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Reise nach Estland

Rabenweib

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Meine Reise nach Estland/ Tallinn , August 2003

Am 26. August bin ich mit meinem damaligen Freund vom Flughafen Wien- Schwechat aus über Helsinki nach Tallinn/ Estland geflogen. Wo andere in den Süden fliegen um wie die Grillhühner am Strand in der Sonne zu braten, lesen wir im Teletext von höchstens 15 Grad in Helsinki... Bibber...
Unser erster guter Eindruck vom Zwischenstop in Helsinki war der schöne Holzboden und die riesigen hellen Glasfenster am Flughafen, die zusammen eine gedämpfte, ruhige, heimelige Stimmung machten, der Flughafen war klein und übersichtlich, es empfingen uns freundliche, offene, aber etwas distanzierte (hauptsächlich blonde) Menschen, und später ist uns aufgefallen, daß wir die einzigen waren, mit kurzärmeligen Hemden und kurzen Hosen. Alle anderen trugen Pullis und Jacken. Da wir nicht nach draußen kamen, wurde uns erst da bewußt, daß es draußen wohl ziemlich kalt sein musste. Wir sind bei etwa 38 Grad fortgeflogen und in Helsinki hatte es wie gesagt 15 Grad- glücklicherweise spürten wir noch nichts davon, solange wir uns im Flughafen aufhielten.

Der Grund unserer Reise war ein Besuch bei einem lieben Freund, nennen wir ihn A., der mich einige Tage zuvor wieder mal telefonisch fragte, wann ich ihn endlich besuchen kommen würde. Natürlich musste ich bisher absagen, ich konnte schlecht meine Kinder alleine lassen, hatte meistens kaum Geld und alleine wäre ich ohnehin nicht geflogen. Also sagte ich auch diesesmal ab.
Als ich auflegte und meinem Freund erzählte, daß A. mich wieder mal eingeladen hätte, sagte er spontan: "Na dann fliegen wir!"
Ich dachte nach, eigentlich war die Idee nicht so blöd, endlich hatte ich eine Reisebegleitung, mein Freund hatte noch Urlaub, die Kinder hatten Ferien, ich hatte etwas Geld auf einem Bausparer und A. wurde nicht gefragt, er hatte mich ja schließlich auf die Idee gebracht.
Ich schaute also im Teletext nach der Flughafen- Telefonnummer, rief in Wien an und erkundigte mich nach den Preisen für die Tickets. Gleich wurde ich wieder runtergeholt von meinem Traum, pro Person hätten wir über Frankfurt 1075 Euros bezahlen müssen.
Ich rief bei meiner Flug- erprobten Mutter an und fragte, ob sie etwas wisse, wo man billigere Flüge kriegt. Und wenig später die gute Nachricht am Handy: die Telefonnummer der Restplatz- Börse.
Als ich dort anrief wurde mir gesagt, daß am 26. August noch zwei Plätze nach Tallinn frei wären- mit Umweg über Helsinki würden uns beide Plätze zusammen hin und retour 780,- Euros kosten. Na, das hörte sich doch schon besser an.
Ich buchte einfach auf gut Glück zwei Tickets- ohne zu wissen, wer mir auf die Kinder schaut. No risk, no fun.
Aber wenn etwas sein soll, dann klappt auch alles, M.- mein Ex- Mann konnte sich Urlaub nehmen und erklärte sich dazu bereit, die Kinder für eine Woche zu nehmen und dann zu meiner Mutter zu bringen.
Und meine Mutter erklärte sich bereit, mit meinen Kindern den ersten Schultag abzuwickeln, denn ich konnte erst am 1. September wieder zurückfliegen, wenn ich den billigsten Preis wollte- und den wollte ich zweifellos.
Ich hinterließ eine Nachricht auf A.`s Anrufbeantwoter, daß ich so gut wie unterwegs sei.

A. ist Konsul, der zu dieser Zeit auf der Botschaft in Estland arbeitete und etwa 47 oder 48 Jahre alt ist, viele Jahre auf der Jugendwohlfahrt in Österreich gearbeitet hat, dann jeweils vier Jahre in Cuba, Peru, Pakistan, Bulgarien, Lettland und jetzt eben Estland verbracht hat.

In Estland angekommen holte uns A. vom Flughafen mit einem Taxi ab und wir fuhren erstmal zu ihm nach Hause.
"Nach Hause fahren", das bedeutet, in die Stadt rein, an alten Sowjet- Bunkern vorbei, an modernen "architektonisch wertvollen" spiegelnden, riesigen Glasgebäuden vorbei, an kleinen Holzhütten vorbei, an Häusern die aussehen, als wären sie gerade eben erst von den Sowjets beschossen wurden, an denen der Anstrich bröckelt, die Fenster eingeschlagen sind und russische Graffittis an die Hausmauer gesprüht wurden, alles vernagelt und unbewohnt.
Ich habe die Ex- DDR nie gesehen, aber so stellte ich sie mir vor: Autos aus dem Jahre Schnee, Modelle von Fiat, die ich bei uns seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen habe, graue Strassen, graue Gebäude, sogar die Stewardessen auf unserem Flug von Helsinki nach Estland sahen aus wie Dominas, und ich traute mich nicht zu fotografieren, weil sie schwarze Lederhandschuhe zu grauen knappen Uniformen trugen, die Haare straff nach hinten gebunden und ich Angst hatte, sie würden die Peitschen rausholen, wenn ich sie ungefragt fotografieren würde. Mein Freund und ich lachten uns schief, als wir darüber phantasierten, was mit uns passieren würde, wenn wir etwas falsches machen würden. Die Stewardessen würden uns an den Haaren durch das Flugzeug schleifen und und schlagen, danach an einen der Sitze fesseln mit einem Schild um den Hals: "DAS!SOLLST"DU!NICHT!TUN!"
Außerdem hatte das Flugzeug innen grün- weiße – ziemlich psychedelische- DDR- Muster- Tapeten. (So stelle ich mir jedenfalls Tapeten aus der Ex- DDR vor)
Wir wollten schon auf dem Flug nach Estland am liebsten wieder nach Hause... - das Flugzeug hatte Propeller an den Seiten und die Landung war etwa so, wie wir uns das vorgestellt hatten mit diesem Ding- ziemlich unsanft... Aber wir hatten Glück, die Stewardessen hatten uns am Leben gelassen.

Naja, als wir dann an A.`s Wohnungstür ankamen und er begann, zwei Türen, mit jeweils zwei Schlössern zu öffnen, und danach an einer piepsenden und blinkenden Alarmanlage einen vierstelligen Code einzugeben, staunten wir nicht schlecht.
Er erklärte uns alles genau, denn wenn wir irgendetwas falsch machen würden, dann würden innerhalb von wenigen Minuten mehrere bewaffnete Männer dastehen und uns genauer unter die Lupe nehmen, weil sie von einem Einbruch ausgehen, was nicht selten wäre in Tallinn.
Wenn wir den Code nicht innerhalb von 15 Sekunden richtig eingegeben hätten, dann hätten wir sofort die zwei Katzen einfangen und wegsperren müssen, weil zusätzlich zu den Rauchmeldern und abgehörtem Telefon und eventuellen Wanzen auch noch Bewegungsmelder in der Wohnung seien.
Nein, da wird man gar nicht nervös beim aufsperren. Wir einigen uns darauf, daß die Alarmanlage während unseres Besuches einfach ausgeschaltet wird...

In der ersten Nacht werde ich dreimal von Alarmsirenen geweckt, ich horche wie ein Luchs, ob es von der mehrfach gesicherten Wohnungstüre kommt, will schon A. wecken, stelle dann aber etwas beruhigt fest, daß es nur von aufgebrochenen Autos in der Strasse vor dem Haus kommt und höre dann auch das nervtötende Geräusch der "POLITSEI- Autos" nahen. Ich schlafe wieder ein.

Am nächsten Morgen weigert sich mein Freund, mit mir aus der Wohnung zu gehen, er hat Angst vor dieser komischen Stadt- wir haben beide kein besonders gutes Gefühl, aber meine Neugier siegt und in Begleitung von A. traut er sich nach langem überreden dann doch raus.
Wir gehen in die Stadt und sehen uns zuerst die Botschaft und A.`s Arbeitsplatz an, der ebenso wie die Wohnung durch Alarmanlagen, Kameras und so weiter gesichert ist, und gehen danach weiter in die wunderschöne Altstadt, die total mittelalterlich ist. Eine Stadtmauer mit alten efeubewachsenen Steintürmen und Holzbalken umgibt den Stadtkern, innerhalb dieser Stadtmauer ist Touristengebiet. Hier ist alles mit großen Bachsteinen gepflastert und wer keine Bergschuhe trägt hat spätestens nach drei Tagen eine Zerrung.
Das Touristengebiet ist wunderschön renoviert und von teuren Souvenirläden gesäumt, an jeder Ecke Maler die ihre Bilder verkaufen, Galerien, Museen, Cafehäuser und Restaurants mit deutschen Namen, Marktstände mit gestrickten Pullovern, Jacken, Handschuhen und gefilzten Hüten, Antik- Läden, Strassenmusikanten, Möwen, usw.... Es ist wirklich wunderschön dort, wenn man mal davon absieht, daß einige Museen oder Klöster so gruselige Zustände in mir wecken, daß ich Gänsehaut und Magenschmerzen bekomme, weil zum Beispiel das heutige Fotomuseum früher ein Kerker war, oder weil am Marktplatz noch der Galgenplatz sichtbar ist, oder weil in den Kirchen Bilder hängen die zum Beispiel "der Totentanz" heißen, sowie uralte riesige Holz- Wappen, geschnitzt und vergoldet, alte Silberschätze, usw... Alles ist düster und in jedes Cafehaus muß man in den Keller runtergehen, überall führen Stufen runter in die Geschäfte, teilweise sind die Wände der Restaurants gleichzeitig die Stadtmauer, überall sieht man Engelfiguren aus Ton, die aussehen, wie verwandelte arme Seelen, die früher hier umgekommen sind und heute als Tonengel herumschweben...
Als ich in einem Hinterhof eine Galerie entdecke, die ein ehemaliges Kloster war, sehe ich neben der Eingangstüre zur Galerie eine geöffnete Falltüre, die in einen düsteren Keller führt.
Ich bekomme Gänsehaut und wieder mal siegt die Neugier und ich gehe runter.
Als ich das Licht einschalte und durch ein dunkles, nach Moder riechendes Kellergewölbe gehe, rieche ich eindeutig TOD. Ich sehe mich kurz um, sehe eine riesige Sammlung von Laternen und Lampen die aussehen wie von alten Kutschen, einen großen Holztisch mit Federkielen, halte es dann nicht mehr aus, drehe am Absatz um und laufe wieder hinauf ins Freie.
Es schüttelt mich vor Ekel und ich gehe grinsend zu meinem Freund der sich inzwischen in der Galerie umgesehen hat um ihm meine Entdeckung zu erzählen.
Er geht dann auch in den Keller runter, kommt auch kurze Zeit später wieder rauf und fragt mich ziemlich angewidert: "Hast Du die Skelette gesehen? Da unten riecht es nach Tod."
Ich schaue ihn forschend an, ob er mich verarschen will, aber er meint es ernst. Da unten sind Skelette.
Ich hab sie Gott sei Dank nicht gesehen.

In den Sovenierläden wurde hauptsächlich Bernstein verkauft, Schiffe aus Bernstein, Schmuck aus Bernstein, Schachbretter aus Bernstein, Bäume aus Bernstein, alles mit Überwachungskameras und Begleitpersonen (Verkäuferinnen die nicht von der Seite weichen ) gesichert.
Außerdem massenweise "Matrioschkas" (russische Holzpuppen die in sich weitere immer kleiner werdende Holzpuppen tragen, jede mit feinsten Pinselstrichen handbemalt.)
Üblicherweise werden diese Puppen bei uns "Babuschkas" genannt, mir wurde aber erklärt, wenn ich einen russischen Verkäufer nach einer Babuschka fragen würde, würde er mir seine Großmutter bringen. Matrioschka aber heißt "Mütterchen" und die Puppen tragen eben viele Kinder in sich.
In Regalen aufgereiht, hunderte nebeneinander, und sogar welche mit sehr originellen Motiven wie Osama bin Laden, George Bush, Winnie Pooh, Putin, usw....
Es wird schwer für mich eine Entscheidung zu treffen, ich möchte unbedingt eine bunt bemalte, russische Puppe kaufen, die großen sind aber sehr teuer und ich finde schließlich in einem Antikladen eine billige, die nicht bemalt, sondern gebrannt wurde, und vergoldet. Ein wunderschönes rotbackiges Gesicht, darunter die vergoldeten Kuppeln einer russischen Kirche auf den Bauch gebrannt, Blumenmuster, - wunderschön und etwas ungewöhnlicher als die anderen Puppen. Dazu sind die Preise im Antikladen wirklich vernünftig und der Verkäufer freut sich richtig, daß ich bei ihm eingekauft habe und nicht in den teuren Touristenshops. Von da an schaue ich mir einige Antikläden an und bin begeistert von den überfüllten Räumen, in denen man von russischen Samovars bis zu Grammophonen und Tubas, Bernsteinschmuck und Lenin- Anstecknadeln alles findet- zu relativ günstigen Preisen.

Die Preise in den Restaurants und Cafehäusern sind reinster Wucher, und zu Dutzenden traben Touristen hinter einer Kapellmeisterin her, die mit einem numerierten Schild in der Hand vor der Herde herläuft und die Sehenswürdigkeiten beschreibt.
Es freut mich jedesmal wieder, wenn ich eine neue Gasse entdecke, oder einen Glasbläser, dem ich zusehe, wie er arbeitet, eine Glaserei, in der man zusehen kann, wie die Arbeiter die Glas- Mosaikfenster für eine Kirche herstellen, oder eben auch Keller in denen der Tod lauert. ;-)

Dazwischen verkaufen mittelalterlich gewandete Studenten geröstete Mandeln mit Zimt und Zucker, und wir beobachten auf den Strassen die ausgeflippten Russen- Teenies mit ihren bunt- gekringelten Kniestrümpfen zu sehr gewagten modischen Ausrutschern, blonde Matrosen in ihren Anzügen, Touristenschafe, und schwedische blonde Modeltypen, sowie russische und estnische Frauen, die überstylt und in spitzen Stöckelschuhen ohne sich die Hufe zu brechen auf den uralten Pflasterwegen herumstöckelten.

Die Menschen in Tallinn sind wunderschön, ich hab noch nie so viele schöne Leute gesehen, gestylt, schlank, schöne Figuren, schöne Haare, und meistens auch gar nicht eingebildet oder überheblich wie bei uns, sondern richtig freundlich und nett und mit super Ausstrahlung.
Es scheint außerdem alles in Frauenhand zu liegen, Frauen fahren die Busse, die Strassenbahen, Frauen verkaufen in den Geschäften, Frauen servieren in den Restaurants.

Als wir eines Tages auf dem Weg zurück zur Wohnung sind,werden wir plötzlich von Polizisten auf die andere Strassenseite gescheucht. Wir verstehen nichts, estnisch ist so unverständlich für mich wie japanisch oder alt- ägyptisch. Ich kann weder Speisekarten noch Straßenschilder lesen.
Alles ist abgesperrt. Ich gehe also auf die andere Seite und schaue, was die Schaulustigen da so beobachten. Ich sehe einen Roboter, der sich mit seinem Greifarm auf eine Schuhschachtel zubewegt.
Da neben mir ein Zeitungs- Reporter unentwegt Fotos schießt, beginne auch ich ohne nachzudenken zu fotografieren. Ich ahne in diesem Moment noch nicht, was ich da überhaupt fotografiere.
Erst als mein Freund mich ruft, daß ich weitergehen soll, denke ich darüber nach, was das Ganze zu bedeuten hat und überlege noch bei mir, daß in der Schachtel vielleicht eine Bombe sein könnte- ich stand in dem Moment etwa 10 Meter davon entfernt.
Ich habe dann noch gelacht und gesagt: "Geh bitte, das wird doch nicht wirklich explodieren!"
Ich hörte noch von weitem wie A. und mein Freund gleichzeitig nach mir riefen und sich hinter einem Bus versteckten.
In dem Moment gab es einen riesigen, lauten Knall und die Schachtel explodierte doch. Erschrocken zuckten die Leute rundherum zusammen, ich sah noch wie A. sich duckte...
Hätte jemand die Schachtel aufgehoben oder berührt, hätte zumindest die Hand gefehlt, oder er hätte das Augenlicht verloren...
A. sagte zu Hause noch: "Ich hätte tausend Schillinge verwettet, daß da keine Bombe drin ist!"
Zuerst wurde vermutet, daß die Mafia dahintersteckt, später war die offizielle Meldung, daß ein Arbeitsloser damit Geld von der Bank erpressen wollte.

Die Kriminalität ist in Tallinn für mich ständig spürbar.
Auch an A.`s Arbeitsplatz in der Stadt ( österreichische Botschaft) erreicht man ihn nur mit doppelt verriegelten Türen und Kameras und Alarmanlagen mit Sicherheits- Code.
Als ich einmal per Spaß die Schaufenster auf der gegenüberliegenden Strassenseite fotografierte- von A.`s Balkon aus- da rief er aus der Küche rüber: "Bist Du wahnsinnig? Mach keine Fotos vom Balkon, die glauben Du bist ein Spion und die werden jemanden von der Mafia zu uns schicken und uns erschießen lassen!"
Ich hab mich halb tot gelacht darüber- für mich ist das wie ein Witz aus einem Fernsehfilm...
Eines Tages als ich aus dem Fenster schaute sah ich auf der Strasse einen großen, nagelneuen "Ami- Bus" stehen, wie man sie aus den amerikanischen Gangsterfilmen kennt, die vor einem Haus stehen und alles abhören.
Als ich H. darauf aufmerksam mache schaut er aus dem Fenster und sagt nur: "Oh, Olga und Wladimir hören mit!" Und etwas später erzählt er mir lachend, daß er am Telefon immer ein Klicken hört, wenn er deutsch oder englisch spricht, dann weiß er, daß er abgehört wird. Fängt er dann aber türkisch zu sprechen an, klickt es nochmal, er sagt, daß "Olga und Wladimir" dann aufgeben, weil sie die Sprache nicht verstehen.
Ich weiß jedenfalls nicht sicher, ob das alles ernst gemeint ist, aber die Bombe hat mir doch etwas zu denken gegeben.

In Tallinn habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen großen Hafen gesehen, mit großen Eisbrecher- Schiffen und Passagierschiffen, sowie vielen Möwen und zum ersten Mal hab ich "kaltes Meer" gesehen. Ich war schon sehr fasziniert, es hat was rauhes, aber sehr frisch und mobilisierend, während heiße Länder mich eher träge machen.
Naja, vielleicht hatte ich einige Pullover zu wenig mitgenommen, denn A. erzählte von Traumtemperaturen am Telefon und dann war`s doch ziemlich schnell Herbst - regnerisch und kalt und ich hatte eigentlich nur kurze T- Shirts und Röcke eingepackt- letztendlich musste ich mir Jacken und Schirme und Pullover ausborgen, sonst wäre ich elendiglich erfroren in Estland...

Als ich zum ersten Mal in die russische "Alexander- Newskij- Kathetrale" ging, die mitten in der Altstadt mit ihren wunderschönen Kuppeln und Bögen wie aus Zuckerguss auf einem Hügel oben thront, hab ich fast geheult, weil ich so überwältigt war von dieser Schwere und Melancholie und von der Stimmung da drin.
Ich war JEDEN TAG dort, obwohl man fast eine halbe Stunde gehen musste um sie zu erreichen, und wir teilweise ja den ganzen Tag rumgelaufen sind- trotzdem konnte ich nie auf "meine" Kirche verzichten. Ich hab sehr viel Zeit da drin verbracht, hab mir die alten russischen Mütterchen mit ihren bunten Kopftüchern angeschaut, hab den alten bettelnden Frauen etwas Geld gegeben, habe Kerzen angezündet und sie zu den wunderschönen Ikonenbildern gestellt. Ich konnte eine Beichte beobachten, die ganz anders als bei uns verlief, alles roch nach Weihrauch, die Leute standen in einer Schlange vor dem Pfarrer irgendwo hinter uns sang ein Chor in russischer Sprache, und gebeichtet wurde, indem sich der Beichtende und der Pfarrer, in eine Ecke stellten und miteinander flüsterten. Alles war so fröhlich und locker und offen und im Gegensatz zu der Schwere der prunkigen Kirche schienen die Menschen sehr "leicht" zu sein.
Die Kinder turnten währenddessen vor dem Altar herum- und ich saß nur da und bestaunte die wunderschönen Malereien, Ikonenbilder, goldgeschmückte Gegenstände, die hellblaue Kuppel hoch über mir mit den goldenen Sternen, und die vielen Menschen, die zu jeder Tageszeit völlig ungezwungen und aus ganzem Herzen in die Kirche strömten, und betend, küssend und sich verneigend alle Ikonenbilder abklapperten, Kerzen anzündeten, usw...

Hier laufen die Leute den ganzen Tag ein und aus. A. erzählt mir von gregorianischen Chören, die wunderschön singen sollen und von Messen, bei denen der Pfarrer nicht zu den Leuten spricht, sondern mit dem Rücken zum Volk MIT ihnen zu Gott spricht.
Ich wollte am liebsten dort bleiben, in der Kathetrale fühlte ich mich seltsamerweise total geborgen und sicher, obwohl ich gehört hatte, daß erst vor einem Monat jemandem vor der Kathetrale die Kehle durchgeschnitten wurde- außerdem befindet sich direkt neben der Kirche der Schwulenstrich, und auf der anderen Seite der Heterostrich, wo es Nachts auch nicht gerade ruhig zugehen soll.

Ich hab später ein gemaltes Bild von der Kathetrale mit nach Hause genommen, sowie einige kleinere Ikonenbilder und ein kleines Bild von meiner Namenspatronin Sophia, von der sich mein russischer Name Sonja ableitet.

Als wir an einem etwas kälteren Tag durch die Stadt wandern, höre ich plötzlich einen sehr schönen Ton, vielleicht von einer Maultrommel, vielleicht von einer Flöte- jedenfalls schnappte ich meinen Freund an der Hand und rannte dem Ton hinterher, weil ich unbedingt wissen wollte, woher er kommt und weil ich am ganzen Körper Gänsehaut bekam davon- weil er sich so wunderbar anhörte...
Als wir dann mitten am Marktplatz standen, sahen wir, daß eine Bühne aufgebaut war, auf der einige sehr mongolisch aussehende Menschen ein Theaterstück aufführten.
Es waren Jakutten. (Ein Teil Russlands , der ober China und der Mongolei liegt und sich " Jakutische autonome sozialistische Republik" nennt)
Ihr Theaterspiel war ganz ganz toll, wir haben sehr viel gelacht, obwohl wir ihre Sprache nicht verstanden haben- die Mimik war gut genug um alles zu verstehen.
Dazwischen gab es Tänze und Trommeln, es fühlte sich alles sehr schamanisch an und hatte sehr viel Power, die Musik machte Gänsehaut...
Begeistert saßen wir mehr als eine Stunde mit vielen anderen Leuten am Boden vor der Bühne, machten Fotos, bewunderten die schönen schamanisch aussehenden Kostüme, lachten über die lustigen Gesichter und die lustige Sprache, und vergassen die Welt um uns herum.
Zum Schluß wurden verschiedene Leute aus dem Publikum geholt und durften mit den Schauspielern auf der Bühne verschiedene Spiele und Wettkämpfe machen, dabei lachte mein Freund so laut über die anderen, daß schließlich eine der Frauen auf ihn aufmerksam wurde und auch ihn auf die Bühne holte.
Er musste mit einem Band um den Kopf versuchen, seinen Gegner, der das Band ebenfalls um seinen Kopf geschlungen hatte über eine imaginäre Linie zu ziehen und bestand das Spiel mit Bravour.
Er bekam ein Plakat als "Dankeschön" und danach tanzten wir noch zusammen im Kreis und verabschiedeten uns alle mit einem Lächeln und Händeschütteln.

Einige Tage vor unserem Rückflug haben wir noch einen Kaufrausch- Nachmittag in der Altstadt absolviert, mein Freund kaufte sich einen Bernstein- Klunker- ein wunderschönes Armband aus riesigen Steinen, (die sind übrigens in Estland extrem billig im Vergleich zu uns), ich kaufte mir in einem Thai- Shop einen bestickten Wandteppich mit Spiegeln, den ich nur gefunden habe, weil uns der Duft von Räucherstäbchen in einen Hinterhof zog, in dem wir schließlich den Treppen- Abgang in den Keller zu diesem Geschäft entdeckten.
Da ich zu diesem Zeitpunkt kein Geld mehr hatte und mein Freund eine Kreditkarte mithatte, machte ich einen Sitzstreik mitten auf der Strasse, ich behauptete einfach ich würde nicht mehr weg gehen, bis ich diesen wunderschönen Wandteppich hatte. (Das Geld gab ich ihm nach dem Urlaub wieder zurück).
Der Sitzstreik hat auch nur eine halbe Stunde gedauert, dann hatte ich den Teppich- er hängt heute noch in meinem Wohnzimmer.
Danach gingen wir mal essen, als wir endlich ein billiges amerikanisches Lokal entdeckt hatten stellte ich fest, daß die Hühner dort wie dreimal gekocht und schon einmal gegessen schmeckten- EKELHAFT!!!
Oh, wie freute ich mich auf zu Hause, auf die gute österreichische Küche. Auf knusprige Hühnerflügel und Kaiserschmarrn, Germknödel und Wiener Schnitzel.
Das Einzige, was mir in Estland wirklich geschmeckt hat, war getrocknetes Schwarzbrot mit Knoblauch, das man im Supermarkt dort kaufen konnte und wie Chips essen konnte.
Am Sonntag entdeckten wir dann in einer etwas abgelegeneren Strasse noch eine weitere russische Kirche, die zwar etwas kleiner war, aber trotzdem schön. Die "Zar Nikolai- Kathetrale". Wieder saß ich staunend einige Minuten drin und ließ den Prunk auf mich wirken.

Am Freitag vor dem Abflug war ich alleine unterwegs, ich wollte zum Strand, wollte die Schiffe im Hafen fotografieren, die Meerluft einatmen und den Möwen zusehen. Am Strand entdeckte ich dann eine große Engelsfigur mit dem goldenen typisch russischen Kreuz in der Hand. Auf mein Nachfragen erfuhr ich, daß Zar Nikolaus im Jahre 1878 diese Figur erbauen ließ, weil an der Küste damals ein Schiff kenterte und dabei 850 Seeleute ums Leben kamen. Allerdings ließ er den Engel nicht wirklich aus Mitgefühl bauen, sondern um ein russisches Zeichen zu setzen. Trotzdem- der Engel ist wunderschön und man sieht ihn schon aus der Ferne.
Ich gehe weiter und suche das Schloss "Kadrioru", das ein russischer Zar seiner Frau geschenkt hatte, als "Belohnung" für die vielen männlichen Thronerben, die sie ihm geshenkt hatte.
Das Schloss ist hinter einem riesigen Eichenpark und ich suchte lange, ehe ich es endlich entdeckte.
Und witzig war: Vom Schloss aus konnte man durch eine lange Allee direkt bis zum Engel und dahinter zum Meer sehen. Umgekehrt- vom Engel aus konnte man das Schloss nicht sehen, sondern nur Wald. Deshalb hatte ich auch lange gesucht und mich zuerst verlaufen.
Auch in die Newskij- Kathetrale ging ich nochmal, und am nach Hause- Weg schaute ich mir einige Aussichtspunkte nochmal an, die uns A. gezeigt hatte, um die Stadt von oben zu fotografieren- und um mir eines der Wacholderholz- Messer zu kaufen, die in Tallinn verkauft werden- genauso wie Spielzeug und alles Mögliche aus Wacholderholz, weil es eben viel Wacholder gibt da droben.

So, nun noch einige Worte zum Schluß- die estnische Flagge ist von unten nach oben weiß- schwarz- blau gestreift und die Bedeutung ist: Eine Schwalbe fliegt in den Süden ( weißer Bauch, schwarze Flügel, blauer Himmel)

Eigentlich wollen wir auch auf die Insel Saaremaa aber das ging sich dann doch nicht aus finanziell...

Als wir zurück in Wien aus dem Flugzeug steigen und durch die Flughafenhalle gehen, fühlen wir uns jedenfalls ziemlich erleichtert und fühlen uns wieder VOGELFREI, unbeobachtet und unkontrolliert, und LEICHT und freuen uns riesig, daß wir in einem so schönen Land wie Österreich leben, in dem man tun und lassen kann was man will im Prinzip, und daß mein Heimatort ein Dorf ist wo Kriminalität beinahe ein Fremdwort ist.

Sonja
 
und hier noch zwei bilder.
einmal eine haus-fassade in tallinn, und einmal der hauptplatz in tallinn.
 

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