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Der Herbst - für Jannis

Lisa

Member
Vor ein paar Tagen wurde ich an meine alte Herbstgeschichte erinnert. Ich öffnete die Datei und mir lief es kalt über den Rücken. Denn, als ich den Namen Jannis damals wählte, hatte ich einen Jungen vor Augen. Ich kenne ihn nicht einmal besonders gut, aber ich sah ihn mit blonden Locken flitzen.

Im Januar diesen Jahres starb Jannis. Ich möchte jetzt niemanden traurig machen, nur - wenn Kinder manchmal anstrengend sind, sie unsere Kräfte manchmal bis an unsere Grenzen bringen - genießt jeden Tag mit ihnen (und natürlich auch Eure eigenen Tage)

Liebe Grüße von Lisa


Der Herbst

Jannis flitzte auf dem Fahrrad vom Badeweiher nach Hause. Sein Hund Purzel hechelte mit flatternden Ohren neben ihm her. Plötzlich aber lief Purzel zielstrebig voraus, direkt auf die alte Kastanie an der Kreuzung zu.

Auf der Bank unter dem Baum saß ein großer, breitschultriger Mann. Purzel sprang an ihm hoch, leckte ihm die Hände und wälzte sich vor Freude, als der Fremde ihn streichelte. Jannis stieg vom Rad und musterte den Mann. Er trug eine kunterbunte Flickenjacke mit vielen riesigen Taschen. Aus einer spitzte eine Weinflasche hervor. Ein Landstreicher. Jannis fürchtete sich ein wenig, doch gefielen ihm die leuchtend blauen, klaren Augen, die ihn zwischen unzähligen Falten unter buschigen Augenbrauen freundlich anblickten. Der Mann hatte Backen wie ein Apfel, rund und rot. Er kramte in einer Tasche und beförderte einen Hundekeks hervor. „Darf ich deinem Hund was geben?“

„Ich weiß nicht recht... wir sollen von Fremden nichts annehmen“, antwortete Jannis.
„Das ist auch richtig so“, sagte der Mann und seufzte. Purzel winselte enttäuscht. „Wie heißt du denn?“, fragte Jannis. „Ich hab dich hier noch nie gesehen?“
„Ich bin der Herbst.“, erwiderte der Mann und lachte dröhnend. Er fischte eine Nuss aus seiner Jacke und knackte sie genüsslich.
„Der Herbst... also...“ Jannis ärgerte sich. Er konnte es nicht leiden, wenn Erwachsene dumme Antworten gaben. „Komm Purzel. Wir gehen.“

Da rüttelte ein kalter Wind an den Zweigen des alten Baumes und warf dem Jungen eine glänzende Kastanie vor die Füße.

Der Alte schmunzelte. „Such ruhig deinen Drachen schon mal raus. Morgen wird es zu kalt sein zum Baden, aber es könnte einen tollen Wind geben, genau richtig für deinen blauen Papiervogel mit dem gelben Schwanz. Komm doch wieder hierher, dann können wir zusammen Drachen steigen lassen.“

Purzel bellte erschrocken, als die Gestalt sich einfach in Luft auflöste.Jannis rieb sich die Augen und schüttelte verwundert den Kopf.

Zuhause angekommen, freute er sich sehr, dass Oma und Opa zusammen mit Jannis’ Eltern auf der Terrasse saßen.
„Jannis, ist was passiert?“, fragte Mama besorgt. „Du bist ja ganz blass“.
Jannis verneinte. Was er erlebt hatte, konnte er unmöglich erzählen. Würde ihm ohnehin niemand glauben. Er nahm nur ein kleines Stück Kuchen und mümmelte ewig daran herum.
„Ich kann mir nicht helfen“, sagte Opa plötzlich, „obwohl es so warm und sonnig ist, hab ich das Gefühl, der Herbst liegt in der Luft.“ Er schnupperte. „Es riecht nach Nüssen, findet ihr nicht?“
„Mama, weißt du, wo mein blauer Drachen ist?“

Am nächsten Morgen war es kühl und ein weißer Dunst lag über den Wiesen. Nach dem Mittagessen gingen Jannis und Purzel zu der alten Kastanie. Der Herbst winkte ihnen schon von weitem zu. Zusammen stapften sie über die Wiese den Hügel hinauf. Dort hob der alte Mann die Arme, drehte sich im Kreis und kurz darauf blies der beste Drachenwind, den Jannis je erlebt hatte. Sein kleiner Drachen tanzte nur so in der Luft, stieg und fiel unter den weißen Wolken, die über den Himmel jagten.

Als die drei müde wurden, setzten sie sich wieder unter die Kastanie. Diesmal durfte Purzel den Hundekuchen fressen und Jannis nahm den Apfel und die Nüsse gerne an. Der Herbst hatte für den Jungen frischen Apfelsaft dabei, sich selbst genehmigte er einen kleinen Schluck Most.
„Irgendwie glaub ich das alles einfach nicht. Aber es ist super.“, sagte Jannis und biss in eine süße Birne.
„Du fragst dich vielleicht, warum du mich sehen kannst?“, fragte der Herbst. „Nun, ich suche mir jedes Jahr einen Helfer, denn es macht einfach mehr Spaß, wenn man zu zweit ist. Morgen kommt erst mal für ein paar Tage Frau Sommer zurück, aber wenn ich deine Hilfe brauche, kann ich dann auf dich zählen?“
„Klar! Das heißt, wenn ich dir helfen kann. Was soll ich denn tun?“
„Nichts Schwieriges, an die Bäume klopfen und die Eichhörnchen daran erinnern, dass sie Nüsse sammeln müssen, den Schwalben zuwinken, damit sie sich sammeln, Blätter färben und solche Dinge...“
Jannis war begeistert. Sie schüttelten sich die Hände, und der Herbst verschwand wieder. Nur sein Lachen klang noch im Wind.

Endlich war es soweit. Jannis half seiner Mama im Garten, als es mit einem Mal kühler wurde. Er blickte auf und sah den Herbst, der fröhlich einen dunkelblauen Schlapphut schwenkte. „Darf ich noch ein bisschen rumradeln?“, fragte Jannis. Er musterte seine Mama. Sie konnte den Herbst offenbar nicht sehen.

Mit großen Schritten marschierte der Herbst dahin und erzählte lustige Geschichten. Jannis und Purzel sausten neben ihm her. Vor einem Baum blieb der Herbst stehen. „Wir fangen hier an.“ Er reichte Jannis einen Holzstab. „Berühre damit die Linde.“ Als Jannis den Stab nahm, wurde ihm ein wenig schwindlig. Er klopfte gegen den Stamm und sofort taumelten einige Blätter langsam zu Boden. Eine dicke Raupe kroch eilig über den Weg. „Aha, sie sucht sich jetzt ein Plätzchen, wo sie warm und geborgen die kalten Wintertage über schlafen kann“, brummte der Alte und lächelte vergnügt. Ein paar neugierige Eichhörnchen guckten zu den beiden herunter. Der Herbst keckerte in ihrer Sprache und sie antworteten. Kurz darauf hörten sie die Tiere in den Buchen streiten. „Immer das Gleiche. Die raufen sich jedes Jahr um die Bucheckern, Nüsse und Eicheln, egal wie viele an den Bäumen hängen. Richtige kleine Raufbolde sind das.“ An der Art, wie seine Augen glänzten, sah Jannis aber, wie gern der Alte die rotbraunen Gesellen mochte.

Singend zogen die beiden durch den Wald und färbten nach und nach alle Blätter. Jannis malte die Blätter der Ahornbäume gelb, der Herbst ließ die Buchen in roten Farben leuchten. Er kitzelte die Bucheckern, die sogleich sie ihre stachligen Schalen kichernd öffneten. Jannis guckte genau zu und strich mit einer Feder über die Kastanienschalen. Prasselnd fielen die dunklen, glänzenden Früchte auf den Waldboden.
Mit einem kurzen Regenschauer lockten sie die Pilze aus dem Boden. Der Herbst zeigte dem Jungen, welche besonders gut schmeckten. „Aber nicht übermütig werden“, mahnte er, „ein paar sind ganz schön giftig. Zeig sie immer vorher einem, der was davon versteht, bevor du sie isst. Versprochen?“ Jannis nickte.

Einmal summte der Herbst eine zarte Melodie. Kurz darauf erschienen unzählige Spinnen und kletterten einen Baum hinauf. „Los geht’s!“, rief der Alte, blies die Backen auf und pustete ein ordentliches Lüftchen. Die Spinnen ließen sich jauchzend fallen und schwebten auf ihren glänzenden Fäden durch die Lüfte davon.
„Das würd’ ich auch mal gerne machen, einfach davon schweben“, rief Jannis.
„Nun, vielleicht wirst du heute Nacht davon träumen“, antwortete der Herbst. „Ich werde die Traumfee mal fragen.“
Die Spinnen, die nicht davongeflogen waren, webten kunstvolle Netze über die Hecken, in denen frühmorgens der Tau glitzern würde.

Jeden Tag wurden die Wälder bunter, die Gräser auf den Wiesen dürrer und der blaue Himmel spannte sich klar über der Welt. Jannis passte gut auf, wenn er Wind machte, damit nicht gleich die ganze Pracht von den Bäumen gefegt wurde. Die Blätter, die am Boden lagen, durfte Purzel zu großen Haufen scharren. „Schau, wie ihm das Spaß macht“, lächelte der Herbst. „Und wir müssen gar nicht pusten.“ Bald kamen auch die ersten Igel und besichtigten ihre Winterwohnungen.

Als sie an einem Mauseloch vorbeikamen, ließ der Herbst etliche Nüsse in der Nähe fallen. „Die Ärmsten haben vor ein paar Wochen all ihre Vorräte verloren. Ihr alter Bau ist durch einen heftigen Regen vollkommen zerstört worden. Gut, dass sich wenigstens alle Mäuse in Sicherheit bringen konnten.“

Eines Abends saßen Jannis und der Herbst wieder unter der Kastanie. Jannis bemerkte, dass sein Freund dünner und blasser aussah. „Bist du krank?“, fragte er besorgt. Sogar die Flickenjacke des Herbstes wirkte stumpf und farblos.
„Nein, nein, ich muss mich nur ein paar Tage ausruhen. In der Zwischenzeit wird mich mein Bruder vertreten. Dort hinten kommt er ja schon.“
Eine düstere Gestalt schlich den Feldweg entlang, Nebelschleier umschwebten ihn. Jannis schluckte. „Also, Dunkelherbst arbeitet lieber alleine, keine Bange.“
Jannis lachte. „Mit dem würd ich auch nicht gerne umherziehen! Der macht mir richtig Angst.“

„Aber – wenn es ihn nicht gäbe, könnte die Winterkönigin nicht kommen. Denn ich bin für sie immer noch viel zu warm. Du magst doch den Winter, oder?“
„Und wie! Schlitten fahren und Schneemann bauen – und die Weihnachtszeit...“
„Na siehst du.“ Der Herbst schenkte Jannis ein großes Früchtebrot und eine Nuss. „Wenn du sie gleich pflanzt, wirst du bald einen wunderschönen Haselstrauch im Garten haben.“

Sie umarmten sich, der Herbst klopfte dem Jungen kräftig auf die Schulter und kraulte Purzel. „Bis in ein paar Tagen!“
Jannis und Purzel machten sich rasch auf den Heimweg, bevor der Dunkelherbst die Bank erreicht hatte.
„Morgen wird es kalt und neblig“, sagte Jannis beim Schlafengehen zu seiner Mama. Und so war es auch.
 
Danke, liebe Ulrike - auch Dir ein schönes Wochenende und einen wundervollen Herbst (langsam ziehen die Maler rum und lassen die Wälder leuchten, soooo schön, bei uns war es bis vor ein paar Tagen noch total grün)
Herzliche Grüße von Lisa
 
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