Hans Fink schreibt in seinem Buch "Verzaubertes Land. Volkskult und Ahnenbrauch in Südtirol", Innsbruck 1969, folgendes zum Seelenkult:
Seelentag
Das neue Jahr begann bei den Germanen nicht am 1. Jänner, sondern im Spät-herbst nach dem Weideschluss. Zugleich wurden die Erntefeste abgehalten und der Toten gedacht.
Ebenfalls in unserer Zeit ist der Herbst den „Toten geweiht“; es sind die sogenannten „Seelentage“. Wenn am Allerheiligentag zur Mittagstunde das „Seelausläuten" von den Türmen hallt, dürfen die Armen Seelen aus den Gräbern steigen und nach „Hause gehen“. An vielen Orten „fahren“ sie bereits bei Dämmerung mit dem „Seelenwind“ um den Kirchbichl. Unsere Großeltern streuten noch Mohn vom Friedhof bis zur Haustür, um die leidenden Seelen gütig zu stimmen und tun sich ein gutes Jahr zu erbitten.
Mit dem „Ausläuten“ stiegen also die Armen Seelen aus den Gräbern, mit dem „Einläuten“ am folgenden Allerseelentag kehrten sie wieder zurück. Dieser Glaube ist in den Alten noch heute verankert; und so heizt man in der Stube den Ofen, damit es die Armen Seelen warm haben; die ganze Nacht über brennt ein Licht, Krapfen werden auf einer Schüssel aufgetürmt, ebenso steht Milch auf dem Tisch, und die blanken Löffel liegen bereit. Die Hausleute gehen an diesem Abend früher in ihre Kammer zum Schlafen. In manchen Orten liefen die jungen Dirnen dreimal um das Haus, um ihrem Bräutigam zu begegnen.
Die „Armen Seelen“ waren ebenfalls bei Spiel, Trunk und Unterhaltung anwesend. In Brixen findet man daher die Redensart, der Allerheiligenabend sei der größte „Törggeletag“.
Speisung und Bewirtung der Verstorbenen kannten auch andere Völker: Griechen und Römer luden ihre Manen (Geister der Toten) zu Tisch und stellten ein krapfenähnliches Gebäck auf. In abgelegenen Alpentälern geschieht noch heute ähnliches: z. B. wird im Ahrntal das „Pitschele-Singen“ nach wie vor liebevoll gepflegt; Sänger ziehen von Haus zu Haus und erhalten die „Pitschelen“, kleine Brote, die man dann an die Dorfarmen verteilt.
Vermummung und weiße Geisterverkleidung erinnern an die ruhelosen Seelen. Zuerst wird ein Armenseelenlied gesungen, das in seiner einfachen Vielstimmigkeit sehr ernst und traurig klingt; die milden Gaben werden in einen Ruckkorb gesteckt; zum Schluss erklingt noch ein lustiges Lied, worauf die Gruppe weiterzieht.
Uralter Seelenglaube dürfte den Umzügen der Eggentaler „Juzkinder“ zugrunde liegen. Sie sind mit langen Ruten bewaffnet, und so streichen sie um die Höfe. Mit einem hellen „Juzer“ danken sie für die erhaltenen „Seelstücklen“ (Brote). Beim „Tüengiehn“ in Laurein wurden die Kinder ebenfalls mit Broten beschenkt. Wer den „Sealstuckbettlern“ kein Geschenk gibt, wird kein Glück haben, und er hört in den Nächten die Armen Seelen im Fegefeuer wimmern.
Am Seelentag sind noch Bräuche lebendig, die auf das früher innige Verhältnis zwischen Leben und Tod hinweisen: Wer am Seelentag nicht früher aufsteht, um den leidenden Vorfahren das warme Bett zu überlassen, hört die Armen Seelen in der Nacht tun sein Fenster „zientern“ (stöhnen). Der „Sealwind“ wirft Sand und Steinchen an die Fenster; um ihn abzuwehren, wurde er in Pfitsch mit Mehl „gefüttert“; man riss dabei die Tür auf und warf ein „Maßl“ voll Mehl „in das Gesicht“ des Windes, und zwar mit den Worten: „Friss und geh, du Verhungerter!“
Nach altem Brauch werden die Patenkinder zu Allerheiligen mit „Ross und Henne“ beschenkt; das sind die landesüblichen Gebildbrote aus besserem Teig. Stolz tragen die Kinder diese Geschenke nach Hause. In Mauls holt sich der Mesner die „Allerheiligenkrapfen“ von den Höfen; ihnen wird ein besonderer Segen zugeschrieben. Ein schlechtes Zeichen wäre es, so der Mesner einen Hof überginge.
Auch viele alte Stiftungen gehen auf die „Armen Seelen“ zurück: sie bestanden früher meist in Jahresgaben von Brot, Salz oder Fett (Kerzen); heute hingegen werden Messen bestellt, Kerzen gespendet oder Gaben an die Armen verabreicht.
Das alte Sippenbewusstsein erfährt gerade am Vortag von Allerseelen neue Belebung. Da treffen sich die Verwandten am Familiengrab — vielleicht das einzige Mal im Jahr! So ist dieser Tag tatsächlich ein Tag des Wiedersehens.
In der Seelenwoche schweigen Zither und Gesang; denn es gehen die Geister der Vorfahren und der büßenden Seelen um. In diesen Tagen werden auch die Soldatenfriedhöfe geschmückt und gesegnet. Und so mancher dieser stillen Orte liegt hoch in den Bergen.
Die Seele im Glauben des Volkes
Über das Wesen der Seele finden sich im Volksglauben drei Vorstellungen:
die Seele ist ein selbständiges Wesen im Körper
sie ist mit dem Körper untrennbar verbunden
die Seele ist Kraftstoff und Lebensprinzip
Beispiele mögen dies veranschaulichen:
Einmal hat ein Fuhrmann aus Brotneid die neue Eisenbahn am Ufer des Eisack zur Entgleisung gebracht. Zur Strafe musste seine Seele nach dem Tode „umgehen“. Der Geist gab keine Ruhe, und die Leute fürchteten sich. Daher wurde er eingefangen und „in ein Fass gesperrt“ und sodann auf den Langkofl gebracht, wo er mit anderen Sündern in Form von Nebelwolken büßen muss.
Ein Mann aus Ratschings büßte schon lange für seine Sünden im Fegefeuer und zeigte sich öfters den Lebenden. Als er seine Sünden zur Hälfte abgebüßt hatte, erschien er als sichtbares Wesen — halb schwarz (sündig) und halb weiß (rein). Als seine Bußzeit endlich um war, zeigte er sich als helle Gestalt auf einer Felswand; er schwenkte ein weißes Fähnlein und schrie: „Jui — itz bin i erlöst!“.
Im Volksglauben an das „anklagende Blut“ und die „sprechenden Totenköpfe“ offenbart sich deutlich die Existenz der Seele.
Einmal erschlug ein Bauer im Wald seine eigene Frau, weil er ein junges Mädchen liebte. Daraufhin kam der Richter ins Haus und fragte die Tote: „Hat dich dein Mann erschlagen?“ Da blutete die tote Frau aus der Nase und bezeugte damit die Schuld des Mannes.
In der Brennergegend holte sich ein Mann für die „Schwarze Kunst“ Totenköpfe aus einem Beinhaus. Die „Schädel“ aber weigerten sich und schrien, einer nach dem andern: „Mi nit! Mi nit!"
Für den Seelenglauben sprechen noch folgende Ausdrücke: „Die Seele aushauchen!“ oder „Sich die Seele aus dem Leib schreien!“ Das Volk stellt sich sündige Seelen „schwarz“ vor, während die reinen von weißer Farbe sind; erlöste Seelen schweben als schimmernde Tauben gen Himmel. Bekannt ist die Geschichte vom Satan, der eine verkaufte Seele in einen Sack stopft und in seine feurigen Pratzen nimmt. Der Teufel „fängt, fischt und jagt“ die Seelen, er „kartet um sie, er rauft und ranggelt, ja er häkelt sogar“. Von gewiegten Rosshändlern wird behauptet, sie wären ohne Seele (Gewissen?) hätten sie aber eine in der „Krippe“ (Leib), so ließen sie diese Seele bei Geschäftsreisen „daheim“.
Nach einem Sterzinger Volksglauben fahren büßende Seelen in eine Kuh oder klappern in Holzschuhen ruhelos durch das Haus; in Villnöß holpern sie als gedörrte, jedoch unsichtbare „Rindshaut“ über die Äcker.
Unerschöpflich sind die Geschichten über Geister, die in Menschengestalt umgehen müssen. Oftmals erscheinen sie ohne Kopf, manchmal bieten sie den Lebenden grausige Speisen an; wer die Überwindung aufbringt, solche zu essen, bringt den Geistern die Erlösung.
Quelle: Hans Fink, Verzaubertes Land. Volkskult und Ahnenbrauch in Südtirol, Innsbruck 1969, S. 359 - 361.