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Emma. Eine lückenhafte Biographie

Babel

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Emma ist 1875 geboren. Sie hat fünf Brüder und eine Schwester. Die Schwester ist die älteste, dann kommt ein Sohn, dann Emma, dann die anderen Brüder.

Ihr Vater ist Lehrer an der evangelischen Schule in einem Dorf im Rheinland. Es ist nur eine einklassige Schule, denn die meisten Kinder des Ortes besuchen die katholische Schule. Die Evangelischen sind eine Minderheit im katholischen Rheinland, und auf der Straße rufen katholische und evangelische Kinder einander Schimpfnamen nach: "Blauköpp!", "Schwarzköpp!"

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert läßt das Dorf rasant wachsen. Alles wird zu klein; die evangelische Schule zieht aus dem alten Schulhaus in ein neues um, die katholische ebenso. Wenn Emma später aus ihrer Jugendzeit erzählt, ist immer die Rede von "de aale School" und "de neue School", und genauso von "de aale Kirch" und "de neue Kirch". Für die Lehrerstochter bringt der Umzug in die neue Schule eine Veränderung mit sich: Sie muß nun jeden Wintermorgen früh vor dem Unterricht über den Hof ins Schulhaus hinübergehen und den Ofen anheizen, damit er warm ist, wenn die Kinder kommen. Heizen mußte sie auch vorher, in der alten Schule, aber da waren Lehrerwohnung und Klasse noch im selben Haus. Die Angst vor dem Gang im Dunkeln über den großen Schulhof wird sie nie los, aber so ist das nun mal. Und eigentlich hat sie es ja noch gut: Manche Kinder kommen auch im tiefsten Winter jeden Morgen "bis weit übern Berg" in die Schule, zehn Kilometer weit. Der Lehrer hat Holzpantinen angeschafft, damit sie nicht den ganzen Vormittag mit den nassen Schuhen im Unterricht sitzen müssen.

Es gibt auch ein privates Gymnasium im Ort. Das angeschlossene Internat kann nicht alle Schüler fassen, die aufgenommen werden, und so sind in Emmas Familie immer noch zwei, drei Schüler einquartiert, die im "Institut" das "Einjährig-Freiwillige" machen. Die Eltern, sieben Kinder, drei Gymnasiasten – das sind zwölf Personen oder vierundzwanzig Schuhe – so sieht es Emma, denn sie muß täglich alle diese Schuhe putzen.

Emma kann ihr Leben lang nicht stillsitzen, mit einer Handarbeit etwa oder einem Buch. Nichtstun ist für sie etwas Ehrenrühriges. Sie hat als Kind soviel arbeiten müssen, daß sie es einfach nicht gelernt hat. Noch die Enkelinnen rügt sie, wenn die von einem Zimmer ins andere schlendern, statt zu rennen: „Zieh dat linke Bein wat schneller nach!" Und beim gemeinsamen Essen mahnt sie: "Kinder, eßt schneller, dat mer spülen können!"

Aber zurück zu ihrer Kindheit in dem rheinischen Dorf, in dem es sogar einen Adelssitz gibt. Die kleinen Grafentöchter werden natürlich nicht in die Dorfschule geschickt, sondern Emmas Vater geht nachmittags als Hauslehrer zu ihnen in das Schlößchen. Emma hat ihr Leben lang stolz die zwei rosa Teller mit Randvergoldung und goldener Blumenbemalung gehütet, die ihr Vater von den "Prinzessinnen" geschenkt bekommen hat.

Die ältere Schwester kommt nach der Schule aufs Lehrerinnenseminar, stirbt aber früh. Auch die Brüder bekommen eine ordentliche Ausbildung. Emma aber wird im Haushalt gebraucht. Außerdem muß sie überall hin, wenn in der weitläufigen Verwandtschaft jemand krank wird und Hilfe bei der Pflege nötig ist. Aber dann läßt man auch ihr etwas Bildung angedeihen: Sie kommt ein paar Monate "in Pangsion". Im Mädchenpensionat lernt sie Haushaltung (aber das kann sie ja schon), wohl auch ein paar Handarbeiten, vielleicht etwas Zeichnen und Singen – aber der Unterricht spielt keine Rolle. Es ist die schönste Zeit ihres Lebens; sie ist unter Freundinnen, und trotz des geregelten Tageslaufs lernt sie sowas wie Freizeit kennen. Das Foto, das sie mit ihren Pensionsgefährtinnen zeigt, hat sie bis zu ihrem Tode überm Bett hängen.

Sie ist ein schönes Mädchen, heiratet aber nicht. Vielleicht will niemand die mittellose Tochter einer Familie, in der jeder Pfennig an die Brüder geht. Vielleicht kann sie der heimische Haushalt nicht entbehren. Sie erzählt später ihren Enkelinnen von Festen, vor allem vom Karneval, aber keiner von den Männern, die dabei erwähnt werden, scheint irgendeine Rolle für sie gespielt zu haben.

Das Gegeneinander der Konfessionen im Dorf hat sie geprägt. Sie kennt unzählige Anekdoten, in denen die primitiven, abergläubischen Katholiken verspottet werden. Zum Beispiel diese: Die katholische Familie sitzt am Eßtisch und die Mutter brabbelt das Tischgebet daher: "Gegrüßet seist du Maria du bist voll der Gnaden der Herr ist mit dir du bist gebenedeit unter den Weibern und – Verdammte Katz, gehste wohl da runter! – gebenedeit ist die Frucht deines Leibes ..." Am meisten aber liebt die Enkelin, der sie diese Geschichtchen vor dem Schlafengehen erzählt, die Sache von dem Marienkind: Da gab es ein Ehepaar im Dorf, das hatte ein gutgehendes Lokal, aber keine Kinder. Fehlgeburten, Totgeburten, früher Kindstod ... Bei der soundsovielen Schwangerschaft gelobten die Eltern, wenn das nächste Kind am Leben bliebe, wolle man es als "Marienkind" erziehen: Als Mädchen dürfe es bis zum Alter von zwölf Jahren nur in weiß und blau gekleidet gehen, und für einen Jungen gab es zweifellos ähnlich restriktive Verpflichtungen. Nun, die Frau gebar, und das Kind, ein Mädchen, blieb am Leben.

Emma hat sichtlich Spaß an diesen Geschichten, aber Fanatismus, der unter den Bedingungen ihrer Herkunft hätte gedeihen können, liegt ihr ganz fern. Sie kennt eine Menge Bibelsprüche, und sie gebraucht sie nur ironisch. Wenn etwa ihre Enkelinnen wieder mal streiten, stellt sie sich mit dramatischer Geste zwischen sie und deklamiert: "Friede sei mit euch!!!"

Mit fünfunddreißig Jahren hat sie dann doch noch geheiratet. Es heißt, die beiderseitigen Verwandtschaften hätten die zwei "zusammengeredet". Von dem Ehemann ist bekannt, daß er die Ehe als unglücklich empfand. Von Emma ist dasselbe anzunehmen, denn sie, die doch später über jeden und jede im Dorf so viel zu erzählen weiß, erwähnt ihn nie. Die Ehe ist nur kurz: Der Mann fällt im Ersten Weltkrieg.

Emma hat nun ein kleines Kind, und damit ist ihre Lage prekär: Kein Mann, kein Einkommen. Sie führt einem unverheirateten Bruder den Haushalt und fühlt sich nur geduldet. Als ihre Tochter erwachsen ist und heiratet, zieht sie mit ihr in das junge Heim und führt auch hier wieder den Haushalt, kocht, spült, putzt, kümmert sich um die Kinder. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, da die Hausfrauen stundenlang (und oft vergebens) vor den Läden Schlange stehen, auf Hamsterfahrt gehen müssen und im Garten Kartoffeln und Gemüse ziehen, ist eine zweite Frau im Haushalt unentbehrlich – wie haben es bloß die Mütter geschafft, die keine Oma im Haus hatten?

Emma wird fast hundert Jahre alt. Ab den 50er Jahren gibt es in einer modernen Wohnung eigentlich nicht mehr genug Abeit für zwei Frauen, aber sie bleibt weiter auf Trab, hält ihre Tochter auf Trab und sagt gelegentlich: "Ich komme noch nicht mal bis in den Park!" Bis zum Park sind es nur fünf Minuten, und ihre Tochter oder die Enkelinnen sagen immer wieder: "Komm doch mit!" Aber sie wehrt jedesmal ab: "Jetzt nicht – ein andermal" – sie habe zu tun oder sei zu müde. Oft weist sie darauf hin, daß sie eine Sterbeversicherung hat: "Damit ich mal 'nen schönen Eichensarg kriege." Aber das Wichtigste ist ihr: "Ich will am Rhein begraben werden!" Sie sieht den Rhein in ihren letzten Jahrzehnten nicht mehr wieder, aber begraben wird sie dort.

Auf ihrem letzten Foto sitzt sie mit ihrer Tochter, ihrer älteren Enkelin und deren halbjähriger Tochter auf dem Sofa. Dieses Foto hat sie sich gewünscht. Als Kind hat sie ein Gedicht gelernt: "Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / in dumpfer Stube beisammen sind." Weiter kann sie es nicht. Aber da es nun eine Urenkelin gibt, sollte es auch so ein Bild geben.
 
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Ist dies eine wahre Geschichte? Jedenfalls ein beispielhaftes Frauenschicksal -
da muß ich wieder mal froh und dankbar sein, heute zu leben!- Dir noch ein
gutes neues Jahr, in dem ich auf noch einige so schöne Beiträge von dir
warte!-Viele Grüße von Ulrike!
 
Eine gewaltige Geschichte und ein eindrucksvolles Bild dieser Zeit! Von einer Bevölkerungsgruppe, deren Schicksal von Menschen bestimmt wurden, die keinen Gedanken daran verschwendeten.
Wie lange durfte Emma sich an ihrer Urenkelin erfreuen?
Gibt es dieses Foto noch?
 
AW: Emma. Eine lückenhafte Biografie

Ist dies eine wahre Geschichte?
Es ist die Geschichte meiner Oma.
Wie lange durfte Emma sich an ihrer Urenkelin erfreuen?
Gibt es dieses Foto noch?
Emma ist 1967, ein knappes Jahr nach der Geburt der Urenkelin, gestorben. Sie hat das Kind nur ein paar Tage lang gesehen (wir wohnten nicht mehr in derselben Stadt), und da wurde dann auch das Foto gemacht. Ich habe das Foto gesucht und nicht gefunden; wahrscheinlich hat es meine Tochter. Wenn es irgendwann auffindbar ist, werde ich es einscannen und der Biografie anfügen.
 
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