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Heiligblutwallfahrt in Boxtel (5. Juni 1988)

Babel

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Als ich in Boxtel ankam, regnete es nicht mehr. Ich hängte mir den schon feuchten Schirm an den Arm und stellte mich an den Straßenrand.

Die Prozession begann mit zwei berittenen Polizisten, dahinter ging ein Junge mit einem Besen zum Aufkehren etwaiger Pferdeäpfel. Es folgte eine Trommel mit sehr tiefem Ton, dann kamen die „lebenden Bilder”.

Es fing an mit dem Sündenfall oder vielmehr mit der Vertreibung aus dem Paradies. Danach hörte ich lautes, sehr nachdrückliches Geschimpfe und dachte schon, irgendwas wäre nicht in Ordnung, sah dann aber, daß nicht mehr weit von mir der Kain den Abel erschlug. Das überraschte mich sehr. Nie hatte ich mir das so vorgestellt wie bei den homerischen Helden, die sich vor dem Kampf beschimpfen. Wer mag wohl das Gezeter getextet haben, da es ja nicht in der Bibel steht?

Kain schritt in tragischem Ernst weiter (hätte er es nicht mehr „unstet und flüchtig” tun sollen?!), Abel blieb auf der Straße kauern. Ein dreijähriger Junge neben mir fing an zu heulen; der Vater nahm ihn auf den Arm. Nachfolgende Minigruppen kamen und machten den nötigen Bogen um Abel. Der stand nach einiger Zeit auf und schritt, ein bißchen schneller als die Minigruppen, um irgendwo weiter vorn Kain einzuholen und sich von neuem beschimpfen und erschlagen zu lassen. Der Kleine neben mir (er stand mittlerweile wieder auf seinen Beinchen) wurde ganz aufgeregt und rüttelte an Papa mit allen Anzeichen des Nichtverstehens. Er ist auferstanden! Sicher kennt das Kind Leichen aus dem Fernsehen und weiß, daß sie nicht wieder auferstehen. Was geht in so einem Kinderkopf vor? Man sah dem Kerlchen richtig an, wie sich langsam der Schreck wieder in nichts auflöste.

Auch andere Figuren sprachen; Propheten sagten ihre Prophezeiungen auf oder lasen sie vor. Dann war der biblische Teil zu Ende, es folgte der historische, also die Geschichte der Heiligblutwallfahrt.

Es ist eine einfache und nicht gerade personenreiche Geschichte: Ein Priester namens Eligius schüttet am Altar versehentlich den Kelch mit Weiß(!)wein um, und siehe, die Altartücher kriegen Blutflecken. Auswaschen geht nicht; auf dem Sterbebett beichtet er es und rückt die bis dahin versteckten blutbefleckten Tücher heraus, die fortan verehrt werden. Es treten also auf: der Eligius, irgendein Landesherr, ein Papst (der die Wallfahrt genehmigt oder das Wunder beglaubigt hat, ich weiß es nicht so genau), dann verschiedene Gruppen Wallfahrer – alles eher stilisiert und vergleichsweise würdig, schließlich ist es eine Prozession geblieben und keine Volksbelustigung. Die Pilgergruppe „Landvolk” führt ein Eselein mit sich, darauf ein Kind.

Zuletzt kommt die Prozession, wie man sie kennt: uniformierte Herren mit Bruderschaftsfahnen, ein Gefährt mit einem riesigen Kreuz drauf; vier stämmige Mädchen tragen die Madonnenstatue auf dem üblichen Ding mit Stangen, es muß elend schwer sein, aber man kann halt die Jungfrau nur von Jungfrauen tragen lassen – wie soll man einer heiligen Dame zumuten, von Männern herumgeschleppt zu werden?

Es hatte ein bißchen zu regnen angefangen. Als erstes ein Windstoß; es regnete Kastanienblüten. Dann fing das Getröpfel an, Kinder quengelten, alte Frauen klappten ihre Stühlchen zusammen und verzogen sich. Vorläufig zog sich alles nur ein bißchen weiter zurück auf den Bürgersteig, unter die Gartenbäume.

Tapfer trappte eine Schar kleiner Mädchen in Weiß im Zug dahin. Es regnete nun richtig; wer keinen dichtbelaubten Baum gefunden hatte, machte den Schirm auf. Und dafür all die Mühe, daß die Prozession schließlich abgebrochen werden muß – bricht man Prozessionen ab? Im Zug folgte eine Gruppe von Männern mit Fahnen; die gingen schon nicht mehr weiter, standen im Regen, verständigten sich: Ja? Nein? Alles rennet, rettet, flüchtet auf den Bürgersteigen, schon laufen die ersten Leute quer über die Straße, zwischen den an der Prozession Beteiligten durch.

Und dann kommt eins dieser unscheinbaren Ereignisse, für die sich so ein Unternehmen, so eine Sonntagsfahrt fürs Leben lohnt, und um deretwillen es gut ist, allein zu sein und sein Tagebuch allein für sich zu haben; wer würde sowas auch mit einem teilen, nicht lachen, nicht den Kopf schütteln?

Das Ereignis war eine Trommel. Nicht die tiefe, dumpfe zu Anfang, sondern eine helle, schnell und rhythmisch geschlagen, gewirbelt. Und ich, die ich die ganze Zeit geschwankt hatte: zurück? hierbleiben, wo’s noch eine Weile halbwegs trocken bleibt? zur Kirche? zum Auto? was? wie?, ich dachte: Gott, das bißchen Regen, na und? Alle Nerven und Lebensgeister standen sozusagen wieder stramm. Um mich ließ das Gerenne nach; über die Straße lief keiner mehr. Die kleinen Mädchen, die Haare naß an den Kopf gepatscht, setzten sich brav wieder in Marsch. Die zwei Fahnenschwenker – die Fahnenseide pappte zusammen und hing zum Stoffstreifen zusammengeklatscht wie eine frischgewaschene Strumpfhose – die Männer also drehten die Fahnen einmal ganz um sich, so entrollten sie sich wieder, alle Umstehenden bekamen einen Extraregen ab, aber ich sah keinen, der auch nur zurückzuckte. Eine uniformierte Gruppe nahm wieder perfekte Aufstellung und marschierte los. Und ich begriff, wozu man in den Kriegen die Trommeln gebraucht hat und wie man die Männer dazu brachte, gegen einen Feind zu marschieren ...

Doch dann winkten zwei geistliche Herren ab und dirigierten alles zurück, und unter dem Gewirbel der Trommel zog sich die Uniformiertenschar mit ihren Fahnenschwenkern zurück in die Kirche.

Ich ging mit in die Kirche, bis es aufgehört hatte zu regnen; traf dort auch die Jungfrauen mit der Marienstatue und das (äußerst schäbige) Reliquiar mit dem hl. Blut wieder. Die Kirche war so voller Fahnen und Leute, daß kaum zu erkennen war, wie sie eigentlich aussieht.

Die Sonne kam den ganzen Tag nicht wieder. Von Adam und Eva, Kain und Abel, König David und den Propheten oder dem Priester Eligius sah ich nichts mehr; wo die wohl geblieben waren? Ich sah nur, als ich zum Auto ging, wie ein Mann das Eselein wegführte.
 
Sehr schön erzählt! :smi_klats
 
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