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Verdun. Ein Schlachtenort im Ersten Weltkrieg

Babel

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Die Schlacht um Verdun dauerte von Februar bis Dezember 1916. Ich habe Verdun zweimal besucht. Warnung: Diese Berichte waren Tagebuchtexte, sind also naturgemäß sehr subjektiv.


1991

Verdun. Es fing so an, daß mich in dieser Stadt verhältnismäßig lang aufhielt. Was interessierte mich die Stadt? Was interessierte mich die dortige Kathedrale? Und gar noch ein Museum mit den üblichen gallo-römischen und mittelalterlichen Resten? Ich kam da vorbei, guckte mal aufs Plakat – kein Museum, um Himmelswillen, keine Zeit für sowas! – und schon stand ein Uniformierter da, drückte mir ein Faltblatt „Museen in Lothringen” in die Hand, redete was, begriff, daß ich nichts verstand, schlug mir die Seite seines Museums auf, zeigte auf den Text, und glücklich über die erneute Verzögerung des Schlachtfelderbesuchs ging ich rein, und ich beeilte mich wahrhaftig nicht. Tatsache war: Ich hatte Angst. Ich habe wohl zu viel über Verdun gelesen.

Selbst als ich mich auf den Weg zu den „Champs des Batailles” gemacht hatte, fuhr ich noch möglichst lang so allgemein und unverbindlich herum, als fände ich mich nicht zurecht, obwohl ich wußte, wo ich hin wollte. Durch die Bücher und ein an der Autobahn gekauftes Heft wußte ich es sehr gut.

Es half aber nichts. Man sagt sich, man fährt halt ein bißchen im Wald rum, aber es kriecht so auf einen zu. Man sieht, es ist kein alter Wald, er steht auf völlig unebenem, gewellten Boden: Krater an Krater, auch wenn es keine mehr sind. Ein Schildchen, eines der dort üblichen Kleinwegweiser, zeigt in den Wald hinein: „Un héro”; ehe man dazu kommt, es zu belächeln, sieht man da ein einzelnes Kreuz, ein Grab, ein Gräbchen, winzig und mutterseelenallein, aber blumengeschmückt; viel, viel schlimmer als diese Gräberfelder. Dann Wegweiser, auf denen „Fleury” steht, und man fährt, kommt an etlichen Denkmälern vorbei, einem Parkplatz und einem Riesenmonument, einer Art Ruhmeshalle, und dann ist man irgendwo anders und weiß, daß man an Fleury vorbeigefahren sein muß. Wohlgemerkt: Ich wußte, daß das Dorf nicht mehr existiert (es ist im übrigen nur eins von einer ganzen Reihe Dörfer, die nicht wieder aufgebaut wurden, weil nichts mehr da war), ich hatte mir irgendetwas vorgestellt wie ein Denkmal oder ein Schild „Hier stand Fleury”, groß und gut sichtbar, mit Fahnen und Blumen oder sonst was Passendem; und daß nichts da war, bereitete mir Schrecken.

Übrigens ist was da. Wo der Bahnhof Fleury war, steht heute das Museum. Das Dorf lag ein Stück weiter. Wenn man dort herumläuft, findet man angeblich ein paar Waldwege, die den ehemaligen Straßenverläufen entsprechen. All das wußte ich. Auf dem Parkplatz gegenüber dem Museum hielt ich, dachte: Das kann doch nicht sein!, und fuhr weiter. Es müßte doch anders aussehen, nicht einfach Parkplatz oder Straße oder dieser Wald mit seinem gewellten Boden, nicht dies Nichtssagende. Tage später fiel mir ein, daß hier natürlich früher auch kein Wald war, also nicht nur nicht dieser, sondern gar keiner: die ganze Gegend sonst ist ja voller Felder. Zwar gibt es hier lauter Hügel und Täler, aber das meiste hätte doch bebaut sein können. Aber wie hätte man dies gewellte Land bearbeiten sollen, das außerdem keine Schicht Mutterboden mehr hatte?

Auf dem Fort Douaumont kann man herumwandern. Es ist eine Hügellandschaft; wo es Täler gibt, waren wohl Krater über dem stellenweise eingebrochenem Höhlensystem. Ich weiß es nicht recht, es ist ja nicht das ganze Innere begehbar. Die Außenfront des Forts ist ruinös, aber letztlich intakt. Innen gut erhaltene Gänge; das Fort muß ja tatsächlich bis zuletzt ziemlich intakt gewesen sein. Es ist feucht, überall an den Decken kleine Stalagtiten, es gibt auch Gänge, deren Wände ganz weiß versintert sind. In einem Gang mit kleiner Öffnung nach draußen ein Schwalbennest; der Raum war niedrig, das Nest also auch, ich sah in die offenen Schnäbel der Jungen.

Was dachten Sie, als Sie ...? Was fühlten Sie, als Sie ...? Ich glaube, mir passierte, was ich immer für fast unmöglich hielt: Das Denken hörte weitgehend auf. Ich fühlte mich wie eine Gummihaut um einen Hohlraum; wo man das Herz hat, entstand ein Loch, ein Abgrund. Nichts von Schrecken im Sinne schrecklicher Vorstellungen. Das Gehirn, daran gewöhnt, doch irgendwas zu tun, käute gewisse Sätze aus meinen Verdun-Büchern wieder, ohne eine Ähnlichkeit zu finden zwischen dem Inhalt der Sätze und dem, was da nun war.

Ich wanderte so herum. Ab und zu merkte ich, daß ich flach atmete oder daß ich mit Tränen in den Augen herumlief. Wenn ich letzteres merkte, schämte ich mich, kam also wieder etwas zu Bewußtsein. Einer solchen läppischen Reaktion muß man sich schämen, das ist was fürs Kino, wenn der alte Mann ohne Fisch zurückkommt oder wenn Cyrano seinen Schlußmonolog spricht.

Das war vor allem im Museum. Auf undefinierbare Weise verband sich, was ich dort sah, doch immer wieder mit irgendwas in meiner Kindheit, undefinierbar deshalb, weil es weniges gab, was sozusagen „wörtlich” dazu paßte. Vielleicht, weil gleich das erste daran erinnerte: Da war in der Vorhalle eine sehr einfach gemachte kleine Ausstellung zum Thema „Die Tiere im Krieg” – Bilder, Ansichtskarten, Zeitungsausschnitte; vom Truppenmaskottchen über beim Krieg „beschäftigte” Hunde, Pferde, Brieftauben bis zu den Todesopfern und der ärztlichen Behandlung verletzter Tiere. Da sah ich (neben Hunden und Pferden mit Gasmaske – was Makabreres hab ich bestimmt noch nicht gesehen!) Bilder von Hunden, die kleine Wagen zogen. Hundegespanne mit begleitenden Soldaten sah einmal ich als Kind; übrigens habe ich später diese Erinnerung angezweifelt, bis ich vor ein paar Jahren so ein Hundegespann auf einer Ansichtskarte sah.

Im Innern an den Wänden auch das Unvermeidliche: Waffen und Kleiderpuppen, wenigstens im Obergeschoß. Unten Dokumentation mit Fotos, Erklärungstexten, Karten, kleinen Ausstellungsstücken. Das begann mit ein paar markigen Sätzen des deutschen Kaisers und seiner Feldherren, klar, wir waren in Frankreich, die Ausstellung mußte deutschfeindlich sein, ganz normal. Zu meiner Verwunderung und Beschämung war sie es nicht. Es ging weiter mit der Öffentlichkeitsarbeit: „Auf beiden Seiten belogen die Staatsführungen die Bevölkerung ...” – Belege für beide Seiten, und so fort. Das Leiden beider Seiten, Beispiele gegenseitiger Hilfeleistung (auf Verbandsplätzen), so unparteiisch, daß man nicht hätte ahnen können, welches Land dies ausstellte. Es endete mit den Etappen der deutsch-französischen Freundschaft nach dem 2. Weltkrieg, De Gaulle und Adenauer etc., der EG. Das war, was mich so außer Fassung brachte. Ich war dicht am Heulen vor einem Foto zweier Staatsmänner, einem Foto, wie man es tausendmal gesehen hat. Jede Europafahne brachte mich halb zum Heulen. (Und nirgends hab ich so viele Europafahnen gesehen wie um Verdun herum.)

Zu den Bildern aber und den Spuren des Krieges fiel mir nur immer ein: Wie konnten wir bloß gegen dieses liebe Land Krieg führen? Ein sehr kindlicher Gedanke; wo der Verstand stillsteht, flüchtet man in Regression. Dieser kindliche Gedanke wich nicht mehr, so lange ich in Frankreich war, er kam unfehlbar, sobald mir irgendwas gefiel, egal was.

Was aber das Museum Verdun hoch, bergehoch über hochgelobte, „didaktisch vorbildliche” Museen und Ausstellungen zum Krieg erhebt, ist das rekonstruierte Stück Erde, ein von Quadrat 10 mal 10 Metern. Die seltsame weiße Erde, eingeschlagen und aufgeworfen, voll kriegerischen Gerümpels, darin drei, vier zersplitterte Reste von Bäumen. Es wird vom Publikum ziemlich wenig beachtet.

Natürlich hat es etwas zu Modellhaftes; das eben ist das Gruselige, daß man sowas künstlich herstellen und im Halbdunkel eines geschlossenen Museumsraumes halten muß, abgesperrt und unbegehbar, es hielte sich sonst nicht, es wäre bald wieder grün bewachsen. Man beschaut sich dieses Ausstellungsstück und weiß nicht, wie man sich die ganze weite Landschaft so vorstellen soll. Ich hatte Beschreibungen gelesen, die diesem 10x10-Meter-Museumsstück entsprachen. Aber wenn man nach draußen kommt, liegt da eine grüne Landschaft. Selbst die Forts, ganz überwachsen, obenauf völlig „Landschaft” geworden, haben das Romantische von Burgruinen angenommen. Ich sah danach auch Burgruinen mit anderen Augen. Forts sind für uns Kriege, Burgen dagegen Mittelalterromantik. Das zeitliche Zwischenglied, die Vauban-Festung Montmédy, hat etwas Irritierendes: Wozu zählt das jetzt?

Verdun ist ein entsetzliches Erlebnis, und was das Eigenartige ist: Ich weiß nicht, warum. Die pompösen Denkmäler um Verdun ließen mich kalt. Die diversen Soldatenfriedhöfe berührten mich nicht weiter. Wie wir’s allgemein kennen, steht alles, was mit großen Zahlen zu tun hat, unserem Vorstellungsvermögen im Wege. Die Sinnfälligmachung der großen Zahl durch erhabene Einförmigkeit wirkt nur beim ersten Mal. Man muß schon zwischen den Gräbern herumgehen und Namen lesen, soweit bekannt, oder eben: Unbekannt. Man tut das, um sich gefälligst zur pflichtgemäßen Ergriffenheit zu zwingen.

Und doch begegnete mir am Ende ein Denkmal, das so war, wie es sein mußte - aus einer ganz anderen Zeit stammend, auf etwas ganz anderes Bezug nehmend und doch wirkend wie der Ausdruck dessen, was dieser Krieg war. Ich sah es nach meiner Fahrt über die Voie Sacrée in Saint-Mihiel: Ligier Richiers im Leid zusammenbrechende Maria.



1994

In Verdun besuchte ich die Zitadelle. Ein Schüler hatte darüber geschrieben; er war tief erschüttert gewesen. Nun, heute erschüttert die Zitadelle wohl keinen mehr. Man hat die altmodischen Führungen ersetzt durch ein Mittelding zwischen unterirdischem Son-et-Lumière und Geisterbahn: Die Besucher setzen sich zu sechst in eine Art Kirmesfahrzeug, drei hinten, drei vorn, wobei den vorderen eine Haltestange vor den Bauch geklappt wird – eben ganz wie auf der Kirmes. Sortiert wird nach Sprachen, denn jede Sechsergruppe wird in ihrer eigenen Sprache bedient. Das Fahrzeug setzt sich langsam in Bewegung, fährt, bleibt stehen, dreht sich, fährt wieder an – alles selbsttätig, und da ich keine Schiene im Boden gesehen hatte, nur einen schmalen dunklen (Metall?)Strich, überlegte ich die ganze Zeit, wie das wohl funktioniert. Die Ergriffenheit wurde dadurch verständlicherweise nicht gefördert.

Erst hielt man, nach kurzer Fahrt durch die Finsternis, vor einer Wand, die sogleich hell wurde, und blickte in einen kleinen häßlichen Bunkerraum, wo ein junger französischer Offizier einen Brief nach Hause schrieb. Er gedachte seiner lieblichen Bretagne, seiner kleinen Schwester und so weiter und klagte über Müdigkeit, verursacht durch die derzeitigen Lebensumstände. Daß er ein mieser Schauspieler war und der Text zumindest im Deutschen unzumutbar kitschig klang, ließ den Film zur unerträglichen Peinlichkeit werden. Beim Weiterfahren durch die Gänge wurde mal hier, mal da was beleuchtet. Plastisch aufgestellte Szenen mit Figuren wirkten verstaubt-schaufensterhaft. Detonationsgeräusche waren bedrohlich gemeint, aber angemessen museal-dezent. Die Lebensumstände in der Zitadelle erfuhr man nicht von einem Sprecher aus dem Off, sondern sah und hörte den Befehlshaber und seinen Stab sich darüber unterhalten, ja sich ein bißchen streiten der Dramatik wegen.

Am Ende aber kam etwas, das so hinreißend französisch-nationalistisch war, daß die unangebrachte Komik des Ganzen ins Skurrile umschlug. Man stieg aus und sollte zu Fuß weiter, wußte freilich nicht, in welche Richtung. Hier leuchtete es matt, dann da – man ging durch eine Art Pseudo-Wald und kam in einen Raum, wo unter sechs (?) in Särgen verpackten unidentifizierbaren Gefallenen der „Unbekannte Soldat” für den Pariser Triumphbogen ausgewählt wurde. Ein Arrangement aus Tischen, Särgen, Fahnen und Wachsfiguren also. Eine Stimme erklärte es einem. Man fragt sich, was wohl idiotischer war, diese Szenerie hier oder der historische Vorgang damals.

Freilich, auch das Beinhaus oberhalb des riesigen Friedhofs ist ja von so quälender Geschmacklosigkeit, und die Gebrauchsanweisungen bezüglich der Kleidung etc. (Herren sollen den Hut abnehmen, und im übrigen möge man sich so benehmen, wie es einem das eigene Empfinden an diesem Ort eingebe) machen es noch peinlicher. Man kann nur fliehen und wieder in den Wald fahren, diesen jungen Wald mit gewelltem Boden, mehr braucht man nicht. Wo das Dorf Douaumont stand (ich wußte nicht, daß es auch ein Dorf dieses Namens gab), steht nur ein modernes Kirchlein und eine Tafel mit ein paar Erklärungen und Bildern des Dorfes. Das sagt mehr als alle Mahnmale und die unterirdische Geisterbahn.

Warum besucht man solche Orte? Stephan redet von Schlachtfeldertourismus, einer Art Sensationsgier ahnungsloser Zivilisten. „Sei froh, daß du eine Frau bist”, sagt er, „ein Mann, der sich dafür interessiert, wird sofort des Militarismus verdächtigt.” Nun, wäre ich sechs Jahre später geboren und ohne jede Erinnerung an einen Krieg, würde es mich nicht interessieren. So aber möchte ich etwas Unbegreifliches begreifen, weiß freilich, daß es nicht geht, so schon mal gar nicht, aber was für andere Möglichkeiten habe ich als Bücher, Bilder und Schauplätze? Es ist ein Stachel, der seit den Kinderjahren im Fleisch sitzt, lange Zeit unbemerkbar, aber mittlerweile wieder störend.

Am Ossuarium steht, es sei untersagt, auf dem Gelände zu essen. Auf den Mt. Auxois, das gallische Alesia, fährt man zum Picknick. Eine Betonfestungsruine ist scheußlich, eine Barockfestung etwas für Kenner, ein antikes Schlachtfeld oder eine mittelalterliche Burgruine was für den Sonntagsausflug.
 
Der Bericht ist unglaublich beklemmend, als wäre man selber dort gewesen. Natürlich ist das der Unterschied zu einer Nacherzählung aus der Erinnerung: in einem Tagebuch schreibt man die unmittelbaren Gefühle zum Erlebten nieder.
Fast bin ich erleichtert über die Beschreibung deines Besuches von 1994, es holt einem etwas weg von dieser Stimmung, die sonst noch eine Weile mitgegangen wäre. Ohne den Eindruck zu vergessen!!
Erschütternd ist nur der Umgang mit Ort und Thema. Warum muss man aus allem ein Disney-Land machen? Weil es modern ist? Weil die Besucher alles auf bestimmte Art "aufbereitet" haben wollen? Künstliche Gänsehaut für unverbesserliche Kriegsromantiker oder einfach nur unglücklicher Umgang mit der eigenen Geschichte.
 
Erschütternd ist nur der Umgang mit Ort und Thema. Warum muss man aus allem ein Disney-Land machen? Weil es modern ist? Weil die Besucher alles auf bestimmte Art "aufbereitet" haben wollen?
Einen Anteil daran hat auch die allgemeine Didaktisierung der Museen. Ich werde einen anderen Bericht einstellen über ein Museum am Ort eines Schlacht des Zweiten Weltkriegs, das sich in seiner Eigenwerbung "das schönste Kriegsmuseum der Welt" nennt und allgemein als "didaktisch vorbildlich" gerühmt wird.
 
Ich durfte als junger Bursch den Soldatenfriedhof von Verdun mit seinen endlosen Gräberreihen besuchen. Es führte uns damals noch ein Veteran des Krieges. Dieser Besuch hat mich zutiefst erschüttert und bis heute geprägt. Da brauchte es keine "didaktische Aufbereitung".
 
Ein ergreifender, unfassbar gut geschriebener, persönlicher Bericht zu Verdun. Danke für diesen wertvollen Beitrag.
 
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