Elfie
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Die Geschichte vom Poldl-Onkel, der ein ganz anderer war
Eine wahre Geschichte
Wie ist das mit der Erinnerung und wie lange reicht sie zurück?
Ich hatte einen Gutteil meiner Kindheit bei meinen Großeltern verbracht. Dafür gab es mehrere Gründe, ein gewichtiger war: hier gab´s zu essen.
Und das war in der Nachkriegszeit das Wesentliche. Die Großeltern hatten ein kleines Häuschen, ein sehr kleines. Nach heutigen Maßstäben müsste man sagen, es war eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Dach drauf. Es gab zwei Schweine und eine kleine Hühnerschar. Glückliche Hühner – mit Gockel. Dazu einen Gemüsegarten und eine große Wiese, die Tiere wollten ja auch ernährt werden. Und es gab jede Menge Kartoffeln - die waren für alle da. Wenn man also schon drei Jahre nach Kriegsende in ärmliche Verhältnisse hineingeboren werden wollte, dann wenigstens hier.
Da waren viele prägende Ereignisse: der erste Wespenstich, der erste tote Vogel und auch vom Baum fällt man irgendwann das erste Mal. Aber es gab da ein Bild, das mich meine ganze Kindheit hindurch begleitete: ich saß in Omas Küche auf dem Boden und spielte, das Küchenfenster war offen. Es befand sich auf der Südseite Richtung Garten, war durch ein Fensterkreuz gesichert und darunter stand eine der beiden Küchenbänke. Meine Großmutter, die eine eher kleine Frau war, kniete sich – wenn sie die Vorhänge oder sonst was verändern wollte – stets mit dem rechten Bein auf diese Bank. Das verlieh ihr ein paar Zentimeter mehr.
Man konnte auch von der andern, der Straßenseite ins Haus gelangen, genau genommen kamen durch die offizielle Haustür nur der Briefträger und Fremde, die es nicht besser wussten. Wer aber sozusagen von hinten kam, ging auf einem Sandweg das Haus entlang, was bei offenem Fenster deutlich zu hören war, noch ehe der Ankömmling sichtbar wurde.
In besagtem Bild stand meine Großmutter in eben dieser einseitig knienden Position am Fenster, meine Mutter schaute von draußen herein und sagte: der Poldl ist tot.
Es war nichts Ungewöhnliches, dass ich am Küchenboden saß. Das war mein Lieblingsplatz, wenn niemand Zeit hatte, mich auf die grüne Wiese zu setzen und dann auch noch in meiner Nähe zu bleiben - und das war oft der Fall. Außerdem hätte ich dort wohl auch um mein Spielzeug bangen müssen: Weizen und Kukuruz, also Hühnerfutter. Diese Körner wurden unermüdlich in verschiedene Gefäße verteilt, vermischt und hin und her geleert. Und wenn es Hexeneier gab, dann durfte ich damit richtig kochen. Hexeneier - das waren die Erstgeburten der jungen Hühner, sehr klein und für Speisen wohl nicht geeignet oder vielleicht wurden sie auch aus anderen Gründen nicht gegessen. Es wurde ihnen ja nachgesagt, dass sie Glück brächten, wenn man sie über´s Hausdach werfe. Ob dieses Glück den Werfer oder den eventuellen Passanten auf der anderen Seite träfe, ist nicht überliefert. Ebenso wenig wie der Zusammenhang des Hexenspielzeugs mit dem Verlauf des zukünftigen Lebens. Des Weiteren war es auch wenig verwunderlich, dass Oma am Fenster stand und ich ebenfalls hinsah – wir hatten wohl beide Mutters Schritte gehört. Und sie wurde von der einen wie von der anderen meist sehnsüchtig erwartet.
Als ich später irgendwann zu behaupten begann, ich könne mich erinnern, wie der Poldl-Onkel gestorben ist und dieses familienchronologisch doch bedeutende Ereignis einfach mit „ja-ja“ abgetan wurde, hat mich das dann doch geärgert. Zumal ich ja häufig dazu aufgefordert wurde, mich an alles Mögliche zu erinnern. Mama war dann immer ganz stolz auf das, was ich alles wusste. Dieser Umstand animierte mich fortwährend dazu, freiwillig in meinem Gedächtnis zu kramen, denn Mamas Stolz und meine Klugheit waren mir doch ziemlich gleich wichtig. Nur diese Onkel-Story kam nicht an, dabei schien es sich doch um ein bedeutendes Ereignis gehandelt zu haben.
Auf nicht ernst genommen werden hab ich wohl schon sehr früh sehr sauer reagiert und wie ärgert sich ein Kleinkind? Indem es die Großen ärgert. Mit ausdauernden Wiederholungen. Bis ich eines Tages zu hören bekam: red nicht so einen Blödsinn, du kannst gar nicht wissen, wie der Poldl-Onkel gestorben ist. Zu sagen wäre noch, dass sich dieses WIE nicht auf die Todesart sondern auf die Todeszeit bezog. Aber das ist so auf dem Land: man meint wann und sagt wie. Nach diesem Rüffel also war ich endgültig beleidigt und sagte nur noch zu mir selber und zu der alten grauen Katze, die mich als einzige hier auf dieser eigenartigen Welt verstand und mir auch immer zuhörte: und ich weiß ja doch wie der Poldl-Onkel gestorben ist.
Der Poldl-Onkel war mir wohlvertraut, ich kannte ihn sehr gut. Eigentlich war er allgegenwärtig. Vor allem im Schlafzimmer der Großeltern, wo ich oft Schlafgast war und wo viele wundersame Dinge waren. Hier gab´s nicht nur allnächtliche Geräusche, weil Oma sehr laut geträumt, Opa sehr laut geschnarcht und die Pendeluhr sehr laut geschlagen hat, es gab auch allabendliche Rituale.
Die Wand rechts der Tür, die gehörte dem Poldl-Onkel. Da war ein flacher Glaskasten mit Rahmen, wie ein Bild. Darin ein Anstecksträußchen, das mir besonders gefiel, weil es so schön silbern glänzte. Von der Musterung – was immer das war. Das erklärte Oma auf meine Fragen, die Antworten kannte ich längst, aber ich hörte sie immer wieder gern und sie schien auch gern davon zu reden. Wenn ich besonders brav war und Oma besonders gut gelaunt oder beides, nahm sie diese Kostbarkeit von der Wand und legte sie auf das Tischchen davor. So konnte ich alles noch viel besser sehn. Auf dem Tisch stand eine kleine bauchige Vase mit Rosen. Sehr großen – rot und weiß. Sie brauchten kein Wasser und von Zeit zu Zeit wurden sie gewaschen. Eine flache Blechflasche mit Filzmantel war da und eine Schachtel mit Briefen. Feldpost – sagte die Oma. Und alles gehörte dem Poldl-Onkel. Wie auch die Kerze in dem schönen Leuchter, der einmal im Jahr diesen Platz verlassen durfte: am Heiligabend, wenn in der Küche gebetet wurde bis das Christkind läutete.
Aber die Hauptsache war er selber, auf dem großen Foto an der Wand hinter Glas mit Rahmen und gleich daneben das Bild mit dem Büschel. Ein junges, männliches Gesicht, sehr ernst, aber freundlich. Auf dem Kopf eine Kappe mit eigenartigem Abzeichen, das sich auch auf dem Kragen wiederfand. An der oberen Ecke des Bildes war ein schwarzes Band und unten eingeklemmt ein schwarzgerahmtes Bildchen, auf dem etwas geschrieben stand. Das Kreuz darauf hatte eine Form, wie sie in der Kirche nicht zu sehen war. In Russland sei er geblieben, nach einer Verwundung im Lazarett gestorben, sagte die Oma. Nur einundzwanzig sei er geworden und seine Braut hätte ihr noch lange Zeit zu Weihnachten geschrieben.
Das erwähnte Ritual bestand darin, dass die Großmutter vor dem Licht ausmachen die Hand in den neben dem Lichtschalter hängenden Weihbrunnkessel tauchte und die Betten, das Tischchen und die Bilder segnete. Zuletzt berührte sie das Bild des jungen Soldaten. Dieses Ritual hat sie sicher bis an ihr Lebensende fortgesetzt und ich sehe es heute vor meinem inneren Auge mit großer Ergriffenheit.
Als Kind war mir diese Zeremonie nicht nur vertraut, sie war selbstverständlich. Ich kannte jede Geste und auch das kleine Fläschchen auf dem Kasten, aus dem das Wasser nachgefüllt wurde. War der Brunnen ganz voll, fiel der Segen besonders heftig aus. Dann traf mich manchmal ein dicker Tropfen, den ich sehr verstohlen abwischte, ich wusste mit dem heiligen Wasser nicht so recht umzugehen.
Vor allem aber weiß ein Kind mit Zeit nicht umzugehen. Es gibt sie einfach nicht. Es gibt Tag und Nacht und den Wechsel der Jahreszeiten und von Christkind zu Christkind ist eine Ewigkeit. Doch mit den Jahren wird das kleine Leben voller und als sich nach Schuleintritt die Fälle häuften, wo meine Antworten mit einem ärgerlichen „so ein Blödsinn“ quittiert wurden, hatten die einstigen Worte meiner Mutter wohl an Aktualität verloren. Mein Ärger darüber ging, das Bild blieb. Wohl kam es seltener, zu viele Eindrücke warteten darauf, aufgenommen zu werden.
Vielleicht scheint mein damaliger Umgang mit einem Thema, das sich üblicherweise nicht in Kleinkindsköpfen findet, etwas sonderbar. Dazu wäre zu sagen, dass eines Menschen Tod für mich etwas Vertrautes war. Mein Vater starb, als ich noch ganz klein war, so wurde mir erzählt. Persönlich hatte ich kaum eine Erinnerung an ihn, aber ich wusste ganz genau welcher Stern er war. Zu dieser Zeit gab es auf dem Land ganz schwarze Nächte. Kein künstliches Licht, weder an der Straße noch vor einem Haus, störte diese Finsternis und in klaren mondlosen Nächten blinkten Millionen Sterne. Omas Erklärung, dass Papa da oben vom Himmel schaute und mich sehen konnte, war vielleicht als Trost gedacht, ich unterstelle ihr trotzdem, dass sie es auch als brauchbares Mittel sah, mich im Zaum zu halten. Nachdem ich aber immer schon gegen einseitige Verhältnisse war, wollte ich auch ihn sehen. Und er war eben genau dieser eine Stern. Aus heutiger Sicht stellt sich vielleicht die Frage, was denn ein Kleinkind mit Oma scheinbar häufig unterm Sternenhimmel macht in finsterer Nacht. Na ja, zu diesen Zeiten und in diesen Breiten gab´s noch keine Wasserleitung. Das Clo hieß Abort und fand sich aus guten Gründen als kleines Extrahäuschen außen an der Hausmauer.
So klein kann kein Menschenkind sein, dass es nicht seine Lebensrätsel lösen will. Also speichert es diese, bis die Zeit reif ist.
Eines Tages war meine Mutter rehabilitiert. Es war tatsächlich Blödsinn, was ich da sagte: der Poldl-Onkel starb im Krieg, also Einiges vor meinem Erscheinen. Aber da war dieses Bild und es war über jeden Irrtum erhaben. Ich hatte sicher oft aus dieser Position meine Mutter am Fenster gesehen. Kommen und auch gehen. Was war dieses eine Mal so anders?
Der Tod eines Menschen reißt eine Familie aus ihrer Harmonie von einem Moment zum nächsten und verändert alles. Leid breitet sich aus, Trauer und Entsetzen. Stimmungen, die ein Kind spürt, auch wenn es nicht versteht. Ab da ist alles anders als zuvor, das prägt sich ein.
Wie also ist das mit Erinnerung?
Mein Vater hieß – wie mein Soldatenonkel – Leopold. Also: Poldl. Für mich als Kleinkind existierte er jedoch nicht als solcher, er hieß Papa. Zur Zeit, als meine Mutter die Nachricht bekam, befand ich mich bei den Großeltern. Vater war von der Arbeit nicht nach Hause gekommen und Mutter wollte mit dem Fahrrad zu einem Kollegen um zu erfahren, weshalb. Deshalb gab sie mich bei Oma ab. Als diese sie später kommen hörte, ging sie voller Erwartung ans Fenster… Das Rätsel war gelöst. Starke Bilder prägen auch sehr kleine Menschen für ein Leben. Ich bin im Oktober geboren, mein Vater starb im Juni des übernächsten Jahres.
Eine wahre Geschichte
Wie ist das mit der Erinnerung und wie lange reicht sie zurück?
Ich hatte einen Gutteil meiner Kindheit bei meinen Großeltern verbracht. Dafür gab es mehrere Gründe, ein gewichtiger war: hier gab´s zu essen.
Und das war in der Nachkriegszeit das Wesentliche. Die Großeltern hatten ein kleines Häuschen, ein sehr kleines. Nach heutigen Maßstäben müsste man sagen, es war eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Dach drauf. Es gab zwei Schweine und eine kleine Hühnerschar. Glückliche Hühner – mit Gockel. Dazu einen Gemüsegarten und eine große Wiese, die Tiere wollten ja auch ernährt werden. Und es gab jede Menge Kartoffeln - die waren für alle da. Wenn man also schon drei Jahre nach Kriegsende in ärmliche Verhältnisse hineingeboren werden wollte, dann wenigstens hier.
Da waren viele prägende Ereignisse: der erste Wespenstich, der erste tote Vogel und auch vom Baum fällt man irgendwann das erste Mal. Aber es gab da ein Bild, das mich meine ganze Kindheit hindurch begleitete: ich saß in Omas Küche auf dem Boden und spielte, das Küchenfenster war offen. Es befand sich auf der Südseite Richtung Garten, war durch ein Fensterkreuz gesichert und darunter stand eine der beiden Küchenbänke. Meine Großmutter, die eine eher kleine Frau war, kniete sich – wenn sie die Vorhänge oder sonst was verändern wollte – stets mit dem rechten Bein auf diese Bank. Das verlieh ihr ein paar Zentimeter mehr.
Man konnte auch von der andern, der Straßenseite ins Haus gelangen, genau genommen kamen durch die offizielle Haustür nur der Briefträger und Fremde, die es nicht besser wussten. Wer aber sozusagen von hinten kam, ging auf einem Sandweg das Haus entlang, was bei offenem Fenster deutlich zu hören war, noch ehe der Ankömmling sichtbar wurde.
In besagtem Bild stand meine Großmutter in eben dieser einseitig knienden Position am Fenster, meine Mutter schaute von draußen herein und sagte: der Poldl ist tot.
Es war nichts Ungewöhnliches, dass ich am Küchenboden saß. Das war mein Lieblingsplatz, wenn niemand Zeit hatte, mich auf die grüne Wiese zu setzen und dann auch noch in meiner Nähe zu bleiben - und das war oft der Fall. Außerdem hätte ich dort wohl auch um mein Spielzeug bangen müssen: Weizen und Kukuruz, also Hühnerfutter. Diese Körner wurden unermüdlich in verschiedene Gefäße verteilt, vermischt und hin und her geleert. Und wenn es Hexeneier gab, dann durfte ich damit richtig kochen. Hexeneier - das waren die Erstgeburten der jungen Hühner, sehr klein und für Speisen wohl nicht geeignet oder vielleicht wurden sie auch aus anderen Gründen nicht gegessen. Es wurde ihnen ja nachgesagt, dass sie Glück brächten, wenn man sie über´s Hausdach werfe. Ob dieses Glück den Werfer oder den eventuellen Passanten auf der anderen Seite träfe, ist nicht überliefert. Ebenso wenig wie der Zusammenhang des Hexenspielzeugs mit dem Verlauf des zukünftigen Lebens. Des Weiteren war es auch wenig verwunderlich, dass Oma am Fenster stand und ich ebenfalls hinsah – wir hatten wohl beide Mutters Schritte gehört. Und sie wurde von der einen wie von der anderen meist sehnsüchtig erwartet.
Als ich später irgendwann zu behaupten begann, ich könne mich erinnern, wie der Poldl-Onkel gestorben ist und dieses familienchronologisch doch bedeutende Ereignis einfach mit „ja-ja“ abgetan wurde, hat mich das dann doch geärgert. Zumal ich ja häufig dazu aufgefordert wurde, mich an alles Mögliche zu erinnern. Mama war dann immer ganz stolz auf das, was ich alles wusste. Dieser Umstand animierte mich fortwährend dazu, freiwillig in meinem Gedächtnis zu kramen, denn Mamas Stolz und meine Klugheit waren mir doch ziemlich gleich wichtig. Nur diese Onkel-Story kam nicht an, dabei schien es sich doch um ein bedeutendes Ereignis gehandelt zu haben.
Auf nicht ernst genommen werden hab ich wohl schon sehr früh sehr sauer reagiert und wie ärgert sich ein Kleinkind? Indem es die Großen ärgert. Mit ausdauernden Wiederholungen. Bis ich eines Tages zu hören bekam: red nicht so einen Blödsinn, du kannst gar nicht wissen, wie der Poldl-Onkel gestorben ist. Zu sagen wäre noch, dass sich dieses WIE nicht auf die Todesart sondern auf die Todeszeit bezog. Aber das ist so auf dem Land: man meint wann und sagt wie. Nach diesem Rüffel also war ich endgültig beleidigt und sagte nur noch zu mir selber und zu der alten grauen Katze, die mich als einzige hier auf dieser eigenartigen Welt verstand und mir auch immer zuhörte: und ich weiß ja doch wie der Poldl-Onkel gestorben ist.
Der Poldl-Onkel war mir wohlvertraut, ich kannte ihn sehr gut. Eigentlich war er allgegenwärtig. Vor allem im Schlafzimmer der Großeltern, wo ich oft Schlafgast war und wo viele wundersame Dinge waren. Hier gab´s nicht nur allnächtliche Geräusche, weil Oma sehr laut geträumt, Opa sehr laut geschnarcht und die Pendeluhr sehr laut geschlagen hat, es gab auch allabendliche Rituale.
Die Wand rechts der Tür, die gehörte dem Poldl-Onkel. Da war ein flacher Glaskasten mit Rahmen, wie ein Bild. Darin ein Anstecksträußchen, das mir besonders gefiel, weil es so schön silbern glänzte. Von der Musterung – was immer das war. Das erklärte Oma auf meine Fragen, die Antworten kannte ich längst, aber ich hörte sie immer wieder gern und sie schien auch gern davon zu reden. Wenn ich besonders brav war und Oma besonders gut gelaunt oder beides, nahm sie diese Kostbarkeit von der Wand und legte sie auf das Tischchen davor. So konnte ich alles noch viel besser sehn. Auf dem Tisch stand eine kleine bauchige Vase mit Rosen. Sehr großen – rot und weiß. Sie brauchten kein Wasser und von Zeit zu Zeit wurden sie gewaschen. Eine flache Blechflasche mit Filzmantel war da und eine Schachtel mit Briefen. Feldpost – sagte die Oma. Und alles gehörte dem Poldl-Onkel. Wie auch die Kerze in dem schönen Leuchter, der einmal im Jahr diesen Platz verlassen durfte: am Heiligabend, wenn in der Küche gebetet wurde bis das Christkind läutete.
Aber die Hauptsache war er selber, auf dem großen Foto an der Wand hinter Glas mit Rahmen und gleich daneben das Bild mit dem Büschel. Ein junges, männliches Gesicht, sehr ernst, aber freundlich. Auf dem Kopf eine Kappe mit eigenartigem Abzeichen, das sich auch auf dem Kragen wiederfand. An der oberen Ecke des Bildes war ein schwarzes Band und unten eingeklemmt ein schwarzgerahmtes Bildchen, auf dem etwas geschrieben stand. Das Kreuz darauf hatte eine Form, wie sie in der Kirche nicht zu sehen war. In Russland sei er geblieben, nach einer Verwundung im Lazarett gestorben, sagte die Oma. Nur einundzwanzig sei er geworden und seine Braut hätte ihr noch lange Zeit zu Weihnachten geschrieben.
Das erwähnte Ritual bestand darin, dass die Großmutter vor dem Licht ausmachen die Hand in den neben dem Lichtschalter hängenden Weihbrunnkessel tauchte und die Betten, das Tischchen und die Bilder segnete. Zuletzt berührte sie das Bild des jungen Soldaten. Dieses Ritual hat sie sicher bis an ihr Lebensende fortgesetzt und ich sehe es heute vor meinem inneren Auge mit großer Ergriffenheit.
Als Kind war mir diese Zeremonie nicht nur vertraut, sie war selbstverständlich. Ich kannte jede Geste und auch das kleine Fläschchen auf dem Kasten, aus dem das Wasser nachgefüllt wurde. War der Brunnen ganz voll, fiel der Segen besonders heftig aus. Dann traf mich manchmal ein dicker Tropfen, den ich sehr verstohlen abwischte, ich wusste mit dem heiligen Wasser nicht so recht umzugehen.
Vor allem aber weiß ein Kind mit Zeit nicht umzugehen. Es gibt sie einfach nicht. Es gibt Tag und Nacht und den Wechsel der Jahreszeiten und von Christkind zu Christkind ist eine Ewigkeit. Doch mit den Jahren wird das kleine Leben voller und als sich nach Schuleintritt die Fälle häuften, wo meine Antworten mit einem ärgerlichen „so ein Blödsinn“ quittiert wurden, hatten die einstigen Worte meiner Mutter wohl an Aktualität verloren. Mein Ärger darüber ging, das Bild blieb. Wohl kam es seltener, zu viele Eindrücke warteten darauf, aufgenommen zu werden.
Vielleicht scheint mein damaliger Umgang mit einem Thema, das sich üblicherweise nicht in Kleinkindsköpfen findet, etwas sonderbar. Dazu wäre zu sagen, dass eines Menschen Tod für mich etwas Vertrautes war. Mein Vater starb, als ich noch ganz klein war, so wurde mir erzählt. Persönlich hatte ich kaum eine Erinnerung an ihn, aber ich wusste ganz genau welcher Stern er war. Zu dieser Zeit gab es auf dem Land ganz schwarze Nächte. Kein künstliches Licht, weder an der Straße noch vor einem Haus, störte diese Finsternis und in klaren mondlosen Nächten blinkten Millionen Sterne. Omas Erklärung, dass Papa da oben vom Himmel schaute und mich sehen konnte, war vielleicht als Trost gedacht, ich unterstelle ihr trotzdem, dass sie es auch als brauchbares Mittel sah, mich im Zaum zu halten. Nachdem ich aber immer schon gegen einseitige Verhältnisse war, wollte ich auch ihn sehen. Und er war eben genau dieser eine Stern. Aus heutiger Sicht stellt sich vielleicht die Frage, was denn ein Kleinkind mit Oma scheinbar häufig unterm Sternenhimmel macht in finsterer Nacht. Na ja, zu diesen Zeiten und in diesen Breiten gab´s noch keine Wasserleitung. Das Clo hieß Abort und fand sich aus guten Gründen als kleines Extrahäuschen außen an der Hausmauer.
So klein kann kein Menschenkind sein, dass es nicht seine Lebensrätsel lösen will. Also speichert es diese, bis die Zeit reif ist.
Eines Tages war meine Mutter rehabilitiert. Es war tatsächlich Blödsinn, was ich da sagte: der Poldl-Onkel starb im Krieg, also Einiges vor meinem Erscheinen. Aber da war dieses Bild und es war über jeden Irrtum erhaben. Ich hatte sicher oft aus dieser Position meine Mutter am Fenster gesehen. Kommen und auch gehen. Was war dieses eine Mal so anders?
Der Tod eines Menschen reißt eine Familie aus ihrer Harmonie von einem Moment zum nächsten und verändert alles. Leid breitet sich aus, Trauer und Entsetzen. Stimmungen, die ein Kind spürt, auch wenn es nicht versteht. Ab da ist alles anders als zuvor, das prägt sich ein.
Wie also ist das mit Erinnerung?
Mein Vater hieß – wie mein Soldatenonkel – Leopold. Also: Poldl. Für mich als Kleinkind existierte er jedoch nicht als solcher, er hieß Papa. Zur Zeit, als meine Mutter die Nachricht bekam, befand ich mich bei den Großeltern. Vater war von der Arbeit nicht nach Hause gekommen und Mutter wollte mit dem Fahrrad zu einem Kollegen um zu erfahren, weshalb. Deshalb gab sie mich bei Oma ab. Als diese sie später kommen hörte, ging sie voller Erwartung ans Fenster… Das Rätsel war gelöst. Starke Bilder prägen auch sehr kleine Menschen für ein Leben. Ich bin im Oktober geboren, mein Vater starb im Juni des übernächsten Jahres.