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Der Weg. Teil 1.

Gänseblümchen

New member
Hallo an alle! Habe eine neue Geschichte fertig, also Teil 1 und würd sie euch gerne zeigen. (Bisserl lang geworden) Freu mich sehr über Feedback jeglicher Art!
Viele viele Grüße an Euch alle!


Wie jeden Samstag um etwa drei Uhr nachmittags versammeln sich die Dorfbewohner von Kleinstadt auf dem Hauptplatz. Kleinstadt ist ein kleines Dorf im südlichen Teil von Hinterbergen. Hinterbergen liegt sehr geschützt genau hinter einem kräftigen Bergmassiv, dessen Name niemand so genau kennt. Die Temperaturen und Wetterverhältnisse in Kleinstadt sind sehr mild und schon oft wurde Weihnachten im Freien gefeiert. Schnee im Winter? In Kleinstadt eine Seltenheit. Dieses Städtchen ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich und hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem richtig netten, idyllischen Urlaubsort entwickelt, wo Touristen, die die Ruhe und Geborgenheit suchen, ganz gut aufgehoben sind.
Wie in jeder Stadt gibt es dort einen Hauptplatz, einen Markt, eine Kirche, ein Postamt und eine Volksschule. An sich nichts ungewöhnliches, wenn da nicht noch diese andere Sache wäre. Gleich neben der Kirche befindet sich ein kleiner Park. Hübsch angeordnet ein paar Bänke und sogar ein Springbrunnen mit Denkmal und einer riesengroßen Widmung für den Bürgermeister Zapletal, der irgendwann, vor hundert Jahren, dieser Stadt seine besonderen Dienste für irgendeine große Sache erwiesen hat.
Hinter diesem Denkmal findet man zwei mächtige Eichen und daneben ein rotes Schild mit der Aufschrift „Der Weg“. Ein einfacher Trampelpfad ist der Anfang dieses Weges, der eine eigene Geschichte hat. Jeder Mensch, der jemals diesen Weg beschritten hat, kehrte aufgrund vieler Angaben entweder nie wieder zurück oder wenn doch, dann irgendwie anders. Auffällig ruhig, mit einer großen Portion Gelassenheit und eine bestechend glücklichen Ausstrahlung. Das fiel den Dorfbewohnern mit der Zeit auf und wie es so ist, wird darüber gesprochen. Man sagt, am Ende des Weges sei das Paradies. Und das wäre auch die einleuchtende Erklärung, warum einige eben nie wieder zurückgekehrt sind. Professor Hagebart, der ehemalige Leiter der ortsansässigen Bank, hat sich eingehend mit diesem Phänomen beschäftigt und in jahrelangen Studien viel über diese seltsame Begebenheit erforscht.
Die wöchentliche Veranstaltung am Dorfplatz ist seine eigene Idee und ihm ein persönliches Anliegen, denn er will seine Erfahrungen auf diesem Gebiet weitergeben. Professor Waldemar Hagebart ist ein sehr lebensfreudiger Mensch und besticht durch seine bunte Kleidung trotz seiner vierundachtzig Jahre, seiner Lebendigkeit und positiver Ausstrahlung. Man sagt, daß Professor Hagebart selbst mal diesen Weg erfolgreich beschritten hat und deshalb so geworden ist, wie er ist. Doch genaues weiß niemand und den Professor direkt drauf ansprechen, das hat sich noch niemand getraut. Wenn es allerdings stimmen sollte, das am Ende des Weges das Paradies sei, warum um alles in der Welt ist er dann wieder zurückgekommen?
Wie jeden Samstag nimmt der sechsjährige Benjamin in der ersten Reihe Platz. Erwartungsvoll beobachtet er mit seinen dunkelbraunen Kulleraugen die noch leere Bühne und wartet auf das kleinste Zeichen, wann denn das Spektakel endlich beginnt. Noch herrscht Trubel und eine Mischung aus Jahrmarktstimmung und gespannter Aufmerksamkeit.
Endlich! Trompeten und Pauken kündigen das Erscheinen des Professors an. Der Professor betritt die Bühne mit leichten federnden Schritten und wirkt, als wenn er ein knapp achtzehnjähriger, frecher Schulbub wäre, der sich auf das kommende Fußballspiel freut.
„Guten Abend, verehrtes Publikum! Willkommen! Sie möchten also wissen, wie es am Ende des Weges aussieht? Oder sind sie nur hier, um ein bisschen Abwechslung in Ihrem grauen Alltag zu haben?“ Verschmitzt lächelnd wirft er seinen Zylinder in die Luft und nimmt auf dem alten, schon etwas mitgenommenem Sofa Platz, das ein kleiner, dicklicher Mann soeben auf die Bühne geschoben hat. Amüsiert und mit lachendem Gesicht sieht er durch die vollen Reihen und genießt mit überschlagenen Beinen (eingepackt in eine grün karierte Hose) die erwartungsvolle Haltung der Zuschauer. Umständlich nestelt er jetzt an seiner dunkelroten Krawatte und findet da und dort an seinem olivgrünen Jackett ein Fuzzelchen, bis die Stimmen zu laut werden, die rufen: „Professor Hagebart! Fangen sie an zu erzählen!“
„Der Weg, von dem wir sprechen, findet seinen Anfang genau hinter der Kirche, geschätztes Publikum! „ beginnt der Professor mit donnernder Stimme zu erzählen. Es folgt eine kurze Pause, gerade so kurz, um die Spannung noch einen Herzschlag zu erhöhen und dann fährt der Professor mit kraftvoller, tiefer Stimme mit seinen Erzählungen fort und nach einem weiteren Herzschlag legt er eine Hochkonzentriertheit an den Tag, die Benjamin jede Woche aufs Neue fast schaudern lässt. „Professor Hagebart…“ flüstert er vor sich hin und ist völlig begeistert von dem Schauspiel, das sich ihm bietet.
„Liebes Publikum! Jeder, der dieses Abenteuer wagt, muss sich darauf gefasst machen, dass ihm unglaubliche, völlig irrationale Dinge passieren. Wir reden hier von Ablenkungen, Täuschungen, Enttäuschungen, seltsamen Ereignissen. Aber..“ und es folgt eine verheißungsvolle Pause „ ..am Ende dieses Weges erwartet sie ihr einziges, ganz persönliches Glück. Eines, das sie nirgendwo anders finden können. Ich sage Ihnen, Sie werden am Ende dieses Weges diese Worte sagen:
„Hätte ich das vorher gewusst“-und sie werden sich Schweiß und Tränen aus dem Gesicht wischen-hätte ich mich dann darauf eingelassen? Und Sie werden glücklich lächeln„
„Lehnen Sie sich zurück, geschätztes Publikum. Lassen Sie mich Sie in diese neue, unbekannte Welt entführen! Wenn SIE es möchten, geschätztes Publikum, wird es IHRE neue Welt!“
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Man sagt, am Ende des Weges sei das Paradies.
Der Dorfplatz füllt sich allmählich. Benjamin sieht die Menschenmenge schon von weitem und hält nach einigen Schritten kurz inne. Nochmals geht er in Gedanken seinen Plan durch und kontrolliert seine Ausrüstung.
„Benni! Alles Gute zum Geburtstag!“ „Danke, Frau Lieselotte! „ erwidert Benjamin die Glückwünsche und schlichtet weiterhin sein Gepäck. Er hat sich seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag als Datum genommen, diesen Weg zu beschreiten. Er ist bereit.
„Was? Benjamin? DU willst DAS versuchen? Schaffst du nie! „ Benjamin setzt jedoch mutig und entschlossen einen Schritt vor den anderen. „Du bist doch zu dumm dafür! Aus Dir wird nie was, das hat Dein Vater schon immer gesagt und recht hat er! „ Die Stimmen in der Menschenmenge strömen auf ihn ein, doch Benjamin geht unbeirrt weiter. Er übertritt die Startlinie, den Trampelpfad zwischen den beiden Eichen, mit jenem symmetrischen Lächeln, das schon seine Lehrer in der Schule zum Verzweifeln gebracht hat. Einen Schritt vor den anderen. Die Stimmen werden mit jedem Schritt leiser bis zu dem Zeitpunkt, wo die gänzliche Stille eintritt.
Die Bäume riechen nach Sommer. Erleichtert über den hinter sich gelassenen Trubel aber auch den leichten, warmen Wind spürt er eine Entspannung durch seinen Körper fließen und atmet tief durch. Welch Abenteuer! Die ersten hundert Schritte sind recht unspektakulär. Einfaches Gras mit mehr oder weniger interessanten Blumen am Wegesrand. Die Baumallee geht bald in einen dichteren ungeordneten Wald über. Die hohen mächtigen Baumkronen verdecken das eben noch strahlende Sonnenlicht doch da und dort huscht ein glitzernder Sonnenstrahl durch das dichte Geäst. Plötzlich kann Benjamin weiter hinten im dichten Laub eine Gestalt erkennen. Neugierig kommt er näher und beobachtet dieses Wesen, das elfengleich durch die dunkelgrünen Blätter schwebt: Sie bewegt sich, als wenn sie von Glas umgeben wäre. Elegant in den Bewegungen und leise, wie Blätter, die langsam zu Boden fallen. Eine leise glitzernde Stimme dringt an sein Ohr, bald kann er die einzelnen Sätze wahrnehmen, die Worte schweben wie Sternenstaub zu ihm.
„Benjamin! Schön Dich zu sehen! Willkommen! “
Benjamin bleibt stehen und lässt die zarten Worte in seinen Körper fließen.
„Gestatten, darf ich mich dir vorstellen?“ Die kleine, zarte Elfe flattert auf Benjamin zu. „Darf ich?“ Und sie lächelt ihn dabei herzlich an. „Ich bin die Liebe. Und ich bin immer bei Dir. Auch wenn Du mich nicht immer sehen kannst.“ Gleich darauf schwebt sie davon, weit in den Himmel hinauf.
Benjamin atmet tief durch und geht weiter, einen Schritt vor den anderen. Eine fast übermenschliche Kraft strömt in ihn und führt ihn geradewegs fast in so etwas wie eine Trance. Purpurrote, glitzernde und funkelnde Sonnenstrahlen tanzen freudig vor seinen Augen. Allmählich ergreift ein eigenartiges Gefühl von ihm Besitz. Es kommt von weit her und lässt ihn fühlen, als wenn er eins wird mit der Natur, die ihn umgibt. Ein Baum, samt seinen Wurzeln und einer prächtigen Baumkrone die sich im Wind wiegt. Das hatte er nicht erwartet und es war ihm nie bewusst gewesen, dass es sich so gut anfühlte.
Aus einer anderen Richtung gelangte plötzlich zu ihm das Gefühl, wie ein Löwe durch den Dschungel zu streifen. Überrascht stellte er fest, wie kraftvoll sich jeder einzelne Schritt plötzlich anfühlt und wie wachsam er jedes Detail in seiner Umgebung auf einmal wahrnehmen kann. Benjamin geht weiter und weiter in diesen Gedanken. Nach einer Weile wurden ihm die Löwen und Baumgedanken zu viel und er beschloss, damit aufzuhören.
Mittlerweile auf einem braunen, endlos wirkenden Feld angelangt, registriert Benjamin irritiert eine leichte Unordentlichkeit in der Wolkendecke oben am dunkelblauen Himmel. Der Wind wird stärker und nicht einmal zwei Minuten später steigert er sich zu einem sehr starken Wind und als Schlussorchester zu einem Sturm. Als die ersten Regentropfen auf seinem Gesicht landen, schließt er seine Augen und lässt den sofort darauf folgenden Regenguss auf sich wirken. Unaufhörlich prasseln die Regentropfen auf ihn ein, er unternimmt keinerlei Versuche, sich ins Trockene zu begeben. Wohin auch? Kein Baum weit und breit, kein Haus, kein Dach, das ihm Schutz bieten könnte.
Plötzlich, wie ein Blitz, durchfährt ihn etwas Merkwürdiges. Es war kein Gedanke, es war auch kein Gefühl. Nein, es war etwas IN ihm, das plötzlich von seinem ganzen Körper Besitz ergreift. Erst in den Magen, dann im Bauch fließt dieses dunkle, schwarze Etwas durch seine Beine und anschließend bis hinauf in seinen Kopf und macht nicht mal vor seinen Haarspitzen Halt, um gleich darauf pfeilschnell in seine Zehenspitzen zu jagen.
Verwirrt schüttelt Benjamin seinen Kopf, als wenn er dieses pechschwarze Etwas abschütteln könnte. Zunehmend stärker breitet sich eine dunkelgraue Masse in ihm aus und nimmt ihm fast den Atem. So neu war dieses Etwas, so daß er es einfach nicht zuordnen konnte. In keine Schublade passte es rein, keine Kategorie oder Bezeichnung fällt ihm ein, dieses Etwas beim Namen nennen zu können, was ihm aber jetzt irgendwie geholfen hätte. Unvermittelt bleibt er stehen. Als wenn es ihm zugerufen würde, stehen plötzlich die einzig richtigen und passenden Worte in großen Buchstaben vor ihm:
A N G S T
Eine stinknormale, aufgeplusterte und sehr selbstbewusste Angst hat in ihm ein zu Hause gefunden und macht es sich gerade eben gemütlich, um zu bleiben. Benjamin in einer fremden Umgebung, nicht den blassesten Schimmer davon, wie seine Reise weitergeht und was ihn erwartet. Diese Angst baut sich nun dazu auch noch so übergroß vor ihm auf, so dass Benjamin plötzlich schwarz vor seinen Augen wird.
Ob es drei Stunden dauerte oder drei Tage, das waren nicht die ersten Gedanken, als Benjamin wieder zu sich kam. Das allererste, was er bemerkte und wahrscheinlich auch der Grund für sein Erwachen war, befand sich zu seinen Füßen, besser gesagt an seinen Schuhen.
Ein kleines Männchen hockt auf seinen Schuhen und trommelt gedankenverloren auf Benjamins Schuhspitzen. Nicht, dass er es durch sein festes Schuhwerk gespürt hätte sondern nur die Stetigkeit dieses monotonen Hämmerns ging ihm gehörig auf die Nerven.
„Kann ich dir helfen?“
„Nein, oh nein.“ Nun sieht das Männchen auf. „Mir ist nur sooooooo langweilig. Du hast aber tief geschlafen, kann ich Dir sagen.“ „Was denn, wie lange habe ich denn geschlafen?“ Benommen richtet sich Benjamin auf und versucht sich zu erinnern, was er eben als Erinnerung in seinem Kopf hervorkramen kann. „Wie lange? Hhhm, ich glaube, es war dreimal Sonne aufgehen und zweimal Mond. Ja, so wars! Aber ich wollte Dich nicht wecken. Bin ja selber zwischendurch wieder eingeschlafen.“
„Wo bin ich?“ Noch immer leicht benommen sieht sich Benjamin um. Meterhohes, braunes, gelbes Gras umgibt ihn und wenn er sich ein bisschen mehr aufrichtet, kann er in der Ferne weite Felder, Wiese und ganz hinten einen Wald erkennen. Die Sonne scheint angenehm, nicht zu heiß und das Gras bewegt sich ein wenig mit dem leichten Wind.
„Weisst Du, wo es da was zu trinken gibt?“ Benjamin kann kaum sprechen, so trocken sind seine Lippen und sein Mund.
„Ja, ich zeigs Dir, komm mit!“ Schon huschte der Zwerg davon und verliert sich im hohen Gras. Benjamin muss sich nun schon anstrengen, um ihm zu folgen und beide erreichen dann nach einiger Zeit einen wunderschönen Wasserfall. Benjamin erfrischt sich mit dem sprudelnden, klaren, eiskaltem Wasser und kann dadurch so richtig aufwachen und spürt, wie er wieder zu Kräften kommt.
„Wo kommst Du denn eigentlich her? Hab noch nie soooo einen langen Menschen gesehen. Ist das nicht furchtbar anstrengend?“ Der Zwerg setzt wieder zu einem Gähnen an und betrachtet währenddessen Benjamin von oben bis unten. „Wie heißt Du eigentlich?“ „ Ich heiße Benjamin. Und Du?“
In diesem Moment verdunkelt plötzlich ein riesengroßer Schatten die Himmelsdecke. Alles, was bis vor kurzem noch in hellem Sonnenlicht erstrahlte, wirkt jetzt leblos und kalt. Benjamin beobachtet den braunen erdigen Boden und seine Augen klettern weiter nach vorne und er kann die Umrisse des Schattens deutlicher erkennen. Dann wiederum wird die Fläche wieder heller und die Sonne erleuchtet den Untergrund und den Horizont. Bald darauf verschwindet sie wieder höflich. Benjamin und der Zwerg blicken fast gleichzeitig zum Himmel und erkennen jetzt den Grund für dieses Schattenspiel des Lichtes: Ein riesengroßer Adler gleitet durch die Lüfte und lässt sich von den Wolken, vom Wind und dem herrlichem Nichts tragen. Beide hören das leichte Zischen der Flügelschläge und schließen die Augen. Der Adler kreist ganz weit oben am Himmel, alleine zieht er seine Runden. Mit seinen riesigen Flügeln verdunkelt er bald die Sonne, dann entfernt er sich weit in den Horizont.
„Wie das wohl wäre, zu fliegen? Was meinst Du?“ Benjamin blickt immer noch fasziniert in den Himmel.
„Fridolin. So heiße ich.“ Und gleich darauf sehr entschlossen: „Lass uns fliegen. JETZT!“
„Was? Ja, also…wie meinst Du das?“ Plötzlich spürt Benjamin einen leisen Luftzug an seiner Seite und der Zwerg flitzt vor seinen Augen senkrecht vorbei, vollführt Kunststücke in der Luft, schwungvolle Pirouetten „ Komm doch! Probiers! Denk nicht nach!“ Benjamin blickt zögernd auf seine Zehenspitzen, die sich bereits einige Zentimeter vom Boden erheben. Seine Füße sind nun schon etwa zwanzig Zentimeter vom Boden entfernt und unweigerlich streckt er beide Arme an die Seite und läßt sich von der Luft tragen und schwebt nun schon in größerer Höhe fast oberhalb der Baumwipfel entlang.
Noch nie hat Benjamin so sehr seine unendliche Freiheit gespürt, er fliegt über endlos weite Wiesen und dann wieder braune, erdige Flächen, die nach einiger Zeit in grauen Kies und dann feinen Sand übergehen.
Die Bäume und Sträucher hörten nach etwa zwei Kilometer auf und dann war es da. Eine unendliche Weite an hellblau, dunkelblauem Ozean liegt vor ihm und er kann das Ende dieses gewaltigen Meeres mit seinen Augen nicht ausmachen.
Benjamin fliegt darauf zu und taucht ein, in das dunkle Blau des Meeres. Mit geschlossenen Augen spürt er die Reibung des Wassers, die unterschiedlichen Strömungen, gibt sich ganz der Natur hin, lässt sich ein, auf das Spiel dieser Kraft.
„Nicht in den Ozean der dunklen Gedanken! Nein, Benjamin! Weg von hier!“ Fridolin hält sich entsetzt seine Hand vor den Mund. „Warum habe ich nicht aufgepasst, ich hätte ihn warnen sollen, hoffentlich geht das gut!“ Fridolin ist völlig außer sich vor Sorge und fliegt oberhalbes des Meeresspiegels, stets Benjamin im Auge, wo er gerade unter Wasser ist.
Benjamin schwimmt in kühlem Wasser, genießt die Leichtigkeit seines Körpers, doch plötzlich spürt er ein Rütteln und Stoßen, die Wellen werden heftiger und die Strömungen stärker. Er öffnet seine Augen. „ Was ist…denn…hier…? Was soll das!“ ruft er in die dunkelblaue, fast schwarze Tiefe. „Was wollt ihr von mir!“ Plötzlich wird er von einem heftigen Sog blitzschnell auf den Meeresgrund gezogen. Er sieht tausende und abertausende kleine graue Pfeile, die sich wie ein Fischschwarm rund um ihn herum langsam aber sicher einkreisen. Bedrohlich wirken sie auf ihn, die Pfeile sind sehr spitz, am Pfeilende sitzen jeweils ein paar dunkelroter Augen, die ihn fixieren. Hunderttausende von Augenpaaren starren ihn an, wechselnd, je nach Entfernung.
„Wir beobachten Dich schon seit langem, lieber Benjamin. Endlich hast Du den Weg zu uns gefunden. Wir können Dir helfen, ins Paradies zu kommen. Wenn Du bei uns bleibst.“ Die Stimmen klingen nach einem dunklen Plätschern, dann wieder einem tosenden Wasserfall, es beginnt plötzlich nach Moder und Fäulnis zu riechen.
„Ich will weg hier! Lasst mich los!“ Benjamin strampelt mit seinen Füßen und Armen aber er wird von der grauen Armada voller Pfeile nun völlig in die Enge getrieben und ganz nach unten, an den Meeresboden gedrückt.
„Wir haben Dich endlich. Du bist sehr wertvoll für uns. Du kannst uns das geben, was wir brauchen. Wir haben sehr lange auf Dich gewartet.“ Blutunterlaufene, gierige Augen starren ihn an, Benjamin sieht völlig aufgeregt nach links und nach rechts, wo er denn einen Fluchtweg finden kann.
„Endlich! Willkommen, Benjamin! Gratuliere zu Deiner Entscheidung, bei uns zu bleiben! Du wirst Dich hier sehr wohl fühlen.“ Eine bedrohlich donnernde Stimme schallt laut durch die Tiefen des Wassers.
Völlig unter Schock, unfähig, sich zu bewegen, versucht Benjamin seinen Atem wiederzufinden und preßt aus letzten Kräften hervor. „Was wollt ihr von mir?“
„Du wirst das schönste Leben haben, das Du Dir nur vorstellen kannst. Alles, was Du brauchst, jemals wolltest, wird in Zukunft für Dich da sein. Nur ein Dummkopf kann da widerstehen. “ Ein schallendes aber schmutziges Gelächter dröhnt an Benjamins Ohren.
„Ich fühl mich aber nicht so wirklich wohl bei euch, das kann ich Euch sagen! Ich will frei sein!“
„Wir wollen, daß du bei uns bleibst, weil Du uns von dem Leben in der Freiheit erzählen kannst. Wir wissen nicht mehr, wie es da draußen ist. Deshalb bist Du hier. Um uns Licht in unsere Finsternis zu bringen. Du strahlst, weil Du die Sonne des Lebens in Dir hast und wir möchten, daß Du uns davon erzählst. Du willst uns doch nicht hier alleine lassen, oder? Das bringst Du nicht über Dein Herz. Nein. Niemals!“ Die tiefe Stimme wird plötzlich weicher und sanfter „Hilf uns, Benjamin! Wir wollen die Sonne spüren, die wir nicht mehr sehen können! Du kannst uns helfen!“
Benjamin beginnt zu zittern und jeder einzelne Knochen seines Körpers beginnt zu schmerzen. Ein Leben inmitten dieser Finsternis? Inmitten dieser modernden Umgebung und Schwärze? Nein, niemals! Andererseits… wenn sie nun doch meine Hilfe brauchen…ich könnte ihnen eine Menge erzählen….Benjamin denkt nach.
Die dunkelgraue Masse beginnt sich plötzlich vor seinen Augen innerhalb von Sekunden zu verwandeln. Blitzschnell verschmilzt das Heer der Pfeile nun in einen riesengroßen Käfig. Benjamin wird wie von fremder Hand in den Käfig geworfen und die tonnenschwere Eisentüre fällt laut krachend ins Schloß.
Nach ein paar Minuten spürt er, wie er wieder zu Kräften kommt. Er spürt seinen Körper und seinen Geist und so, als ob er aus einem langen Schlaf erwachen würde, strömen plötzlich helle, klare Gedanken auf ihn ein.
„Du kannst Dich selbst befreien, solange Du an Dich glaubst. Bau Dir kein Gefängnis, Benjamin! Was ist denn Dein Herzenswunsch, Benjamin! Denk an Deinen innersten Wunsch! Bleib bei Dir!“ Hell und klingend strömen die Gedanken auf ihn ein und in diesem Moment purzeln Millionen der Glitzersternchen auf ihn zu und als Ergebnis sieht er eine Explosion seiner Gedanken, jeden einzelnen könnte er benennen und beschreiben: Freiheit, Leben, Licht, Sonne, Spüren, Lachen, Lieben..eine Unmenge seiner Gedanken explodieren vor seinen Augen zu einem riesengroßen Feuerwerk.
„Ich will nicht gefangen sein und ich will auch nicht hier bleiben!“ Wie auf Kommando und blitzschnell versammeln sich die bunten Glitzersterne vor ihm und stehen Spalier, wobei jedes einzelne Sternchen klar und hell funkelt. „Wie Du willst. Wir sind Deine Gedanken. Hier geht’s in Deine Freiheit. Auf was wartest Du?“ Eine Straße, die nun vollständig aus funkelnden, strahlenden Sternchen besteht, bildet sich vor ihm und anfangs zaghaft, aber recht bald schon sehr bestimmt, setzt Benjamin seinen Fuß auf den Sternenboden, der nun ins Unendliche führt. Er spaziert darauf, sieht sich neugierig um und schon bald darauf beginnt er zu laufen, spürt unter seinen Füßen den Untergrund, fühlt sich so wie Watte an, dann wiederum wie grober Sand und zunehmend gewinnt der Boden an Festigkeit. Benjamin läuft und läuft, fast schon außer Atmen geradezu in seine Freiheit. Er kann nun schon die Sonne wahrnehmen, die oberhalb des Meeresspiegels scheint, in der Ferne, weit hinter sich hört er nur mehr dumpf die grauen Stimmen „Benjamin, bleib hier! „
Benjamin läuft weiter und immer weiter, als er endlich die Wasseroberfläche erreicht und nach Luft japsend aus dem Wasser springt.
Er spürt sofort eine kräftige Hand, die ihn an seiner Weste aus dem Wasser in die Höhe reißt und wird an das Ufer geworfen. Prustend und keuchend liegt er da und erschrocken fährt er zusammen, Fridolin bewirft ihn mit lauten Worten. „Nie wieder lasse ich Dich aus den Augen! Sowas aber auch. Wer bitteschön geht schon freiwillig und ohne Vorbereitung in den Ozean der dunklen Gedanken. Benjamin! Was hast Du Dir denn dabei gedacht!“
Fridolin putzt umständlich Sand von Benjamins Kleidung und dabei schimpft er vor sich hin.
Benjamin lässt sich lachend in den weichen Sand fallen, schließt seine Augen und fällt in einen tiefen, langen Schlaf.
Es war ein einziger Windstoß, der ihn schliesslich aufweckte. So stark, daß er den Sand aufwirbelt und mit nadelstichenartigen Schmerzen auf seinen Körper prallt. Benjamin steht auf, putzt sich den Sand aus seiner Kleidung, seinen Haaren und blickt um sich. Der Strand war langgezogen, eine kleine Bucht in etwas weiterer Entfernung zu sehen. Dazwischen höhlenartige Einbuchtungen, das Meer war ruhig, trotz des Sandsturmes am Land. Ganz langsam versucht Benjamin aufzuwachen und die Erinnerung an sein letztes Erlebnis zu bewahren. Gedankenverloren stapft er durch den Sand entlang des Ufers. Ohne Ziel, ohne Plan wandert er den Strand entlang. Sand, Steine, Muscheln, die in allen Farben, umspült vom Wasser glänzen. Jeder Stein ist wunderschön, in seiner Farbe, Aussehen, Form.
Von weitem hört er das Bellen eines Hundes. Benjamin blickt auf und sieht einen schwarzen Hund auf sich zulaufen. Es war ein kleiner, noch recht junger Hund, der sich dann um Benjamins Beine streicht und ganz klar bekundet, daß er jetzt spielen will. „Sag mal! Wo kommst Du denn her?“ Benjamin versucht den Besitzer des Hundes ausfindig zu machen und sieht nach links, nach rechts. Da entdeckt er plötzlich einen Mann, etwa dreihundert Meter entfernt am Strand sitzen. Benjamin lenkt seine Schritte zu ihm und erkennt einen älteren Mann, der gedankenverloren auf das Meer blickt. Benjamin kommt näher und hört, daß der alte Mann eine Melodie vor sich hin singt. Er kann die Worte nicht verstehen, denn die Wellen, das Meeresrauschen verschluckt jeden Ton.
Doch schliesslich ist Benjamin bei dem Mann angelangt und beugt sich zu ihm herab, um ihn zu begrüßen. Er streckt seine Hand entgegen „Hallo, ich bin Benjamin! Ist das ihr Hund?“ Der Mann reagiert nicht, sondern richtet seinen Blick unverwandt aufs Meer. „Können Sie mich hören?“ Benjamin steht fragend da und jetzt dreht sich der Mann auf die Seite. „Hallo! Ich hab sie nicht gesehen! Ich bin Kostas. Freut mich!“ „Sie sind Grieche? Ihr Name klingt zumindest so.“ „Naja, nicht wirklich. Meine Eltern sind Griechen, ich bin schon lange nicht mehr in Athen gewesen.“ Kostas schmunzelt und deutet Benjamin doch Platz zu nehmen. Gemeinsam sitzen die beiden nebeneinander und lassen die beruhigende Wirkung des Meeres auf sich wirken. Plötzlich beginnt Kostas, zu singen. Eine Melodie, die Benjamin nicht kennt, ein griechischer Text, aber sehr sentimental klingt er. Eine Weile singt Kostas vor sich hin, dann beginnt er schliesslich zu erzählen.
„Meine Liebe, meine große Liebe. Es ist wunderbar, zu lieben. Kennst Du dieses Gefühl?“ Kostas sieht Benjamin fragend an. „Naja, ich weiss nicht so recht. Verliebt sein, ja das kenne ich. Aber so richtig lieben, hhhhm, weiss nicht. Bin vielleicht noch zu jung dafür.“ Kostas lacht laut auf. „Zu jung! Ha! Ich hab das auch geglaubt! Doch als ich etwa so in Deinem Alter war, da habe ich es zum ersten Mal gespürt. Weisst Du, die Liebe, also die richtige und einzige Liebe ist so etwas, wo Du genau spürst, das ist es! Es fühlt sich alles einfach so richtig an, Du spürst Deinen eigenen Körper, Deine Gedanken und Deine Energie und weisst, alles ist richtig! Ich habs selbst erlebt. Und das lustige dabei: Alles, was vorher war, ist unwichtig. Alles schlechte, alles Böse, alles was Dir geschadet hat und Dir nicht gut getan hat, ist so weit weg. Du willst nur eines: Diese Liebe immer und ewig spüren und nie wieder hergeben. Und das beste dabei ist…“ Kostas rückt näher zu Benjamin. „Das beste dabei ist: Du erwartest Dir gar nichts von irgendjemandem anderen. GAR nichts! Es genügt Dir, zu lieben. Benjamin. Und weisst Du, wen ich damit meine?“ Benjamin schüttelt seinen Kopf. „Wen meinst Du?“
Kostas lächelt verschmitzt. „Diese Liebe gilt Dir selber, Benjamin. Dich selber zu lieben ist der ganze Sinn unseres Lebens.“
In diesem Augenblick beginnen die Wellen stärker zu werden, der Wind hebt an und innerhalb weniger Minuten entwickeln sich kräftige Wellen, die mit voller Wucht ungehemmt auf den Strand prallen. Benjamin und Kostas werden fast mitgerissen von der Wucht des Wassers.

Ende Teil 1
 
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