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Erinnerung an Olga

Elfie

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Eine kleine Episode aus dem Berufsalltag der 1960er-Jahre

ERINNERUNG AN OLGA

Gedankenverloren lehnt Lisa an der Wand nahe des Ausstiegs der Straßenbahn, als ihr gegenüber ein junger Mann plötzlich Wangen und Lippen bläht, als hätte er den Mund voll.
Mit Luft, kann man nur hoffen – denkt Lisa und plötzlich fällt ihr Olga ein. Ich werde sie besuchen, nimmt sie sich vor. Die seltenen Male, die sie sich treffen, enden nie ohne Einladung und immer hat sie versprochen zu kommen.
Wenn sie nicht mehr da ist wird es mir leid tun, denkt sie aus Erfahrung.

Achtzig ist sie schon, die ehemalige Kollegin, die ihr so Vieles gezeigt hat, als sie noch ganz jung war zu Beginn ihres neuen Lebensabschnittes als angelernte Schwester im Spital.
Lisa war so alt wie Olgas Tochter, das mag Einiges zum guten Draht beigetragen haben. Vor allem mehr Geduld hatte sie mit ihr als mit manchen anderen und die Fehler suchte sie auch nicht so genau.
Nur einmal machte Lisa einen, den sie ihr nie verzeihen konnte.
Olga stand kurz vor ihrem Winterurlaub und verkündete seit Wochen, dass sie heuer einen Schikurs machen würde. Prompt kam sie zehn Tage später im Gips zurück und war für zwölf Wochen außer Gefecht. Das bedeutete für den Rest der Mannschaft vermehrten Dienst, denn es gab keine eingeplante Urlaubsvertretung und die Diensteinteilung war eine recht willkürliche.

Angesichts dieser Aussichten verstieg sich Lisa zu der Bemerkung: warum muss die auch noch in ihrem Alter Schifahren lernen?
Wie absurd diese Äußerung war, wusste sie Jahrzehnte später, aber zur Tatzeit war sie zwanzig und Olga der Jahrgang ihrer Mutter.
Natürlich wurde der Bedauernswerten der Sager zugetragen und jahrelang konnte diese es sich nicht verkneifen, bei jeder passenden Gelegenheit – und deren gab es viele – darauf hinzuweisen, dass sich auch wesentlich Jüngere beim Schifahren die Beine brechen.

Konfliktpotential gab es genug, Machtspielchen, Kompetenzreibereien, Generationsprobleme.
Aber der Dienst war hart und stressig und der Zusammenhalt letztendlich stets gegeben.

Plötzlich fällt Lisa der Grund ein für Olgas spontanes Auftreten in ihrem Kopf.
Denn angesichts des pausbackigen Mannes schoss ihr kurz: speib mi jo net an – durch den Kopf.
Und da war auch die längst vergangene Szene wieder:
Es war in dem kleinen, engen Ambulanzraum der Neunzehnsechzigerjahre.
In der Mitte der Patiententisch, rechts davon die beiden Waschbecken, die Dunkelkammertür und zwei Sessel. Links an der Wand auf Tischen die Instrumentenkassetten und drei Ständer mit Wäschekapse.
Das waren stählerne Behälter von siebzig Zentimeter Durchmesser und etwa dreißig hoch, der Deckel wurde per Pedal von einem eingeklinkten Arm hochgezogen, was den damaligen Sterilitätsanforderungen genüge tat. Besagter Deckel und auch der Boden wiesen ein bestimmtes Muster an Perforationen auf, die mit Filz hinterlegt waren. Dieser diente als Filter und gewährleistete gleichzeitig, dass beim Sterilisieren der Dampf die Wäsche durchdringen konnte.
Das Tauschen dieses Filters war eine sehr ungeliebte Arbeit, fiel aber in bestimmten Abständen planmäßig und bei Verunreinigung unverzüglich an.

Und es begab sich eines späten Freitagabends, dass ein junger, ziemlich angeheiterter Gast, dessen Zustand wohl irrtümlich einer akuten Krankheit zugeordnet wurde, in diesem Ambulanzraum auf dem Tisch landete.
Obwohl er sichtlich müde war, verweigerte er beharrlich Lisas und Olgas Angebot, sich hinzulegen.
Als der gerufene Arzt eintrat, wechselten die beiden Schwestern Blicke. Er hatte den Ruf, nur getaner Arbeit wohlwollend gegenüber zu stehen und für Patienten dieser Art das Allerwenigste übrig zu haben.
Er war kaum älter als sein Gegenüber und einen Kopf kleiner als der vor ihm auf dem Tisch Sitzende, was er aber mit Leibesfülle und Standesbewusstsein mehr als wett machte.
Ein lautes, befehlendes „legen sie sich hin“ blieb erst mal ungehört. Die scharfe Wiederholung mit dem Nachsatz „hob i gsogt“ ließ den jungen Mann sich in die Horizontale begeben, er schnellte aber im nächsten Moment wieder hoch, saß mit verkniffenem Mund quer und stierte auf die Kapse. Der Doktor pflanzte sich vor ihm auf und ehe er etwas sagen konnte, versuchte der Patient, ihn mit einem knappen „geh weg“ beiseite zu schieben.
Der Arzt, als Choleriker bekannt, packte sein Gegenüber mit einem überlauten „greif mi jo net an“ bei den Oberarmen und wollte ihn eigenhändig in die gewünschte Position bringen.
Dieser sagte nur stoisch „geh weg, i muass speib´n“.
Worauf der Held in Weiß einen Sprung zur Seite tat und Olga einen solchen nach vorn. Sie hatte bis dahin wie ihre junge Kollegin auf der anderen Seite des Tisches gestanden. Olga riss den Mann nach hinten, packte gleichzeitig seine Beine und drehte ihn mit einem Ruck und dem Befehl „de Kaps speibst uns net an“ auf die andere Seite.
Lisa konnte noch per Sprung die andere Tischseite erreichen um den Bedauernswerten von hinten zu stützen, da ergoss sich ein Schwall jener Mischung, mit der er am Ende einer Arbeitswoche diese zu feiern gewohnt war, aber mengenmäßig nicht immer vertrug, knapp an Olga vorbei und klatschte an die Kachelwand zwischen den Waschbecken.
„Tschuidigung“ blubberte es verschämt aus dem Armen heraus, das Ganze war ihm sichtlich peinlich. Hatte er sich doch zuvor schon redlich bemüht, alles in sich zu behalten.
Der abrupte Richtungswechsel dürfte diese Anstrengung endgültig zunichte gemacht haben.
Der Held in Weiß war mit einem überflüssigen „putzens zerscht“ verschwunden, dem Übergegangenen wurde ein Glas Wasser gereicht und die beiden Schwestern holten Eimer und Wischer. Sie übernahmen wieder einmal den Zusatzjob, wie immer, wenn Ähnliches nach Dienstschluss der Reinigungsfrau passierte.

Gute vierzig Jahre ist das her.
Und morgen ruf ich Olga an und sag ihr, dass ich komme… Mit diesem Vorsatz steigt Lisa aus dem Zug.
Der Auslöser der Erinnerung ist längst verschwunden.
 
Danke euch, ja, das Wort Kaps (Mehrzahl Kapse) gibts scheinbar nur inside. Der Müller (MSG - kennst ja) hat für sein Glossar auch danach gesucht und außer bei einer weiteren Krankenschwester, die ihm nur schon Gekanntes sagen konnte, nix gefunden.
Das sind runde Metalldosen (kann man sagen), ca DM 70cm, Höhe etwa 30. Der Deckel hatte einen Bügel, der im Ständer an einen Haken kam, der wiederum war mit einem Pedal verbunden. So ließ er sich freihändig öffnen. Deckel und Boden war doppelt und durchbrochen, dazwischen kam eine Filzschicht wegen der Sterilisation, damit der heiße Dampf durch die Wäsche konnte. Also der Topf war mit Abdecktüchern, Verbandmaterial und allem, was man (an Textilem) so brauchte, gefüllt. Heute gibts das alles nicht mehr, ist hygienisch nicht mehr erlaubt. Sobald etwas geöffnet ist, gilt es als unsteril. Alles nur noch in Sets für einmalige Verwendung. Die Wäsche wird nicht weggeworfen, aber eben wieder in Sets verpackt.
 
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