Trauer, sanft und lieblich
Es gibt im Leben bekanntlich Höhen und Tiefen. Wenn man sich tief in so einer Tiefe befindet, braucht man Trost. Und was wäre tröstlicher als ein Friedhof? Da traf es sich gut, dass ich keine fünf Minuten Fußweg von Zuhause bis zum Aachener Westfriedhof hatte.
Es ist nicht das viele Grün, das so beruhigt. Eher ist es die Stille. Die paar alten Frauen, die mit Hacke und Gießkanne an den Gräbern ihrer Dahingeschiedenen hantieren, kümmern sich nicht um mich; niemand ist da, den ich zu fürchten hätte. Vor allem aber sind es die Figuren aus Stein und Bronze, die da so sanft vor sich hintrauern oder sinnend hinab ins eigene Herz oder auf die Stiefmütterchen zu ihren Füßen blicken. Auf dem Friedhof in Mailand, dem Cimiterio Monumentale, raufen sich die marmornen Leidtragenden die Haare oder werfen sich in wilder Verzweiflung übers Grab; in Aachen wie überall in Deutschland stehen oder sitzen sie gefasst und schicklich – ein leichtes Neigen des Kopfes muss als Ausdruck der Trauer genügen.
Die eine ringt zwar ein bisschen die Hände, aber vielleicht betet sie ja auch nur. Früher einmal schaute sie dabei zum Himmel auf, aber die Erosion hat vom steinernen Gesicht nicht viel übrig gelassen (1). Andere sind grün vor Schimmel und Moos, was ihre edle Haltung nicht beeinträchtigt. Wieder andere sind grün vom Grünspan. Es sind sogenannte Galvanoplastiken, um die Jahrhundertwende bei WMF im schwäbischen Geislingen produziert und per Katalog bestellt. Ihr Kern ist Gips, die dünne Haut Bronze. Gelegentlich kommt an so einer Figur unter einer aufgerissenen Stelle im Metall der Gips wieder zum Vorschein.
Wer öfter Friedhöfe besucht, begegnet manchen Figuren immer wieder. Einzelne meiner guten Bekannten vom Westfriedhof habe ich dagegen nur hier gesehen: Da sitzt auf ihrem Sockel eine bronzene Geigerin, der nur leider der Bogen abhanden gekommen ist, weshalb ihr rechter Arm etwas unmotiviert in der Luft hängt (2). Und eine abgeschiedene Seele in fließendem Gewand schwebt mit fromm über der Brust gekreuzten Armen gen Himmel (sie schwebt ziemlich schräg, so dass ich jedesmal denke: Sie muss eine solide Eisenarmierung in sich haben!), während ein Engel ihr mit erhobenem Arm zeigt, wohin sie auffahren soll (3).
Wenn man den Grabfiguren glauben darf, trauern nur Frauen (4). Auch die Friedhofsengel sind weiblich, und auch sie stehen meist gesenkten Hauptes da, einen Palmwedel im Arm, eindrucksvolle Flügel am Rücken. Und dann gibt es natürlich noch den Thorvaldsen-Christus (5), der sich auf jedem alten Friedhof findet. Von seinem hohen Sockel herab scheint er mit offenen Armen alle zu sich zu rufen, die da mühselig und beladen sind; bei ebenerdiger Aufstellung wirkt er eher so, als begrüße er die tagelang verschwundene Hauskatze: Ja, bist du endlich wieder da, Miezi!
Das waren noch Zeiten, als sich nach seinem Ableben noch was leisten durfte, wer es sich leisten konnte! Als noch keine Friedhofsordnung vorschrieb, wie hoch und wie breit der Brocken Naturstein sein darf, welche Farben zulässig sind, dass schwarzer Granit, Schliffe, Polituren und goldene Buchstaben verboten sind, etc. (der Erfindungsreichtum an Verboten in deutschen Friedhofsordnungen ist grenzenlos)!
Dafür gab es natürlich andere Vorschriften. Auf dem 1889 eröffneten Friedhofsteil auf der südlichen Straßenseite durften nur Evangelische begraben werden. Der wesentlich größere Teil nördlich der Straße (seit 1890) war den Katholiken vorbehalten. Ein Grabmal von 1890 auf dem Alten Friedhof von Roermond zeigt, dass so etwas mitunter eine unzumutbare Härte bedeutete. Dort trennt eine Mauer den katholischen vom evangelischen Friedhofsteil, und sie zieht zugleich eine Grenze zwischen dem Grab einer katholischen Frau und dem ihres protestantischen Ehemannes. Aber die Grabstelen der beiden überragen die Trennwand, und zwei steinerne Hände halten sich über der Mauer gefasst. So etwas hat man in Aachen wohlweislich verhindert: Über die breite Straße hinweg hätten die Arme denn doch zu lang sein müssen. Statt dessen gibt es heute eine Fußgängerbrücke, und die konfessionelle Friedhofstrennung ist auch abgeschafft.
Ja, das waren Zeiten, als die Gutsituierten noch im Tode zeigen konnten, dass sie nicht irgendwer waren! In früheren Jahrhunderten hatten sie sich in der Kirche oder wenigstens außen an der Kirchenwand bestatten lassen. Später, als man die Friedhöfe aus hygienischen Gründen und/oder aus Platzmangel vor die Stadt verlegte, musste man der örtlichen Hautevolee etwas ähnlich Repräsentatives bieten. In manchen Städten bekamen die Friedhofsmauern offene Arkaden, unter denen die Grabmäler der besseren Leute Platz fanden. Für den Aachener Westfriedhof erdachte man eine in Deutschland einmalige Lösung: den neugotischen Campo Santo (6,7), einen kirchenähnlichen Bau mit steinernen Grüften unter den Bodenplatten; den Wandabschnitt darüber konnte die katholische Familie nach Belieben gestalten. In diesen spitzbogigen Wandelgängen trifft man nie eine Menschenseele (es sei denn, ein plötzlicher Regenguss treibt jemanden hinein). Man ist allein mit der marmornen Dame, die sich schmerzerfüllt (O Gott, meine Migräne!) aus dem Salon in die Wand zu flüchten scheint (8). Evangelische Aachener mußten auf den Luxus eines solchen Totenhauses verzichten; sie rächten sich dafür mit Grabmälern, die so groß sind, dass sie kaum aufs Foto passen (9).
Und all das soll tröstlich sein? O ja. Aber der Hauch der Vergänglichkeit, der einen angeblich auf Friedhöfen anweht? Nun, die steinernen und pseudobronzenen Figuren stehen nach hundert, hundertzwanzig Jahren immer noch. Und nicht immer ist ja Vergänglichkeit eine Drohung. "Das Sichere ist nicht sicher. So, wie es ist, bleibt es nicht", heißt es bei Bertolt Brecht, und das ist als Ermutigung gemeint. Ich kaufte mir damals eine Pocketkamera, um von den so lieblich Trauernden Porträtaufnahmen zu machen. Es war die erste Stufe empor aus der Tiefe.
Es gibt im Leben bekanntlich Höhen und Tiefen. Wenn man sich tief in so einer Tiefe befindet, braucht man Trost. Und was wäre tröstlicher als ein Friedhof? Da traf es sich gut, dass ich keine fünf Minuten Fußweg von Zuhause bis zum Aachener Westfriedhof hatte.
Es ist nicht das viele Grün, das so beruhigt. Eher ist es die Stille. Die paar alten Frauen, die mit Hacke und Gießkanne an den Gräbern ihrer Dahingeschiedenen hantieren, kümmern sich nicht um mich; niemand ist da, den ich zu fürchten hätte. Vor allem aber sind es die Figuren aus Stein und Bronze, die da so sanft vor sich hintrauern oder sinnend hinab ins eigene Herz oder auf die Stiefmütterchen zu ihren Füßen blicken. Auf dem Friedhof in Mailand, dem Cimiterio Monumentale, raufen sich die marmornen Leidtragenden die Haare oder werfen sich in wilder Verzweiflung übers Grab; in Aachen wie überall in Deutschland stehen oder sitzen sie gefasst und schicklich – ein leichtes Neigen des Kopfes muss als Ausdruck der Trauer genügen.
Die eine ringt zwar ein bisschen die Hände, aber vielleicht betet sie ja auch nur. Früher einmal schaute sie dabei zum Himmel auf, aber die Erosion hat vom steinernen Gesicht nicht viel übrig gelassen (1). Andere sind grün vor Schimmel und Moos, was ihre edle Haltung nicht beeinträchtigt. Wieder andere sind grün vom Grünspan. Es sind sogenannte Galvanoplastiken, um die Jahrhundertwende bei WMF im schwäbischen Geislingen produziert und per Katalog bestellt. Ihr Kern ist Gips, die dünne Haut Bronze. Gelegentlich kommt an so einer Figur unter einer aufgerissenen Stelle im Metall der Gips wieder zum Vorschein.
Wer öfter Friedhöfe besucht, begegnet manchen Figuren immer wieder. Einzelne meiner guten Bekannten vom Westfriedhof habe ich dagegen nur hier gesehen: Da sitzt auf ihrem Sockel eine bronzene Geigerin, der nur leider der Bogen abhanden gekommen ist, weshalb ihr rechter Arm etwas unmotiviert in der Luft hängt (2). Und eine abgeschiedene Seele in fließendem Gewand schwebt mit fromm über der Brust gekreuzten Armen gen Himmel (sie schwebt ziemlich schräg, so dass ich jedesmal denke: Sie muss eine solide Eisenarmierung in sich haben!), während ein Engel ihr mit erhobenem Arm zeigt, wohin sie auffahren soll (3).
Wenn man den Grabfiguren glauben darf, trauern nur Frauen (4). Auch die Friedhofsengel sind weiblich, und auch sie stehen meist gesenkten Hauptes da, einen Palmwedel im Arm, eindrucksvolle Flügel am Rücken. Und dann gibt es natürlich noch den Thorvaldsen-Christus (5), der sich auf jedem alten Friedhof findet. Von seinem hohen Sockel herab scheint er mit offenen Armen alle zu sich zu rufen, die da mühselig und beladen sind; bei ebenerdiger Aufstellung wirkt er eher so, als begrüße er die tagelang verschwundene Hauskatze: Ja, bist du endlich wieder da, Miezi!
Das waren noch Zeiten, als sich nach seinem Ableben noch was leisten durfte, wer es sich leisten konnte! Als noch keine Friedhofsordnung vorschrieb, wie hoch und wie breit der Brocken Naturstein sein darf, welche Farben zulässig sind, dass schwarzer Granit, Schliffe, Polituren und goldene Buchstaben verboten sind, etc. (der Erfindungsreichtum an Verboten in deutschen Friedhofsordnungen ist grenzenlos)!
Dafür gab es natürlich andere Vorschriften. Auf dem 1889 eröffneten Friedhofsteil auf der südlichen Straßenseite durften nur Evangelische begraben werden. Der wesentlich größere Teil nördlich der Straße (seit 1890) war den Katholiken vorbehalten. Ein Grabmal von 1890 auf dem Alten Friedhof von Roermond zeigt, dass so etwas mitunter eine unzumutbare Härte bedeutete. Dort trennt eine Mauer den katholischen vom evangelischen Friedhofsteil, und sie zieht zugleich eine Grenze zwischen dem Grab einer katholischen Frau und dem ihres protestantischen Ehemannes. Aber die Grabstelen der beiden überragen die Trennwand, und zwei steinerne Hände halten sich über der Mauer gefasst. So etwas hat man in Aachen wohlweislich verhindert: Über die breite Straße hinweg hätten die Arme denn doch zu lang sein müssen. Statt dessen gibt es heute eine Fußgängerbrücke, und die konfessionelle Friedhofstrennung ist auch abgeschafft.
Ja, das waren Zeiten, als die Gutsituierten noch im Tode zeigen konnten, dass sie nicht irgendwer waren! In früheren Jahrhunderten hatten sie sich in der Kirche oder wenigstens außen an der Kirchenwand bestatten lassen. Später, als man die Friedhöfe aus hygienischen Gründen und/oder aus Platzmangel vor die Stadt verlegte, musste man der örtlichen Hautevolee etwas ähnlich Repräsentatives bieten. In manchen Städten bekamen die Friedhofsmauern offene Arkaden, unter denen die Grabmäler der besseren Leute Platz fanden. Für den Aachener Westfriedhof erdachte man eine in Deutschland einmalige Lösung: den neugotischen Campo Santo (6,7), einen kirchenähnlichen Bau mit steinernen Grüften unter den Bodenplatten; den Wandabschnitt darüber konnte die katholische Familie nach Belieben gestalten. In diesen spitzbogigen Wandelgängen trifft man nie eine Menschenseele (es sei denn, ein plötzlicher Regenguss treibt jemanden hinein). Man ist allein mit der marmornen Dame, die sich schmerzerfüllt (O Gott, meine Migräne!) aus dem Salon in die Wand zu flüchten scheint (8). Evangelische Aachener mußten auf den Luxus eines solchen Totenhauses verzichten; sie rächten sich dafür mit Grabmälern, die so groß sind, dass sie kaum aufs Foto passen (9).
Und all das soll tröstlich sein? O ja. Aber der Hauch der Vergänglichkeit, der einen angeblich auf Friedhöfen anweht? Nun, die steinernen und pseudobronzenen Figuren stehen nach hundert, hundertzwanzig Jahren immer noch. Und nicht immer ist ja Vergänglichkeit eine Drohung. "Das Sichere ist nicht sicher. So, wie es ist, bleibt es nicht", heißt es bei Bertolt Brecht, und das ist als Ermutigung gemeint. Ich kaufte mir damals eine Pocketkamera, um von den so lieblich Trauernden Porträtaufnahmen zu machen. Es war die erste Stufe empor aus der Tiefe.
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