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Arbeits- und Familienleben auf dem Land im 19. Jahrhundert

Babel

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1944 hat mein Großvater die Erinnerungen an seine Eltern aufgeschrieben. Der (von mir leicht gekürzte) Bericht ist zweifellos idealisierend in der Art, wie ich es noch aus Lesebuchgeschichten kenne: Eine glückliche Familie, nicht mit irdischen Gütern gesegnet, aber arbeitsam und von unbeugsamer Redlichkeit; Konflikte gibt es nicht, weder im Haus noch innerhalb der dörflichen Gesellschaft. Realistisch ist er trotzdem, und deshalb denke ich, daß er als Dokument für eine längst vergangene Zeit von Interesse ist.


Meine Eltern

Mein Vater wurde 1826 in Mengeringhausen [Waldeck, Hessen] als 4. Kind seiner Eltern geboren. Er vermochte sich seines Vaters nicht zu erinnern, denn dieser war schon 1829, nur 32 Jahre alt, gestorben.

Nach dem frühen Tode des Großvaters mußte die Großmutter Haus und Geschäft an ihren Schwager abtreten und sich eine Mietwohnung suchen. Sie hatte ihre liebe Not, die 5 Kinder anständig durchzubringen und mußte dazu die öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen.

So hat denn mein Vater eine karge, freudlose Jugendzeit gehabt. Sie hat mit dazu beigetragen, ihn zu dem ernsten, stillen Mann zu machen, als der er in meiner Erinnerung lebt. Nach der Konfirmation kam er einem Blaufärber in die Lehre. Das Färberhandwerk war ein notwendiges Zubehör der Naturalwirtschaft in einer Zeit, da der Landmann auch Wolle und Flachs im eigenen Betrieb erzeugte und der blaue Kittel, der selbstgestrickte Wollstrumpf und die bedruckte leinene Schürze unentbehrlicher Bestandteil der Kleidung waren. Mein Bruder Wilhelm hat die letzten Reste der Färberei in den 1920er Jahren aufgegeben, nachdem die Mängeljahre des ersten Weltkrieges ihr noch einmal einen gewissen Auftrieb gegeben hatten. Vor hundert Jahren aber stand sie als Kleingewerbe noch in voller Blüte und vermochte ihren Mann wohl zu nähren.

Das Leinen wurde in der kalten Indigo-Küpe, die Wolle als Garn oder ungesponnen im kupfernen Kessel warm mit Indigo gefärbt, andere Farben mit Farbholz, Krapp oder später mit den neuen Alizarin- und Anilin-Farben hergestellt. Dazu kam die verwickelte Kunst des Blaudrucks, wofür sogar die Druckformen selbst hergestellt wurden. Mein Vater mußte deshalb auch mit dem Schnitzmesser und Holzstichel gut umgehen können und hatte in jungen Jahren der Mutter eine Butterform angefertigt, aus der der Butterkloß in Gestalt eines Schäfchens hervorging. Alljährlich zu Ostern wurde diese Form benutzt, und wenn dann das Schäfchen mit einem grünen Blatt im Maul auf dem Tisch erschien, erstrahlte uns Kindern die Welt ganz besonders festlich.

Bald nach beendeter Lehrzeit schnürte der junge Färbergeselle sein Bündel und ging auf Wanderschaft. Sie führte ins Ruhrtal hinab nach Westfalen und endete schon bald in Dortmund. Hier fand der Vater Stellung bei der Firma Verron, Manufakturwarengeschäft verbunden mit Färberei und Druckerei. Hier war er ein volles Jahrzehnt, von 1845 bis 1855. Für meinen Vater waren es Jahre schwerer Arbeit, von denen er sechs als Färbergeselle und vier als "Handlungsdiener" im Geschäft tätig war. Mit welcher Treue er gearbeitet hat, beweise das ihm zum Schluß ausgestellte Zeugnis:

"Herr NN aus Mengeringhausen arbeitete seit dem Jahre 1846 Sechs Jahre hindurch als Färbergehülfe in meiner Färberei und Druckerei. Während dieser Zeit lernte ich in demselben einen aufrichtigen bescheidenen und strebsamen Jungen Mann kennen und schätzen. Daher sah ich mich veranlaßt ihn in meinen Manufakturwarengeschäft zu beschäftigen, worin er seit den letzten Vier Jahren bis zu seinem Austritt aus meinem Geschäfte, die Stelle eines Handlungs Dieners bekleidete. Stets unterzog er sich allen seinen Obliegenheiten mit so regen Eifer und guten Erfolge, daß er sich dadurch meine Zufriedenheit erwarb. Dieserhalb sowohl als auch wegen seiner beharrlichen Pflichttreue und seines ausgezeichneten sittlichen Lebenswandels, bezeuge ich ihm mit Vergnügen und dem vollsten Rechte, daß er in dem ganzen Zeitraum von Zehn Jahren, wärend dessen unausgesetzt er in meinem Dienste stand, mein Vertrauen in Vollsten Maße gerechtfertigt hat."

Es war die Zeit, wo die bergisch-märkischen Lande, ein Menschenalter nach der Franzosenzeit, sich anschickten, das "Industriegebiet" von heute zu werden. Kohle und Eisen und dann auch Eisenbahnen wurden die Losung des Tages und befruchteten mächtig Handel und Wandel. Als mein Vater 1855 nach Mengeringhausen zurückkehrte, hatte sich Dortmund von 4.500 auf fast 20.000 Einwohner vergrößert. Er konnte jetzt auf eine längere Strecke die Eisenbahn benutzen, offene Plattformwagen mit darauf gestellten Bänken, nach heutigen Begriffen ein gewiß recht unbehagliches Reisen!

Warum mein Vater 1855 nach Mengeringhausen zurückkehrte, ist mir nicht bekannt. Vermutlich war es der Wunsch seiner Mutter, auch diesen Sohn in ihrer Nähe zu haben, und dieser fühlte vielleicht selbst, daß ihn das rücksichtslose Draufgängertum fehlte, das in dem westfälischen Betriebe zur Erringung einer selbständigen Lebensstellung unerläßlich gewesen wäre. In der Heimat aber hatten ihm gute Freunde eine Stelle bei meinem Großvater Albert Neumeier in Adorf ausgemacht, der keinen Sohn, wohl aber zwei Töchter hatte, so daß die Möglichkeit der Einheirat gegeben war. Solchen heute vielleicht belächelten nüchternen Erwägungen ist eine vorbildliche Ehe zu verdanken, diejenige meiner Eltern!

In Adorf stürzte sich mein Vater mit gewohnter Pflichttreue in die Arbeit. Gleich im ersten Jahr wurde das Haus um zwei Fenster Front vergrößert. Der Großvater Neumeier war schwacher Gesundheit und mußte dem fleißigen Mitarbeiter von Jahr zu Jahr mehr die Arbeit überlassen, und dieser, da er mit der Großmutter und den beiden munteren Töchtern alsbald in herzlichen Einklang geriet, fühlte: "Hier ist gut sein, hier lasset uns Hütten bauen!" Er hat sich nach dem Zuge der Herzen mit der jüngeren Tochter Emilie gefunden, und mit ihr, der 21 1/2jährigen, bald nach dem Tode des Großvaters 1860 Hochzeit gehalten.

Dann aber machte sich der Ernst des Lebens mit aller Macht geltend: Mit acht Kindern in sechzehn Jahren wurde die Ehe gesegnet. Alle sollten sie satt und mit Wäsche, Kleidung und Schuhzeug versehen werden; alle machten sie die Masern, den Keuchhusten, Scharlach und noch andere Krankheiten durch, manches "Loch im Kopf" und mancher Schnitt in den Finger mußte verbunden werden, und ein herber Schmerz war es, als das vierjährige Schwesterchen Berta, das bravste von allen, 1875 an "Krupp" (= Diphterie) starb. Jeden Sonnabend wurden alle Kinder gründlich abgeseift und mit reiner Wäsche versehen, und am Sonntagmorgen gekämmt in der Sonntagsjacke zur Kirche geschickt.

Dazu kam die Hauswirtschaft, etwas ganz anderes und weitaus mühevolleres als die Führung eines heutigen städtischen Haushalts, in dem die eine Seite, die Beschaffung, auf die zweckmäßige Verausgabung des Wirtschaftsgeldes geschrumpft ist. Damals aber wurden wesentliche Teile des Verbrauchs in der eigenen kleinbäuerlichen Wirtschaft selbst erzeugt. Es wurde gesät und geerntet, Kühe wurden gefüttert, gehütet und gemolken, Schweine grunzten und Hühner gackerten. Im Rauchfang hingen Würste und Schinken, die Gaben der wichtigen Schlachtfeste. Vor unsern Augen entstanden die duftenden Brotlaibe und Kuchen, die goldgelbe Butter, die köstlichen Käse. Im Winter schnurrten die Spinnräder, und gegen das Frühjahr hin klapperte einen Monat lang "das Stell" (= der urtümliche Webstuhl) und erzeugte das Leinen, das dann wochenlang am Bach gebleicht wurde. Im Winter wurden auch gewaltige Mengen Reisig und Scheitholz aus den Wäldern zur Heizung der Wohnung und der Färbereikessel angefahren, zerkleinert und gestapelt. Das war uns Kindern lieb und vertraut. Aber wieviel Mühe, Last und Sorge für die "Großen" (d. h. die Eltern, ein bis zwei Mägde und einige Tagelöhner) damit verbunden war, ahnten wir damals noch nicht, so oft wir auch, mehr oder weniger gutwillig, zum Hüten der Kühe, zum Heumachen, Kartoffelausgraben, Holztragen, Drehen des Häckselschneiders, Zerkleinern der Dickwurzeln und ähnlichen Arbeiten herangezogen wurden.

Das alles war aber für die Eltern doch nur der Untergrund für die eigentliche Erwerbsarbeit in der Färberei und im Laden, die natürlich allem anderen vorging. Unermüdlich schaffte der Vater an den Küpen und Kesseln, beim Auswaschen am Bach, an den Trockenstangen, die am Hause entlang aufgestellt oder zur Dachluke hinaus gesteckt wurden, auf der Druckstube oder am Glättisch. Nie, auch an Feiertagen nicht, verloren seine Färberhände den blauen Schimmer. Eine Erholung bedeutete es für ihn, wenn er hier und da nachmittags, eine Zigarre rauchend und ein Liedchen summend oder pfeifend, das fertig gefärbte Garn zur Ermittlung des Färbelohns abwog. Beim gefärbten Leinen geschah das durch Abmessen mit der Elle. Das war herkömmlicherweise Mutters Aufgabe, wobei ich sie immer wegen ihres sicheren Kopfrechnens mit gewöhnlichen Brüchen bewundert habe. (Zum Beispiel 6 3/4 Ellen je 28 Pfennige = 189 Pfennige; Dezimalbrüche waren ihr nicht geläufig, paßten ja auch nicht zu den duodezimalen Ellen, Loten u.s.w., die noch jahrzehntelang nach der Einführung der metrischen Maße im ländlichen Verkehr gebräuchlich waren.) Beim Mangeln des gefärbten Leinens auf der urtümlichen schweren Mangel mußten zeitweise alle Hausgenossen, auch die größeren Kinder, mithelfen.

In die Arbeit des kleinen Ladengeschäftes teilten sich die Eltern im allgemeinen derart, daß der Vater alles Schriftliche, den Verkehr mit den Geschäftsreisenden, das Auspacken und Ordnen der Waren und dergleichen, die Mutter aber den Verkauf besorgte. Dazu war sie in ihrer ruhigen, von jeder Hast fernen Art auf das glücklichste befähigt, denn dazumal war auf dem Lande der seltene Einkauf eine fast feierliche Angelegenheit, die mit breitem Eingehen auf alle Familienangelegenheiten sattsam beredet werden mußte. Die unantastbare Redlichkeit meiner Eltern war allgemein anerkannt. Die selbstlose Mütterlichkeit und verständige Lebensklugheit meiner Mutter aber führte dazu, daß sich manche Frau in bedrängter Lage an sie wendete, der sie mit tröstlichem Zuspruch und klugem Rat helfen konnte. Der Vater in seiner stillen Art hielt sich mehr zurück. Er hatte in allem Geschäftlichen strenge Grundsätze. Er hielt auf straffe Ordnung und verschmähte es sorgfältig, Kredit in Anspruch zu nehmen.

Man könnte nun meinen, daß in diesem übervollen Arbeitsleben das Gemüt, das allgemein Menschliche und das Staatsbürgerliche nicht zu seinem Recht gekommen wäre. Aber weit gefehlt: Auch darin war mein Elternhaus in den zeitgebundenen Formen durchaus auf der Höhe. Abends las der Vater bei der qualmenden langen Pfeife noch ein Stündchen die Zeitung, entweder den Waldeckschen Anzeiger oder die vom befreundeten Lehrer herübergeschickte Preußische Lehrerzeitung liberaler Haltung. Die Bismarcksche Politik, das geplante Tabakmonopol, die Verstaatlichung der Eisenbahnen, die Schutzzölle wurden mit gelegentlichen Besuchern lebhaft besprochen. Die Reichstagswahlen erweckten eifrige Teilnahme, zumal unser Vetter lange Jahre der Abgeordnete für Waldeck war.

Die Mutter las in der Zeitung nur den Roman, und dies meist mit bewegten Lippen, was uns Kindern immer sehr merkwürdig vorkam. Bücher gab es natürlich wenige im Hause, bis später die älteren Brüder in bescheidenem Umfang für Abhilfe sorgten. Was auf diese Art und sonst gelegentlich leihweise ins Haus kam, wurde eifrig und gründlich gelesen, und wenn man am Ende angekommen war, fing man vorn wieder an – ich denke an den Lederstrumpf, den Robinson, Archenholds Geschichte des Siebenjährigen Krieges u.a. Eine große Rolle spielte die "Gartenlaube", die ja auch bebildert war. Was sie über das Jahr 1848, die deutschen Einigungskriege u.a., die Gründerzeit, über Forschungsreisen und an Naturschilderungen brachte, wurde in unserem Kreise eifrig besprochen. Mutter fand trotz ihrer drängenden Arbeit immer noch Zeit, uns Märchen zu erzählen, und ganz besonders schön war es, wenn sie sich einmal herbei ließ, uns die alten Gedichte und Balladen aufzusagen, die sie in ihrer Schulzeit gelernt hatte und treu im Gedächtnis bewahrte.

Unser Haus gehörte zu den wenigen im Dorfe, in denen nur hochdeutsch gesprochen wurde, allerdings mit den hergebrachten waldeckschen Eigenarten. Wir sagten z.B. Vatter, und der Hafer war bei uns weiblichen Geschlechts. Wir Kinder beherrschten natürlich das bodenständige Plattdeutsche vollkommen und benutzten es im Verkehr mit den Schulkameraden ausschließlich; wir wären der Lächerlichkeit verfallen, wenn wir da hochdeutsch gesprochen hätten. Die Eltern aber hielten am Hochdeutsch auch gegenüber den plattdeutsch Redenden fest. Übrigens fand der gewöhnliche Dorfklatsch in unserem Kreise kaum eine Stätte, das verbot nicht nur die Teilnahme der Dienstmädchen am Tisch, sondern vor allem die feine Art meiner Eltern.

Höhepunkte des Jahres waren die drei großen christlichen Feste und Gipfelpunkt natürlich das Weihnachtsfest. Es war, als ob diesen Festen aus der mühseligen und bescheidenen Lebensführung des Alltags ein ganz besonderer Glanz zuwüchse. Alles, was Sage, Brauchtum und Überlieferung damit verknüpfen, gedieh in der Lebensluft unseres Elternhauses zu lebendiger Frische und erregte mächtig Gefühl und Seele von Groß und Klein. Die Mutter aber entfesselte an solchen Tagen ihre hohe Kochkunst und legte in all das Backen und Braten die ganze Liebe, deren sie fähig war.

Blicke ich zurück, so drängt sich mir die Frage auf die Lippen: wie haben nur die Eltern das alles schaffen können? Und sind doch innerlich freie, zufriedene und glückliche Menschen gewesen? Es war nur möglich durch eisernen Fleiß, strenge Selbstzucht, völlige Selbstlosigkeit und restlose Hingabe an ihr Werk und an ihre Kinder. Ferien, Freizeit, Geselligkeit im heutigen Sinne gab es nicht. Nur mit der Familie unseres alten Lehrers wurden hier und da Abendbesuche bei Tee und langer Pfeife ausgetauscht. Wirtshausbesuche oder Teilnahme an den Festen der dörflichen Vereine verschmähte mein Vater. Die Mutter hatte wohl einst als junges Mädchen in Kassel das Theater besucht und erzählte uns gelegentlich auf unser Drängen von "Gott und der Bajadere", die sie einst dort gesehen hatte – aber das waren blasse Erinnerungen; einen auch nur entfernten Ersatz irgendwelcher Art gab es in Adorf nicht.

Meine Eltern waren fromme Menschen, aber keine Kirchenchristen. Zwar nahmen sie alljährlich das Abendmahl, auch noch auf ihrem letzten Krankenlager. Aber den sonntäglichen Gottesdienst besuchten sie selten, anfänglich wohl, weil auch am Sonntagmorgen viele Laden- und Färbereikunden abzufertigen waren (die gesetzliche Sonntagsruhe gab es ja noch nicht), später auch, weil sie die Kellerluft der ungeheizten alten Kirche fürchteten. In vorgerückten Jahren lasen sie aber in der Stille des Sonntagnachmittags gern in der schön gedruckten Bilderbibel, die ihnen Bruder Ludwig geschenkt hatte, oder in einem guten Predigtbuch von Gerok oder Kögel.

Die ganze Lebensführung meiner Eltern stand unter dem Zeichen der Selbstlosigkeit: alles für die Kinder und darüber hinaus noch für manchen, der in Not war. Aber obwohl sie genau wußten, wie schwer das tägliche Brot erworben werden muß und wie hoch die Sicherung des äußeren Daseins zu bewerten ist, galt ihnen der Erwerb um des Besitzes willen wenig und war ihnen knauserige Gesinnung völlig fremd. Als sie den für ihre soziale Lage ganz ungewöhnlichen Entschluß faßten, ihre beiden ältesten Söhne auf die höhere Schule zu schicken, leitete sie die von der Mutter später wiederholt ausgesprochene Überlegung: Richtiger, als ihnen ein paar tausend Mark zu hinterlassen, ist es, ihnen eine gute Schulbildung zu geben. Am erstaunlichsten aber erscheint es mir, daß der Vater noch im Alter von 63 Jahren sich entschlossen hat, mich, seinen Jüngsten, das Gymnasium besuchen zu lassen. Man muß sich die Enge der Verhältnisse und die Kleinheit des Einkommens nur richtig vorstellen, um zu ermessen, was ein solcher Entschluß auf dieser Altersstufe bedeutete.

Mein Vater, mittelgroß und von schlanker Gestalt, war Zeit seines Lebens nicht sehr kräftig gewesen, und es hatte wohl immer der steten liebevollen Fürsorge der Mutter bedurft, um ihn den Anstrengungen seines Tagewerks gewachsen sein zu lassen. Am 14. 11. 1903 ist mein Vater im 78. Lebensjahre heimgegangen. Auch ich konnte an seinem Sterbebette stehen, und nie werde ich den Eindruck unendlichen Friedens vergessen, der von ihm ausstrahlte, als er den letzten Seufzer getan hatte.

Die Mutter war damals 65 Jahre alt. Sie litt seit meiner Geburt an bösem Rheumatismus, auch quälten sie häufig sogenannte Brustkrämpfe asthmatischer oder anginahafter Art – kein Wunder bei ihrer unendlichen Mühsal. An Schonung, gründliche Ausspannung oder gar den Besuch eines Bades hat sie nie gedacht. Nun aber, als nach dem Tode des Vaters mein Bruder Wilhelm mit seiner jungen Frau Hauswesen und Geschäft übernahm, kam auch für die Mutter endlich die wohlverdiente Ruhe. Sie war um so notwendiger, als sich bei ihr im Jahre 1897 ein schweres Augenleiden herausgebildet hatte, das etwas später zur Entfernung des einen Auges zwang und gegen Ende ihres Lebens zur fast völligen Erblindung führte. Ihre Schwester und ihr Schwager haben die schöne Aufgabe übernommen, in ihrem Heim – erst in Wildungen, später in Hofgeismar – der Mutter ein würdiges Altenteil zu bereiten.

Am 20. 11. 1920 ist sie 82jährig in Hofgeismar an den Folgen eines im Zimmer erlittenen Oberschenkelbruchs gestorben, bis zur letzten Stunde liebevoll sorgend und klaren Verstandes. In Adorf haben wir sie drei Tage später zu Grabe getragen.
 
Ein ganz kostbares und berührendes Zeitzeugnis!!

Es erinnert an Lesebuchgeschichten wegen der Wortwahl, manche sind heute gar nicht mehr gebräuchlich, viele Situationen gibt es ebenfalls nicht mehr… vermutlich hat man so geschrieben, wie man es gelesen hat. ich denke, das war zu dieser Zeit die ganz normale Ausdrucksform. Ist nicht auch die eigene Ausdrucksweise oft ein wenig eingefärbt von irgendwelchen Lieblingslektüren?

Idealisierend wäre, alles schön zu reden, aber vielleicht hat man das damals alles so empfunden, sein Leben auf genau die beschriebene Weise verbracht. Dass es nicht leicht war, leugnet er nicht. Das Jammern darüber „fehlt“, vermutlich wußte man, dass Probleme auch normal sind.

Da wurde wirklich unendlich viel geleistet mit Betrieb und 8 Kindern und scheinbar haben diese Eltern so ziemlich alles richtig gemacht. Ich finde den Bericht „liebevoll sachlich“ geschrieben. Vielleicht komm ich jetzt auch ins Polemisieren ;), aber ich lese es so und sicher noch einige Male.

Übrigens: Verstorbene haben wirklich ein friedliches Gesicht, auch das hat er nur „beschrieben“.
 
Es erinnert an Lesebuchgeschichten wegen der Wortwahl ... Idealisierend wäre, alles schön zu reden
Ich habe ja meinen Großvater noch kennen (und fürchten) gelernt. Wenn er etwas schrieb, so sollte es "beispielhaft" sein; es sollte den Nachkommen Ehrfurcht vor unseren Altvorderen beibringen etc. Dazu war natürlich eine realistische Darstellung der Lebensbedingungen, die zu bewältigen waren, nötig. Auch meine Großmutter – seine Frau – hat über ihre Eltern und Großeltern geschrieben. Sie war eine ganz andere Persönlichkeit, und ihre Schilderung ist völlig anders (abgesehen davon, daß sie wirklich aus einem ganz anderen Milieu kam).
 
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