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Fledermäuse, oder: Das Alter, in dem man noch Gefühle hat

Babel

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Daß es im Jahre 1952 war, kann ich beschwören. Josef Stalin lebte noch, Rudi Schuricke schnulzte "Florentinische Nächte", und bei Reclam kostete Schillers "Jungfrau von Orleans" fünfzig Pfennige, Lessings "Laokoon", weil dicker, eine Mark, die "Kritik der reinen Vernunft" war für die Wahnsinnssumme von einsfünfzig zu haben. Und ich war dreizehn.

Es war am Abend. Die Sonne war noch nicht untergegangen, würde es aber innerhalb der nächsten Stunde tun. Mein Heimweg vom Konfirmandenunterricht lief zunächst ab wie immer. Die ersten fünf Minuten Wegstrecke hatte ich mit einer gewissen Barbara Engelhardt gemeinsam, und weil dies das einzige war, was wir gemeinsam hatten, waren wir gewöhnlich schon froh, wenn uns bis zu ihrer Haustür Gesprächsbeiträge einfielen wie „Haste schon Englisch?” oder „In Mathe kapier ich überhaupt nix mehr” – und jetzt, in den Ferien, war es ganz trostlos. Nach der Verabschiedung kehrte ich mit echter Erleichterung um und ging wieder zurück zur Kirche.

Gegenüber dem Kirchplatz nämlich war ein Uhrengeschäft, und zu jeder vollen Stunde gab die Uhr an seiner Fassade sein Westminster-Glockenspiel in voller Länge von sich, das mich aus unerklärlichen Gründen bis in die tiefsten Tiefen meiner anspruchslosen Seele ergriff und mir regelmäßig die Tränen in die Augen trieb. Da man in diesem Alter noch mit größter Begeisterung weint und voller Befriedigung registriert, wie fein man doch zu empfinden vermag (besonders dort, wo die übrige Welt in ihrer Versteinerung nur ein plattes Dingdong hört), hoffte ich in jeder Konfirmandenstunde von neuem, der Pfarrer möge rechtzeitig zur vollen Stunde Schluß machen, was er in der Regel auch tat.

Nachdem die Uhr verstummt war, wanderte ich tränenvollen Auges (welchen Zustand ich noch möglichst lange zu erhalten suchte, um nicht an der Tiefe meines Gefühls irre zu werden) zwei Straßen weiter. Dort wohnte Rosi, meine beste Freundin. Alle paar Tage zerstritten wir uns mit aller Heftigkeit, deren wir fähig waren. Nach zwei Tagen beiderseitigen unsäglichen Leidens folgte die ebenso leidenschaftliche Versöhnung: Nie, nie, NIE wieder ein einziges böses Wort ...! Bis zum nächsten Mal. (Die sogenannte erste Liebe ist, daran gemessen, so aufregend wie das dreißigste Ehejahr vorm Fernseher.)

An den Konfirmandenunterrichtsabenden war zwar Rosi, damalige bayerische Jugendmeisterin über 100 Meter Kraul, ohnehin zum Training, aber vor ihrem Haus herumzustehen war deshalb doch immer noch hundertmal wundersamer, als irgendwo anders zu sein. Dieser Abend nun brachte mir ein zusätzliches Erlebnis: Stand da nämlich Andi Kern mit seinem Fahrrad (nicht allein natürlich, aber die beiden anderen sind nicht der Rede wert). Andi würdigte mich der folgenden Sätze:

Hatteste Kompfermanden?
Haste den eingtlich auch beim Schmidt?
Nee? Kannste froh sein.
Sonntag spieln wa, ich rechtsaußen, kommste nich mal zukucken?​

Rosi war, wie erwähnt, zum Training, und Gefühle sind flexibel, und daher ergriffen mich diese vier Sätze mindestens ebenso wie zuvor die vier Takte Westminsterschlag. Ich ging wie auf Wolken und zögerte die Rückkehr ins prosaische Heim hinaus, bis es sich nicht mehr umgehen ließ. Ja, und dann – dann hat mich auf diesem Nachhauseweg wahrhaftig der Finger des Göttlichen angerührt.

Dazu muß man wissen, daß ich einige Monate vorher in Biologie eine Strafarbeit über die Fledermaus aufbekommen hatte. Wie in alle meine eher seltenen Strafarbeiten investierte ich auch in diese wahnwitzige Mühe und Begeisterung, weil ich hoffte, nichts ärgere einen Lehrer mehr, als zu sehen, daß er mir größten Genuß verschafft hatte mit einer Maßnahme, die mich hätte quälen sollen. Ich hatte also bei meiner Beschäftigung mit der Fledermaus eine unendliche Liebe zu diesem Tier gefaßt – unter all dem Zauberhaften, das diesem Wesen eigen ist, sei hier nur erwähnt, daß es Finger hat wie wir und fliegen kann, wenn es sie spreizt (oft lag ich im Dunkeln mit gespreizten Fingern im Bett und stellte es mir vor); und dann, man denke sich das: beispielsweise auf einer Kirchenempore zu stehen, mit verbundenen Augen, und dann zu singen, wenn auch bei 30 bis 70 Kilohertz, wovon keiner weiß, wie es klingt, und aus dem Klang der eigenen Stimme im Raum zu ersehen, Verzeihung: zu erhören, welche Form der Kronleuchter hat! Nur, zu meinem Kummer hielten sich Fledermäuse, wie ich gelernt hatte, in Höhlen und verfallenen Türmen auf, und so war die Wahrscheinlichkeit, daß mir je welche begegnen würden, minimal. Aber gerade diese Unerreichbarkeit hob die Fledermaus doch weit über profane Realitäten wie Andi Kern, Rosi und eine Westminsteruhr hinaus.

Es war schon dämmrig, und über mir flatterte es. Waren das Schwalben mit verletzten Flügeln? Sie flogen so wacklig ... Aber gleich acht, zehn verletzte Schwalben? Sie brachten keine glatten, eleganten Flugbahnen zustande, wie jeder beliebige Vogel das schafft – hektisch, eckig, zackig, taumelig fielen sie in der nur noch schwach erleuchteten Luft herum, offenbar mit nichts anderem beschäftigt, als sich die Köpfe an nichts einzurennen, an nichts abzuprallen und wieder blindlings Richtung auf nichts zu nehmen. Das mußten sie sein – obwohl es in unserer Straße keine Höhlen und verfallenen Türme gab, nur einen Luftschutzbunker. Ich besah mir das wirre Treiben, bis vor Dunkelheit kaum noch was zu sehen war, denn soviel Straßenbeleuchtung wie heute wurde 1952 weder für nötig erachtet, noch hätte die damalige Energiewirtschaft sie verkraftet.

Tief bewegt und in gänzlicher Gleichgültigkeit gegenüber der bevorstehenden Predigt („So spät, Kind! Was hätte dir passieren können!”) verließ ich den Ort, da ich die Ebenbilder Gottes hatte sehen dürfen in ihrem Anschein totaler Desorientiertheit, der doch so sehr trügt, orientiert sich doch die Fledermaus in einem unendlich viel höheren Sinne als wir, nämlich in 30 bis 70 Kilohertz und noch in schwärzester Finsternis.
 
Zuletzt bearbeitet:
Herrlich - danke für diese Erzählung, in der so viel steckt als oft in einem ganzen Buch nicht.

Na - ein paar Gefühle sind doch wohl geblieben ;).

Oft überlege ich, ob die Begeisterungsfähigkeit nachlässt. Ich glaube nicht, alles verursacht bei seiner Premiere den größten Eindruck und die werden eben weniger mit der Zeit - alles schon mal da gewesen, so in etwa :popcorn:

Ich liebe auch diese Flattergeister, die in der Abenddämmerung lautlos und genau in der von dir beschriebenen Manier durch den Garten pirschen. Vermutlich schlafen sie oben in der Ruine.
Einmal hatte ich eine in der Hand: sie war mir gegen die Winschutzscheibe geflogen und mit einer Zehe am Wischer hängen geblieben. Ich dachte schon, sie wäre tot, sie war ganz unbeweglich. Zum Glück hatte ich sie in Nacken und Rücken angefasst um sie zu lösen, denn sie fletschte ganz ängstlich die Zähne und hätte sicher zugebissen. Dann war sie ganz schnell weg, also unverletzt.
 
Oft überlege ich, ob die Begeisterungsfähigkeit nachlässt. Ich glaube nicht ...

Ich liebe auch diese Flattergeister ... Einmal hatte ich eine in der Hand ...
Ich glaube es auch nicht. (Na, etwas schon. Eine Westminsterschlaguhr würde mich heute nicht mehr zu Tränen rühren.) Was aber vergeht, ist die Begeisterung, mit der man?/frau? sich in die eigenen Gefühle vertieft, ja verliebt.

Ich hatte mal eine ganze Schar in der Wohnung. Ich wachte auf, weil meine Katze ständig geräuschvoll in die Höhe sprang – da kreisten sie nun in meinem ziemlich quadratischen Schlafzimmer; offenbar waren sie durchs offene Fenster und die offene Balkontür reingekommen. Hinausscheuchen ließen sie sich nicht, sondern zogen unbeirrt ihre Kreise. Ich beschloß, das Problem zu vertagen und nebenan auf dem Sofa zu schlafen. Aber da meine Türen der Katze zuliebe immer offenstanden, fand ich nebenan das gleiche vor: eine Schar Fledermäuse, die unbeirrt ihre Kreise zog. Es gelang mir immerhin, die Wohnzimmerschar ins Schlafzimmer zu scheuchen und die Tür hinter mir und der Katze zu schließen. Am andern Morgen waren sie von selbst weg – bis auf ein zwei oder drei, die es vorgezogen hatten, sich im Fenstervorhang schlafenzuhängen. :D
 
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