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Gesang in heißen Sommernächten

Babel

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Jetzt, in der Zeit der heißen Sommernächte, habe ich mich an eine alte Geschichte erinnert. Sie stammt aus den Jahren, als man noch Briefe schrieb. Um die Jahrtausendwende habe ich sie ein paarmal öffentlich gelesen, und jedesmal meinte jemand, sie beschreibe auf verwunderliche Weise etwas, das man heute von Internetbekanntschaften kenne ... Ich konnte dazu nichts nichts sagen, weil ich noch kaum wußte, was das Internet ist.
Da wir uns nun hier im Internet befinden ;), veröffentliche ich die Geschichte auf diesem Weg nochmal.



Gesang in heißen Sommernächten


I
Im Sommer war das Einschlafen oft schwer. Die Luft im Zimmer fühlte sich an, als habe man halbflüssigen heißen Gelee unter die schrägen Wände gepumpt. Die Mückengitter vor den Fenstern hielten die Mücken draußen, ließen die winzigen und genauso stechfreudigen Gnitzen aber durch. Dazu kam der schrille Lärm der Grillen, endlos wie die akustische Allgegenwart einer nahen Autobahn, nur eine Tonlage höher. Und immer dann, wenn diese drei Sommernachtskomponenten – Schwüle, Grillenchor und Juckreiz – durch Mondschein komplettiert wurden zu dem Zustand, den man „romantisch” nennt (oder ich müßte diesen Begriff völlig falsch verstanden haben), immer dann erhoben sich zum stundenlangen lyrischen Zwiegesang die Stimmen –
– nicht der Nachtigallen, wahrhaftig nicht. Sondern die Stimmen von Sierings Pinscher und Gehrkes Pudel.


II
„Pinscher meines Herzens!” heulte Gehrkes Pudel vom Rand der Terrasse aus, unterhalb des Gehrkeschen Badezimmerfensters, Augen und Maul himmelwärts aufgerissen. „Siehst du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen ...”
„Und ist doch rund und schön!” nahm auf Sierings Terrasse Sierings Pinscher den Gegengesang auf. „So sind gar manche Sachen, die alle getrost belachen, wir ausgenommen, die wir geboren wurden mit höheren Gaben und tieferem Empfinden, geboren, um zu leiden am Unverständnis dieser Welt ...”
„... wären da nicht jene Wenigen, die uns nahe sind, wie fern sie sein mögen: wärst da nicht du, Pinscher ...”
„... und, o Pudel, wärst da nicht du ...”, jaulte melodisch Sierings Pinscher, und Gehrkes Pudel fiel ein, und wie der Speichel aus seinen Lefzen, so triefte die Seele aus seiner straßen- und gärtenweittragenden Stimme.


III
Tagsüber begleiteten sie ihre Herren auf Wanderungen und ihre Herrinnen auf Einkaufsgängen. Sie kannten also die Welt und hatten sich ihre Meinung über sie gebildet. Sie hatten beide Charakter und nahmen an Beißereien grundsätzlich nur auf der Seite des Schwächeren teil, schüttelten sich anschließend, überdachten das Ereignis gewissenhaft unter Berücksichtigung aller Umstände, die es ausgelöst hatten, und aller für die Zukunft relevanten Folgen, die es zeitigen würde, wobei sie ihr Hauptaugenmerk auf die Bedeutung für ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung richteten. Nachdem sie zu der überlegen-distanzierten Haltung gegenüber dem Geschehenen gekommen waren, die sie so sehr an sich selbst schätzten, und nachdem sie beruhigt festgestellt hatten, daß die fellnahe Berührung mit der Wirklichkeit keine Flöhe auf ihrer Haut hinterlassen hatte, widmeten sie sich für den Rest des Tages vom Vorgarten aus der Betrachtung der Straßenpassanten durch den Gartenzaun hindurch und ihren Empfindungen hierbei. Nach Einbruch der Dunkelheit aber begannen sie wieder, diese auszutauschen.


IV
„Pinscher, lieber Pinscher! Wenn du von meiner Einsamkeit wüßtest! Abgründe trennen mich von den Hunden außerhalb meines Vorgärtchens (gar nicht zu reden von den Menschen!), sie mögen noch so freundschaftlich-schweifwedelnd ihre Schnauze durch den Zaun stecken! Wir beschnüffeln uns vorne und hinten, gewiß – aber was haben wir uns zu sagen?”
„Mein Pudel, ach! Wie gut verstehe ich deine Vorgartengefühle, sind auch meine eigenen anders: Ich sehe sie auf der andern Straßenseite an der Leine gehen, die Dackel, Dalmatiner, Bernhardiner und die Undefinierbaren; sehe sie ihren Herren gehorchen, freudig oder angstvoll eingekniffenen Schwanzes, sehe sie weit drüben und fühle mich doch bei ihnen, lieg ich selbst auch sicher auf dem geschorenen Rasen im Schatten meines Lieblingsrhododendrons! Alle Hunde sind meine Brüder, und selbst wenn es sie nicht gäbe, wären sie es – und dennoch: wie anders nah bist du, Pudel, mir!”
Und so besangen sie ihre geistige Nähe, bis sie erbebten vor Ergriffenheit über den Wohllaut ihres langgezogenen Geheuls und bis alle Nachbarn tief erbittert beschlossen, sich am nächsten Morgen bei Sierings und Gehrkes zu beschweren.
Indessen hatten es weder Sierings noch Gehrkes in der Hand, die seelische Wahlverwandtschaft ihrer Hunde zu beeinflussen. Und auch in den folgenden Nächten schien der Mond.


V
„Schöne Seele!” variierte Gehrkes Pudel seine lyrischen Beiträge zum Thema Nähe, „wie gern wär ich bei dir!”
Und Sierings Pinscher antwortete: „Süße Stimme aus dem Dunkel! Wie gern wär auch ich’s! Was jaulen wir hier getrennt auf unseren Terrassen? Stoßen nicht unsere Gärten aneinander? Nur ein paar Sprünge ...”
Und Gehrkes Pudel erschrak bis ans Herz. Denn eine schöne Seele kennen ist Gewinn, mit einem gewöhnlichen Köter Umgang pflegen ist dagegen im besten Falle gewöhnlich, vermutlich aber schlimmer, nämlich anstrengend, wie es der Umgang mit Hunden, Herren und überhaupt allen real Anwesenden ist.
„O Hund!” ließ sich Gehrkes Pudel also vernehmen. „Warum von Sprüngen reden? Bist du mir nicht mehr als irgendein Hund im Nachbargarten: nämlich die Idee des Hundes? Ist mir deine Stimme nicht heiliger als dein Pelz, weil ich in ihr wie in einem Spiegel meine eigene wunderbare Seele finde ...?” ... und in deinem Pelz höchstens Talg, Kletten und Hundsflöhe – aber diese gedanklichen Details ließ er in seiner Arie aus.
Sierings Pinscher, dem es natürlich genauso wenig in den Sinn kam, die erwähnten Sprünge zu tun, lieferte, alle vier Pfoten fest auf den Terrassenboden gestemmt, seine gleichlautende Strophe: „Pudel, du! Du meine Idee eines Hundes ...” Und da niemand verliebter in seine Stimme war als Sierings Pinscher, zog er auch wirklich jede Idee eines Hundes einem Pudel vor, der ihm durch seine Anwesenheit jeden Grund genommen hätte, sich allmondnächtlich an seinem eigenen Heulen zu berauschen.


VI
Sonntags machte Familie Gehrke ihren Rundgang durch den Garten, um sich vom ordnungsgemäßen Zustand aller Einzelteile zu überzeugen: davon, daß die Äpfel reiften, die Himbeeren weniger verwurmt waren als im Vorjahr, daß die im Kirschbaum aufgehängten Katzenköpfe aus buntem Blech erfolgreich die Amseln ferngehalten hatten, daß die Erbsen geerntet werden konnten und das Unkraut den letzten Versuch zu überleben entmutigt aufgegeben hatte, daß die Leimringe an den Obstbäumen voll funktionstüchtig waren und kein Zaunpfahl wackelte. Gehrkes Pudel begleitete die Familie, war aber auf der Hut und bereit zum Sprung in die Büsche für den Fall, daß sich am Zaun im Nachbargarten ein Hundsfell zeige.
Sierings Pinscher aber, von seiner Familie zum Gang durch den Garten aufgefordert, war das eine Mal todmüde, ein andermal damit beschäftigt, sich imaginäre Wunden zu lecken und den Sonntag darauf angeblich mit Kretzschmars Mops verabredet.


VII
Die Gesänge in den Sommernächten aber wurden fortgesetzt, mit immer weniger Begeisterung für den Hund auf der Nachbarterrasse, mit immer größerer aber für die Schönheit des eigenen Empfindens, ausgedrückt im Gesang, der durch die vorzügliche Akustik der nächtlichen Gärten und den gestirnten Kuppelraum darüber ganz unirdisch veredelt wurde. Gelegentlich besang Sierings Pinscher schelmisch die bewußte Ecke, an der beider Gärten aneinanderstießen – froh und sicher in dem Wissen, daß Gehrkes Pudel nie eine Pfote dorthin setzen würde; und dieser reagierte auf solche Anspielungen gar nicht, vermutlich weil er nicht ganz so sicher war, ob Sierings Pinscher nicht etwa wirklich ...


VIII
Und nach ein paar Monaten lag Schnee auf den Terrassen.
 
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