefen Gespenstergeschichten um von gestrandeten Schiffen oder von deren wunderbarer Rettung. Im Pariser Louvre ist ein berühmtes Bild von Vernet zu sehen, „Le Naufrage“ betitelt, in jener Zeit gemalt, da noch die See eitel Schrecknis bedeutete. Ganz nahe dem Ufer erblickt man ein Kauffahrteischiff gegen Wind und Wetter ringen, aussichtslos scheint der Kampf, riesenhoch bäumen sich die Wellen, schwarz und finster schieben sich die Uferfelsen vor, neue Gefahr statt Rettung bringend. Und ach, so winzig klein ist das Schiff, die Segel hilflos wie Schmetterlingsflügel, tauchen schon in die Gischt, Blitze zucken nieder, vom Himmel, von dem festen Land wie von den aufgeregten Gaffern droht dreifach das Verderben.

Dies alles schien nun so ferne schon zu liegen, andere Bilder bekam man zu schauen, von Schiffen, die über viele Wellenberge hin ihren gewaltigen Kiel streckten, deren Schrauben die See tief aufwühlten wie der Pflug die dienstbare Ackerscholle. Unbesiegbar, jeglicher Unbill verächtlich trotzend, zogen diese Fahrzeuge übers Meer, beinahe möchte man sagen: querfeldein wie die Eisenbahnen und fast ebenso verblüffend schnell wie diese; genau ihren vorgeschriebenen Weg vollendend, als führte er auf fest verankerten Schienen dahin. Ohne langes Besinnen bestieg man solch ein Schiff, die Fahrt selbst bedeutete Erholung, man verbrachte einige Zeit in einem vornehmen Hotel, in einem Sanatorium, in einem Kurort, um plötzlich irgendwo an einem fernen Ufer zu landen. Das hatte etwas Zauberhaftes, als wäre hohe Magie im Spiele gewesen, man reiste bequem und sorglos wie Faust im gebauschten Mantel seines Freundes Mephistopheles. Wer fürchtete noch das Meer? Ganz selten einmal widerfuhr einem alten, schlechten Schifflein etwas Böses, aber Hilfe war doch zumeist rasch zur Hand, und man tröstete sich mit dem Gedanken, dass von Jahr zu Jahr mit der gesteigerten Größe und Festigkeit der Dampfer auch der letzte Rest von Gefahr beseitigt werde. Und surrten nicht hier und dort schon kleine Fahrzeuge in der Luft, hoch über dem Meer, der lächerlich aufgeregten Wellen tief unten spottend? Nun aber wird mit einem mal diese schöne und stolze Sicherheit zunichte, wir glauben gellend den Wehschrei zu vernehmen, den längst die entsetzliche See mit vielen grausigen Hektatomben in sich hineingeschlungen hat. Die Welt, die wie in einer Betäubung ihren ruhelosen Geschäften nachhaftet, besinnt sich eine Sekunde lang, misst den Hass, das Verderben, das Verhängnis, das rings um die Menschen lauert. Gleichwie tausende Meilen weit noch die Wellen eines Erdbebens deutlich wahrnehmbar sind, so fühlen wir alle jetzt den Schrecken in den Gliedern, als wären wir selbst nur durch einen wunderbaren Zufall der tückischen See entronnen, die das größte Bollwerk zerschlug, von Menschenkraft gegen die blinde Wut des Meeres erbaut: die „Titanic“.

[...]

Nun aber ist die „Titanic“ doch gesunken, das mächtigste Schiff der Welt, das gegen alle Wetter gefeit schien wie kein anderes. Als habe die erboste See ganz deutlich und eindringlich ein Exempel geben wollen, erkor sie sich gerade dieses Schiff zum Opfer. Kurz vor Beschluss jeder Amerikafahrt wird zumeist das „Captaindinner“ gefeiert, die Stewards führen allerlei Mummenschanz auf, die Decks sind mit Wimpeln und Lichtern verziert, die Musik spielt lustige Walzer, junge Paare finden sich zum Tanze, Champagnerpfropfen knallen, man singt, man spielt Theater, nimmt frohen Abschied von dem Schiff. Vielleicht ist gerade an dem Abend des „Captaindinners“ das Verhängnis über die „Titanic“ hereingebrochen, man ist versucht, sich die übermütig gestimmten Menschen vorzustellen, wie sie die erste Fahrt ihres Schiffes besonders festlich begehen, einander zutrinken, wie die Bordzeitung ausführlich des jungen Dampfers Geschichte erzählt, wie man ihm Glück wünscht für alle Zukunft. Und wie dann plötzlich der furchtbare dumpfe Stoß dieselben sorglosen Menschen aus dem ersten Schlummer weckt, vielleicht aus freundlichen Träumen, brutal, unbarmherzig, wie ein Donnerschlag, dass man gleich weiß: es gibt keine Hilfe. Und doch will man noch hoffen, es ist ja das größte, das beste Schiff der Welt: die „Titanic“. Es kann nicht sinken. Und dann beginnt der wilde Kampf um die Rettungsboote; die eben noch Freunde waren, die einander zutranken, stehen jetzt als Feinde gegenüber, die kurz vorher im Reigen sich drehten, stürmen jetzt kämpfend unaufhaltsam vorwärts, keuchend hebt sich ihre Brust, es gilt das Leben. Und aus dem Zwischendeck steigen finstere Gestalten; drüben in Amerika wollten sie ihr Glück suchen, ein neues Dasein beginnen - die „Titanic“ hat sie verraten. Alles vorhin war Lüge und Verstellung, jetzt erst reckt sich vor den Verzweifelten grausam gewalttätig die Wahrheit. Indessen bewahren die Offiziere noch ihre Haltung, suchen die einen, die anderen zu beruhigen, schaffen Platz für Frauen und Kinder: die „Titanic“ kann nicht sinken! Da neigt sie sich schon zur Seite und in der schmalen Kammer der Marconi-Station harrt geduldig der Telegraphist aus wie jener andere, von dem Jules Verne erzählt, der mitten im Granatenregen seinen Posten nicht verlassen mag. Dieser einsame Telegraphist ist jetzt die wichtigste Person auf dem ganzen Schiff, das die Führung verloren hat. Die elektrischen Schläge knattern laut wie Kanonenschüsse, kurze, lange Zeichen, sie formen sich zum Wort: Hilfe. Und dann: die „Titanic“ sinkt! Denn jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, das Wasser schießt durch die zerquetschten, gespaltenen Wände. Aber der wackere Telegraphist hält stand, und es ist rührend, wie er mitten in der furchtbaren Wahrheit, die er besser kennt als die anderen, seine fernen Eltern noch durch die flink eingeschobene Lüge zu beschwichtigen sucht, er sei gerettet. Ein erschütternder Gedanke dünkt es uns, wie diese Hilferufe über den Ozean irren, von Marconi-Station zu Marconi-Station, wie alle Schiffe auf dem Weltmeer miteinander zu reden beginnen, entsetzt von dem grausigen Schicksal des Kameraden und doch nicht imstande, Hilfe zu bringen. Ein Spott auf unsere ganze Kultur, auf unsere erstaunliche Geschicklichkeit und Erfindungskraft scheint es, dass dieser Hilferuf, der so durchdringend laut die Luft erschüttert, von zwei Welten aufgefangen, am Ende doch vergeblich verhallt: „Titanic“...

An viele schreckliche Katastrophen der letzten Jahrzehnte gemahnt der schlimme Untergang des Dampfers „Titanic“, und Wiener vor allem an den Ringtheaterbrand, dem auch tausend frohgestimmte Menschen zum Opfer fielen, oder an die Eruption des Mont Pelée, die eine blühende Kolonie zerstörte, an das Erdbeben von Messina oder an den tückischen Überfall der Seine, die zischend und gurgelnd durch die Kanäle von Paris schoss, auf heimlichen, verschlungenen, unterirdischen Wegen. Der Boden zittert, die Gebäude wanken, das Erdreich birst, aus der Tiefe empor steigt das Verhängnis. Und immer wieder scheint es, als wollte die Natur in ihrem Hass gegen die Menschheit mit deren kraftvoller Entschlossenheit Schritt halten, je ungestümer das Vorwärtskommen, um so gewaltiger der Rückstoß. Es sieht immer so aus, als wollte die Natur uns etwas beweisen: da haben holländische Edelsteinhändler bunte Steine um viele Millionen mit auf die „Titanic“ genommen, der Schmuck schöner, beneideter Frauen war des Schiffes kostbare Fracht, alles, was die Menschheit an Reichtümern begehrt, gab es in Hülle und Fülle, Luxus, Bequemlichkeit und Frohsinn. Und alles versank, ward zur Grimasse, entwertet, töricht, wesenlos.... Über die Natur kann den Menschen nichts beweisen, die Toten haben ihr furchtbares Geheimnis mit ins kühle Grab genommen und die Überlebenden streben auf anderen Schiffen ihren besonderen fernen Zielen zu. Schon berechnen die Amerikaner, wie viel Millionen Dollars jeder ihrer Toten „wert war“, und man hört die Absicht jedes einzelnen der Rechnenden, noch mehr Reichtümer sich zu gewinnen. In London hat man gar stolz festgestellt, dass die „Titanic“, wenn sie nicht gesunken wäre, alle Rekorde der anderen Amerikadampfer hätte schlagen müssen, und man ahnt, dass bald schnellere und größere Dampfer noch werden von Stapel laufen. Es liegt etwas Grausames darin und etwas Tröstliches zugleich: die große Fahrt der Menschheit vermag kein leichenbleiches Eisfeld zu hemmen. Das Leben geht weiter.
Paul Zifferer."

Quelle: Paul Zifferer, "Titanic" in: Neue Freie Presse, Wien, Mittwoch, 17. April 1912.

Wolfgang (SAGEN.at)
 
Das Prager Tagblatt berichtet am 16. April 1912:


"Der größte Dampfer der Welt gesunken.
Mit einem Eisberg zusammengestoßen. - 1380 Passagiere in Gefahr.

Wir haben in der gestrigen Abendausgabe bereits kurz gemeldet, dass der neue Riesendampfer der „White Star-Linie“, der größte Dampfer der Welt „Titanic“ auf seiner Erstlingsfahrt von England nach Amerika in der Nähe des Kaps Race mit einem Eisberg zusammenstieß. An Bord befanden sich 1380 Passagiere. Über die Katastrophe liegen folgende Nachrichten vor:

Die funkentelegraphischen Hilferufe.

New York, 15. April. (Priv.) Man befürchtet das Schlimmste von der „Titanic“, da die Telegramme vor der Unterbrechung von schweren Beschädigungen sprachen. Die „Virginia“ war, als der Hilferuf sie erreichte, 500 Km. von der „Titanic“ entfernt. Diese war Sonntag morgens von Sandy Hook gemeldet worden. Mehrere andere Schiffe berichten ebenfalls von Eisbergen. Der französische Dampfer „Niagara“ ist bei Neufundland von einem solchen getroffen und beschädigt worden.

Die „Titanic“, die auf ihrer ersten Fahrt verunglückte, war am letzten Donnerstag von Southampton abgegangen. Nach einem Telegramme von Cape Race erhielten die Dampfer „Baltic“, „Virginia“ und „Olympic“ funkentelegraphische Aufforderungen, der „Titanic“ Hilfe zu leisten. Die Dampfer beeilten sich der Aufforderung nachzukommen. Die letzten Signale der „Titanic“ erreichten die „Virginia“ um 12 Uhr 27 Minuten nachts. Sie waren verstümmelt und brachen plötzlich ab. Auch die hier eingetroffenen Dampfer „Carmania“ und „Niagara“ waren Eisbergen begegnet. Die „Carmania“ hatte sich unter großen Gefahren ihren Weg bahnen müssen. Die „Niagara“ hatte zwei Lecke am Boden bekommen und einige Platten wurden ihr eingedrückt.

Nach den letzten Mitteilungen besteht schwache Hoffnung, dass die Dampfer „Baltic“ und „Olympic“ rechtzeitig eintreffen, um der vornüber geneigten „Titanic“ beizustehen. Die See geht heute verhältnismäßig ruhig, sodass man in den allernächsten Stunden die Mitteilung erwartet, dass die Personen in den vom Bord der „Titanic“ abgelaufenen Rettungsbooten von der „Baltic“ oder „Olympic“ aufgenommen worden seien.

Colonel Astor, Präsident Ismai und Stead an Bord.

Wien, 15. April. (Priv.) An Bord des verunglückten Dampfers befindet sich wahrscheinlich kein Österreicher. Das Reisebureau Cook in Wien hat zwar Karten für die erste Fahrt der "Titanic" verkauft, die Käufer waren jedoch durchwegs Amerikaner, die in ihre Heimat an Bord des Riesendampfers zurückkehren wollten. Das Reisebureau Schenker hat keine Karten für die erste Fahrt der "Titanic" verkauft. Nach Londoner Meldungen befanden sich zur Zeit der Abfahrt auf der "Titanic" viele hervorragende Persönlichkeiten, darunter Colonel Astor, Präsident der Grant Trunk-Eisenbahn, Ismai, Präsident der White Star-Linie und Schriftsteller Stead. Im ganzen waren auf dem Schiffe 1380 Reisende ohne diejenigen, die in Cherbourg an Bord gegangen waren.

Die Rettungsversuche.

Paris, 15. April. (Priv.) Vor dem hiesigen Büro der „White-Star-Linie“ sammelte sich eine große Menschenmenge an, die Auskunft über ihre Angehörigen, die sich an Bord des Dampfers „Titanic“ befanden, verlangten. Nach den letzten in Paris eingetroffenen Meldungen besteht wenig Hoffnung, dass die Dampfer „Baltic“ und „Olympic“, die durch Funkentelegramme zu Hilfe gerufen wurden, die „Titanic“ noch rechtzeitig erreichen werden. Nach weiteren Meldungen erwartet man, dass zur Stunde die Personen, die sich in den von der „Titanic“ abgelassenen Booten befanden, von der „Baltic“ und „Olympic“ aufgenommen worden sind. Der Zusammenstoß mit dem Eisberge erfolgte in der Abenddämmerung auf der Höhe des Kaps Race. Der Dampfer „Titanic“ hat 56 Millionen Mark gekostet. Ein bei der Londoner Direktion der White-Star-Linie eingetroffenes Telegramm besagt, das Wetter sei ruhig und klar. Das Unglück geschah bei Punkt 41 Grad 46 Minuten nördlicher Breite und 50 Grad westlicher Länge. Das letzte Signal von der „Titanic“ traf um 12 Uhr 27 Minuten nachts ein. Der Funkentelegraphist des Dampfers „Virginia“ erklärte, die Telegramme seien undeutlich gewesen und waren plötzlich abgebrochen worden. Das erste Telegramm von Kap Race von Sonntag 10 Uhr abends meldete, dass die „Titanic“ mit einem Eisberg zusammengestoßen sei. Sofortiger Beistand sei unbedingt erforderlich. Eine halbe Stunde traf eine weitere Meldung der „Titanic“ ein, dass sie untergehe und dass die Frauen von Rettungsbooten aufgenommen wurden. Das Londoner Bureau erklärte, dass die „Titanic“ 330 Passagiere erster Klasse, 300 Passagiere zweiter Klasse und 755 Zwischendeckspassagiere an Bord hatte, zusammen 1380 Passagiere.

Aussicht auf Rettung.

London, 15. April. (Priv.) Die Meldungen von der Katastrophe der „Titanic“ haben hier ungeheure Aufregung hervorgerufen. Die Agentur der White-Star-Linie war nachmittags von vielen Hundert Personen umlagert, die Auskünfte über das Schicksal des Schiffes haben wollten. Den Forderungen der Menge konnte aber nur sehr mangelhaft entsprochen werden, da verhältnismäßig wenige Nachrichten auf radiotelegraphischem Wege übermittelt werden konnten. Die Aufregung der Menge legte sich ein wenig, als eine Depesche angeschlagen wurde, der zufolge die zuversichtliche Hoffnung bestehe, dass alle Passagiere werden in Sicherheit gebracht werden können. Der drahtlose Verkehr hat eine Unterbrechung erfahren, so dass es bisher nicht möglich war, genaue Einzelheiten über die Vorgänge auf dem Dampfer zu erfahren.

Auch der Depeschenverkehr mit den Hilfsdampfern, die der „Titanic“ selbst zu Hilfe gerufen hatte, ist unterbrochen, so dass vorerst keine näheren Meldungen vorliegen. Die letzten Nachrichten besagen bereits, dass keinerlei Gefahr für die Passagiere vorliege und man nimmt an, dass selbst für den Fall, als das Sinken des Riesendampfers Fortschritte machen sollte, inzwischen alle Passagiere mittels Rettungsdampfer an Bord der Hilfsdampfer gebracht werden können. In maritimen Kreisen wird aber mit Entschiedenheit erklärt, dass das Sinken der „Titanic“ kaum zu befürchten wäre, weil der Riesendampfer ebenso wie sein Schwesterschiff „Olympic“ so gebaut ist, dass selbst bei einem sehr großen Leck ein Sinken vermieden werden kann.

Alle Passagiere gerettet? - Der Dampfer gesunken.

London, 15. April. Wie die Blätter aus New York berichten, meldet ein in Halifax eingetroffenes Funkentelegramm, dass alle Passagiere der „Titanic“ gerettet sind. Der Dampfer ist gesunken. Die Größe der Katastrophe lässt sich augenblicklich noch nicht feststellen, da die Rettungsarbeit noch im Gange ist. Die „Titanic“ ist mit seinem Rauminhalt von 45.000 Tonnen das größte Schiff der Welt, fasst 5000 Passagiere und 800 Mann Besatzung. Er machte seine allererste Fahrt von England nach Amerika. Die Ausreise fand am 10. April statt. Das Schiff ist mit dem größten Komfort ausgestattet.

(K.-B.) London, 15. April. Wie das Reutersche Bureau aus New York meldet, bestätigt es sich, dass alle Passagiere die „Titanic“ verlassen haben. „Montral Star“ meldet aus Halifax, dass die „Titanic“ noch flott sei.

Die „Titanic“.

London, 15. April. (Priv.) Die „Titanic“ hat einen Fassungsraum von 46.328 Tonnen. Sie war nicht nur die größte, sondern auch das komfortabelste Schiff der Welt. Während die meisten Dampfer nur drei Decks haben, hatte sie deren sechs. Die ungeheuren Dimensionen des Schiffes drücken sich auch im Vorhandensein mehrerer Promenadegalerien aus, weiter einem großen Schwimmbade, einem Tennisplatz, selbstständigen Restaurants und Kaffeehäusern. Bedient wird das Schiff von rund 200 Matrosen und hat einen großen Stab von Offizieren, Beamten und Bediensteten jeder Art. Die „Titanic“ ist fast 265 Meter lang und 28 Meter breit, übertrifft somit die Dreadnoughts um ungefähr 110 Meter in der Länge. Sie fasst mehrere tausend Passagiere und sollte zwischen Southampton, Cherbourg, Queenstown und New York verkehren.

Quelle: Prager Tagblatt, Morgen-Ausgabe, Dienstag, 16. April 1912

Wolfgang (SAGEN.at)
 

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Auch der Bericht der "Neuen Zeitung" produziert im heutigen Sinne des Boulevard-Journalismus eine beeindruckende Schilderung des Untergangs der "Titanic":

Die Schiffskatastrophe des „Titanic“: Über 1500 Menschen ertrunken.
Der Untergang des größten Schiffes der Welt.
Geschwindigkeitsrekord in den Tod. - Zusammenstoß mit einer meilenlangen schwimmenden Eisinsel.
Der „Titanic“ untergegangen. - Über 1500 Menschen ertrunken.


Die ganze zivilisierte Welt steht unter dem tieferschütternden Eindrucke einer Schiffskatastrophe wie eine solche in der Geschichte keiner aller seefahrenden Nationen je zu verzeichnen war. Das größte Schiff der Welt, der Riesenpassagierdampfer "Titanic", ist nach einem Zusammenstoß mit einem ungeheuren schwimmenden Eisgebirge im Atlantischen Ozean in die Tiefe des Meeres versunken und über 1500 Menschen haben einen schrecklichen Tod in den Fluten gefunden.

Die Natur besiegt den Geist! In stolzem Fluge hat der Menschengeist in rastlosem Eifer mit der Gewalt eines siegreichen Imperators in alle Gebiete der Natur seine Bresche geschlagen, die von den Elementen seinem Vordringen gestellten Schranken durchbrochen und die Schleier zerrissen, welche neidisch die Geheimnisse verhüllen, die in der Werkstätte der Natur geheimnisvoll wirken. Chemie und Technik haben Wunder enthüllt und geschaffen; und in die Tiefen der Erde und des Meeres bis in die Höhen der Luft ist der Mensch gedrungen, überall als Träger des Siegesbanners, das ihm der Geist aus Millionen Fäden der Wissenschaft gewoben. Doch mancher Schritt des stolzen Menschengeistes auf seiner Siegeslaufbahn ist mit schweren Opfern erkauft und im Kampfe mit den Elementen sind die Etappen des technischen Fortschrittes mit Blut gezeichnet. Titanen technischer Kunst hat sich der Mensch gebaut, die Meere zu durchfurchen mit imponierender Kraft - aber mit noch größerer Gewalt hat die Natur den größten Titan aller Zeiten und Meere mit der eisigen Panzerbrust ins Verderben gestoßen.

Der untergegangene Dampfer „Titanic“ war das größte Schiff der Welt, und als ob die eifersüchtige Natur nicht wollte, dass ein Triumph dieses kühne Werk des Menschengeistes kröne, zerstörte sie das Schiff vor Vollendung seiner ersten Fahrt.

Der Schauplatz der entsetzlichen Katastrophe befindet sich in der Nähe der Küste von Neufundland und die zahlreichen, sich fast durchwegs widersprechenden telegraphischen Mitteilungen sind darauf zurückzuführen, dass von den zu Hilfe herbeigereisten Schiffen regellos und zugleich drahtlos telegraphiert wurde.

Wie das Unglück geschehen konnte, darüber wird wohl nicht leicht genauer Aufschluss zu erhoffen sein. Jedenfalls liegt seitens des Führers des „Titanic“ eine unverantwortliche Schuld darin, dass er, trotz erhaltener Warnung vor dem Treibeise, nur im frevlen Bestreben, alle bisher erreichten Schnellfahrrekorde zu schlagen, mit voller Kraft in dem gefährdeten Meeresteil dahinfuhr und selbst in der Nacht die Geschwindigkeit nicht mäßigte.

Die Schrecken des Zusammenstoßes mit dem treibenden Eisfelde zu schildern, übersteigt wohl die kühnste Phantasie.

Von dem ersten Momente an, wo die vielen Hunderte ahnungsloser Menschen an Bord durch einen entsetzlichen Stoß aus Traum und Ruhe gerissen wurden, bis zu dem Augenblick, wo vier Stunden später der kolossale Schiffsrumpf sich nach vorne neigte und in die schaurige Tiefe des Ozeans tauchte - welche Szenen mögen sich abgespielt haben? In das grässliche Bersten der ehernen Wände des Schiffes, ins dröhnende Krachen der Balken, das Klirren von Glas und Eisen, das wilde Knirschen der Eisblöcke und das ohrenbetäubende Kro?en und Schaben derselben an dem Schiffsrumpf mengt sich das Heulen der Sirenen, die Kommandopfiffe der Offiziere, das Geschrei der Matrosen, übertönt von dem hundertstimmigen Gezeter und Jammergeschrei der vor Angst rasenden Passagiere. Alle Bande der Zivilisation reißen, alle Schranken der Nächstenliebe stürzen und in der grauenvollen Nacht entwickelt sich ein Kampf um die Boote, so wild, so grässlich, wie er schrecklicher nicht gedacht werden kann. Und vier volle Stunden dauert der Kampf der Verzweifelten, dann schließt sich das unerbittlich kalte Meer über mehr als tausend Menschen, welche in dieser Zeit alle Schrecken des Todes bis zum letzten Augenblicke durchgemacht.

Ruhig, still, majestätisch aber, schwimmt die weißlich durch die Nacht schimmernde Eiswand gen Süden weiter, der Titan der Natur hat über den Titan aus Menschenhand gesiegt.

[...]

Mangelhaftigkeit der Rettungsvorkehrungen.

In einer drahtlosen Depesche, die von Neuyork übermittelt wird, heißt es, dass sämtliche Rettungsboote des Riesenschiffes nur die 675 Personen aufzunehmen vermochten.

Dass die Rettungsvorkehrungen nur sehr mangelhaft gewesen sein müssen, ist klar, denn die See war zur Zeit des Schiffbruches absolut ruhig und aus den Depeschen lässt sich nicht ersehen, wie über 1500 Menschen ihr Leben hätten einbüßen können, wenn eine genügende Anzahl von Booten vorhanden gewesen wäre.

Entsetzliche Szenen an Bord.
Verzweiflungskampf um die Boote. - Lizitationen um die Plätze in den Rettungskähnen.


Paris, 16. April. Zwischen dem Augenblick, da der „Titanic“ in den Eiskoloss mit voller Wucht hineinfuhr und seinem vollständigen Sinken verstrichen viereinhalb Stunden. Während dieser Zeit spielten sich grauenerregende Szenen ab. Die Passagiere drängten, mangelhaft bekleidet, auf dem Verdeck, wo sich ein mörderischer Kampf entspann. Alle Besonnenheit war von den Verzweifelten gewichen. Niemand kehrte sich an die kommandierenden Offiziere. Alles drängte sich in wilder Hast nach den Rettungsbooten. Ein rücksichtsloses Ringen entspann sich. Jeder dachte an sich zuerst. 1700 Menschen suchten einander den Rang streitig zu machen. Viele schwangen sich über die Reeling. Andere boten Unsummen Geldes, um einen Platz in den Rettungsbooten zu erhalten. Eine förmliche Lizitation wurde abgehalten und man versuchte auch wirklich, den Meistbietenden Plätze zu sichern.

Auf den Eistrümmern, die das Schiff umdrängten, hockten die Leute und suchten von hier aus in die Boote zu gelangen. Die Passagiere hatten ihre ganze Habe im Stich gelassen und suchten nur das nackte Leben zu retten. Das gelang bekanntlich nur einem kleinen Teil, meist Frauen und Kindern, die, von der Mannschaft gestützt, den Weg in die rettenden Boote finden konnten. Aus dem Befund der aufgefundenen Leichen wird man erst ein Bild der beispiellosen Panik erhalten können, die diese vier Stunden ausfüllte.

Zwölf Schiffe kommen zu Hilfe.

Nicht weniger als zwölf Schiffe hatten sich auf den Hilferuf des „Titanic“ gemeldet und eilten der Unglücksstelle zu. Als Erster traf der Dampfer „Parisian“ ein, nach ihm „Virginian“. Die meisten Passagiere wurden, wie dieser Bericht erklärt auf diese beiden Dampfer gebracht, die sich daranmachten, den „Titanic“ nach Halifax zu schleppen. Der „Titanic“ lag schon sehr niedrig auf dem Wasser und sein Vorderteil war vollgelaufen, aber der Kapitän und die Mannschaft hatten das Vertrauen, dass sie das Schiff sicher ins Dock bringen würden. Mit der vorgestern schon spät abends gesendeten Nachricht aus kanadischer Regierungsquelle, der „Titanic“ sei noch immer im Sinken, schließen diese Berichte.

1700 Personen tot.
William Stead ertrunken. - Der Kapitän unter den Opfern.


Nach Depeschen aus Neuyork sollen der Friedensapostel Stead und der Adjutant des Präsidenten Taft sich unter den Opfern befinden. Die Bestätigung fehlt noch.

Aus Halifax wird gemeldet: Man schätzt die Zahl der Ertrunkenen auf 1700 Personen. Von Oberst Astor und Hays fehlt jede Nachricht. Jedenfalls sind sie ertrunken. Auch Major Butt ist ertrunken. Astors Gattin soll gerettet sein; auch Kapitän Smith ist umgekommen.

[...]

Quelle: Die Neue Zeitung. Illustriertes unabhängiges Tagblatt. Wien, den 17. April 1912.
 

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