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Kleinstadtbahnhöfe früher und heute. Ein Trauerspiel

Babel

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In den letzten Monaten mußte ich viel mit den "Bummelzügen" fahren, die an jedem Kleinstadtbahnhof halten – und an jedem blutete mir das Herz.

Früher war der Bahnhof der Stolz jedes Städtchens. Man war kein Dorf, war nicht irgendein Kaff, wenn man eine Bahnstation hatte. Noch als Oberschülerin dachte ich, der Unterschied zwischen einem Dorf und einer Stadt sei der, daß die Stadt einen Bahnhof hat, das Dorf aber nur eine Bushaltestelle.

Noch in den 50er Jahren war der Bahnhof die "Visitenkarte" des Ortes, denn er war das erste, was ein Reisender sah (wer hatte schon ein Auto?). Er war gepflegt, frisch gestrichen und im Sommer voller Blumen: Blumenkästen an allen Fenstern und Blumenampeln, die vom Vordach herabhingen. Noch ein bißchen bunter wurde er durch Blechplakate (Schöller-Wolle, Nomotta, Juno, Provinzial-Feuersozietät). Herrscher über den Bahnhof war der Bahnhofsvorsteher, eine Respektsperson in schicker Uniform mit Mütze, der mit Trillerpfeife und erhobener Kelle dem Zugführer die Abfahrt frei gab.

Viele dieser kleinen Bahnstationen wurden im Zuge von Streckenstilllegungen funktionslos. Mancherorts wurden auch Bahnhöfe verlegt. Alte Kleinstadtbahnhöfe, die noch angefahren werden, bestehen heute meist nur noch aus einem übel vernachlässigten Gebäude, entweder verrammelt oder gerade noch als überdachter Durchgang und Warteraum (für Winter- und Schlechtwettertage) offen gehalten. Den Bahnhofsvorsteher, der früher im Obergeschoß wohnte, gibt es nicht mehr; seine Funktionen haben das zentral gesteuerte elektronische Stellwerk und der Fahrkartenautomat übernommen.

Die "Infrastruktur" der heutigen Bahnstation besteht aus einer elektronischen "Fahrgastinformation", einem Aushangkasten mit dem Fahrplan und den "Beförderungsbedingungen" der Bahn, einer unbequemen Bank aus Metallgeflecht, auf der man einen karierten Hintern bekommt ;), einem Abfallkorb, einem Zigarettenautomaten und einem dieser genormten Glaskästen auf dem Bahnsteig, der dem Bahnhofsgebäude gegenüberliegt. Und natürlich etlichen Verbotsschildern.

Nebengebäude wie die Lagerhäuser der landwirtschaftlichen Genossenschaften mit ihren Laderampen sind, soweit noch vorhanden, völlig verrottet. Geschotterte Flächen dienen als Parkplätze, daneben entwickelt sich meist eine Art wilder Mülldeponie, oder irgendeine Baufirma lagert ab, was ihr anderswo im Weg ist.

Eigentümer der Bahnhöfe ist die Deutsche Bahn AG, und die läßt sie verrotten. Stillgelegte Bahnhöfe verkauft sie; die Gemeinden haben ein Vorkaufsrecht. Aber die Restaurierung eines längst leerstehenden, über Jahrzehnte verkommenen Gebäudes ist teuer – meist zu teuer für eine kleine Gemeinde. Dazu kommt, daß der Bahnhof an der Peripherie des Ortes liegt und mit der Stilllegung auch der Weg zum Ortskern bedeutungslos und oft nicht mehr unterhalten wurde. Trotzdem hat manches Städtchen eine Nutzungsmöglichkeit gefunden und seinen Bahnhof gekauft, meist mit Unterstützung durch Sponsoren und/oder Vereine. Sie haben wieder eine Funktion und sind wieder schön, auch wenn die Blumenkästen fehlen. Zwei Beispiele aus meiner Region sind Gerstetten, heute Riff- und Eisenbahn-Museum, und Westerstetten, heute Modellbahn-Museum.
 
Die folgenden Bilder zeigen ein paar Bahnhöfe in meiner Region, wie sie heute aussehen.

1-4 (Thalfingen)
So sieht der typische Kleinstadtbahnhof heute aus: Türen versperrt, Glasscheiben durch Spanplatten ersetzt; auf den bröckelnden Stufen wächst Unkraut. Auf der Bahnsteig der Gegenrichtung das, was der Reisende so braucht: Automat, Informationstafel und elektronische Anzeige für Uhrzeit und eintreffende Züge.

5-8 (Ulm-Söflingen)
Der hübsche Jugendstilbahnhof hatte bis 2013 noch sein eigenes Stellwerk, und das Obergeschoß ist noch immer bewohnt. Aber der Haupteingang ist "wegen Vandalismus geschlossen". Der ehemalige Wartesaal war ein schöner Raum, in dem es auch eine Theke mit Getränken, etwas Backwerk, Zeitungen und Zigaretten gab; heute blickt man durch die Fenster in ein leeres finsteres Loch. Foto 8 zeigt den linken Seitenflügel von der Bahnsteigseite aus.

9, 10 (Nersingen)
Zwei Fotos vom unmittelbaren Umfeld eines heutigen Bahnhofs: Abgesperrte Brachen (hier noch gepflastert, anderswo geschottert oder von Unkraut überwuchert), rostige Zäune, Verbotsschilder, die mit astronomischen Bußgeldern drohen. Daneben das alte Lagerhaus, dahinter wieder eine Fläche, auf der allerlei Häßliches und Vergessenes abgestellt ist.
 

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1-5 (Offingen)
Der Bahnhof Offingen sollte vor ein paar Jahren versteigert werden. Das ist in diesem Zeitungsartikel (Admin: Link existiert nicht mehr) zu lesen, aus dem auch hervorgeht, daß die Bahn eine große Anzahl ihrer Bahnhöfe an eine obskure Luxemburger Firma verkauft hat. Die Versteigerung fand in Leipzig statt, einer 7 Bahnstunden entfernten Stadt, in der noch nie jemand etwas von einem Ort namens Offingen gehört hat. Wer auch immer heute der Besitzer ist – der Bahnhof, der auf dem Zeitungsfoto von 2012 noch gut aussah, im Obergeschoß bewohnt war und unten noch ein Lokal beherbergte, sieht heute aus wie andere auch: verlassen, versperrt, besprayt.

6-8 (Leipheim)
Der Leipheimer Bahnhof wurde um etliche Meter verlegt (vielleicht, damit sich die danebenliegende Fabrik besser ausbreiten konnte); deshalb sieht er heute aus wie eine gewöhnliche Straßenbahnhaltestelle. Das alte Bahnhofsgebäude steht noch und verrottet vor sich hin; der dazugehörige Abschnitt des Bahnsteigs ist für Unbefugte verboten (ich habe mich um die Absperrzäune herumgemogelt). Nur für die alten Signale hat sich ein Liebhaber gefunden: Das Hotel zur Post schmückt heute seine Straßenfront damit.
 

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Die von dir so treffend beschriebenen Zustände treffen leider auch auf unsere Nebenbahnen zu.

Da ich als Kind keine Städte kannte, hielt ich Bahnhöfe für ganz normal und Haltestellen waren irgendwo in den Feldern eingerichtet, wo es keine Häuser gab.
An meinem Schulweg gab es zwei Wartehäuschen, ehe der Zielbahnhof kam.
Der Bahnhofsvorstand war eine interessante Respektsperson und andere wie die Streckenarbeiter und die Magazineure waren an den Latzhosen und den Bahnkappen zu erkennen.

Der Umgang mit den Nebenbahnen ist ein recht eigenartiger, wie man am Beispiel Donauuferbahn sehen kann:
Von den ÖBB als unrentabel aufgegeben übernahm das Land mit viel Getöse und Versprechungen. Erst hat man in lustige Bemalungen investiert, dann eingestellt und als Sommertouristenbahn wieder eröffnet.
Allerdings nur durch die Wachau, von Emmersdorf (westliches Wachau-Ende) bis zur oberösterreichischen Grenze ist sie eingestellt. Dort wird allerdings in den Güterverkehr investiert, auf niederösterreichischer Seite überlegt man immer wieder den Abriss.

Die Bahnhöfe – meist denkmalgeschützt – blieben nicht nur als personalbefreite Stationen erhalten, sondern werden oft auch anders genutzt, wie zum Beispiel in Dürnstein als Verkaufsstelle eines Safran-Züchters. Sicher ein gutes Saisongeschäft.

An anderen ehemaligen Nebenbahnen sieht es anders aus.
Die Krumpe ist teilweise Schienenradl-Strecke, auf weiten Teilen sind die Schienen schon entfernt. Einrichtungen, die früher die Park & Ride Anlagen ersetzten und deren Rost von der Natur noch jahreszeitlich verschönert werden, verschwinden.

Neue Einrichtungen, wie die eisernen Strafbänke, sind vermutlich die Antwort auf den Vandalismus, der mit dem Verschwinden des Personals begonnen hat. Die gemütlichen alten Holzbänke, in die man höchstens heimlich ein paar Herzen plus Initialen geschnitzt hatte, hielten den neuen Anforderungen nicht lange stand.
Manche Bahnhöfe dienen auch als unfreiwillige Freilichtmuseen, wie der Ybbstalbahnhof, auf dessen Gelände nicht nur eine historische Schneeschleuder vor sich hin rostet.

Manche Waldviertel-Bahn-Bahnhöfe haben noch eine morbide Schönheit, die ÖBB als Eigentümer versucht immer wieder, die Immobilien zu verkaufen.
 
So sehen einige unserer Bahnhöfe auch schon fast aus – mit dem Unterschied, daß sie keineswegs an stillgelegten Strecken liegen. Jedes andere Großunternehmen sorgt dafür, daß seine in stetigem Betrieb befindlichen Filialen gut aussehen – nur bei der Bahn ist das anders :(. (An allen von mir hier vorgestellten Bahnhöfen hält stündlich ein Zug, und viele weitere Züge fahren durch, denn sie liegen an der vielbefahrenen Strecke Stuttgart-Ulm-München.)

Diese Schienenradl sind mir völlig neu; ich hatte keine Ahnung, daß es sowas gibt!

Ebenso unbekannt sind mir die Wartehäuschen – da haben wirklich Züge gehalten? :confused: Meine frühesten Bahnerfahrungen in ländlichen Gebieten stammen aus Hessen, 1950-1960. Bahnstationen hatten die Kleinstädte, und von den Bahnhofsvorplätzen fuhren diverse Busse in alle Richtungen ab, um die Dörfer abzuklappern. Auch Dörfer an Nebenstrecken, die die Bahnlinie nicht hatte umgehen können, hatten ihre richtigen kleinen Bahnhofsgebäude – oft stieg niemand aus und niemand ein, aber der Zug hielt, und das eindrucksvolle Ritual des Bahnhofsvorstehers mit Pfeife und Kelle fand genauso statt wie in der nächsten Stadt. Ihrer Bahnhöfe wegen hielt ich diese Dörfer für durchaus bedeutende Städte – erst viel später, als ich mit dem Auto in der Region herumfuhr, sah ich, wie klein manche dieser Dörfer waren. Solche Strecken (oder zumindest diese Mini-Bahnhöfe) wurden natürlich ab den 60er Jahren stillgelegt. (Als ich jetzt die Bahnhöfe der Städte in dieser Gegend nachgegoogelt habe, stellte ich übrigens fest, daß der Zugverkehr teilweise eingestellt war, aber in neuerer Zeit wieder aufgenommen wurde.)

Museumsbahnen gibt es hier eine ganze Anzahl. Irgendwann sagte mir mal jemand, nichts erfreue den echten Schwaben mehr als der Ausblick auf ein fahrendes "Bähnle" ;). Sie werden von Vereinen betrieben, deren Mitglieder unendlich viel Mühen, Zeit und Geld investiert haben und noch aufbringen. Diese Bahnen sind ungeheuer populär, sehr beliebt für Betriebs- oder Vereinsausflüge, aber auch jede anständige Familie macht im Sommer mal eine Fahrt mit dem "Albbähnle", der "Öchsle-" oder der "Sauschwänzle-Bahn" :D.
 
Natürlich hielten an diesen Holzhäuschen Züge! Wobei das gezeigte schon eine futuristische Architektur hat :D, die anderen waren einfache Unterstandshütten mit einem Sitzbrett an der Wand.
So waren die Stationen gekennzeichnet (Lehenleiten lag an meiner Schul-Strecke) und beim Halt stieg der Schaffner aus, rief die Station mit Namen aus, dann alles einsteigen (war ohnehin kaum jemand da) und weiter gings.

Wer das Schienenradl erfunden hat und ob es das auch wo anders gibt, weiß ich nicht, jedenfalls wird vom Betreiber behauptet, dass es ziemlich ausgelastet ist. An einer ursprünglichen Haltestelle wurde sogar eine Art Mostheuriger eingerichtet. Betrieb natürlich nur im Sommer.

Museumsbahnen mit Sonderfahrten gibt es mehrere, auch die Ybbstalbahn, wo diese Schneeschleuder steht, bietet solche an.

Ja, und gestritten wird auch hier um die Erhaltung der Anlagen. Auch wenn immer mehr Schienen entfernt werden, ein Teilstück von meiner Arbeitsstrecke (Schieneradlrichtung) wird ein Radfahrweg.
 
Zu den Bahnhöfen gehörten sich auch die Lagerhäuser der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Die Genossenschaften gibt es weiterhin, aber sie brauchen die Bahn nicht mehr – Transporte werden heute über die Straße abgewickelt. Die großen und oft schönen Lagerhäuser stehen leer, die Gleise, die sie mit dem Bahnhof verbanden, sind meist schon abgebaut. (Ein Vorteil ist zweifellos, daß der oft große Raum, den die Rangiergleise in Anspruch nahmen, heute anders genutzt werden kann.) Aber wenn sich kein Interessent für das "Grundstück mit Entwicklungspotential" findet, vergammeln die alten Gebäude so vor sich hin. Das sieht dann so aus wie in Aichach:
 

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Schade

Die von Dir beschriebene Entwicklung kann man leider fast überall beobachten. Eigentlich sehr schade, denn Bahnfahren ist um einiges schöner und entspannter als mit dem Auto durch die Gegend fahren. Ich beispielsweise nutze so oft es nur geht die Bahn!

VG,
Harry
 
Bitte nicht als "Schleichwerbung" ansehen - ich wollte auf unseren
"Fensterbahnhof" in Schwerte(-Westhofen) hinweisen, nur als Beispiel
einer neuen Nutzung, so bleibt das Gebäude zum Glück erhalten. Und siehe
da, im internet fand ich noch einen anderen" Fenster-Bahnhof". Dort auch
historische Fotos. In meiner Jugend war Westhofen (gehörte übrigens damals
noch nicht zu meinem Heimatort) gut ausgelastet mit Bahnverkehr, heuer
fährt ein DB-Bus. - Ulrike
 
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