Der „Bschriebene Stein“ im Vikartal
Von Dr. Herbert Kuntscher, Innsbruck – Troisdorf
Hoch über dem engen, wald- und blockerfüllten Graben des Vikartales breiten sich sanfte und ausgedehnte Hochmulden und Böden, die in schroffem Gegensatz zur Wildheit des Talschlusses und der Baumgrenze stehen. Die Steilheit der Flanken und Hänge des Morgenkogels und des Signalkopfes, der Mohrenköpfln und der Vikarspitze mildern sich und werden abgelöst von oft wasser- und schneerfüllten Vertiefungen und trümmerreichen Blockhalden. Glungezer, Kreuzspitze und Morgenkogel bilden mit ihrem Verbindungskamm, den Abschluss des Talrunds, das blumenreiche Rasenpolster, glitzernde Seelein und plätschernde Rinnsale zieren.
Der "Bschriebene Stein"
Aufnahme Karl Kuntscher
Dort in den „Seegruben“ steht, wie man aus den meisten Karten entnehmen und in vielen Wanderbeschreibungen lesen kann, knapp neben dem Bachlauf der „Gschriebene oder Bschriebene Stein“. Staffler bemerkt in seiner Landesbeschreibung (Bd. 1, S. 930, 1842), dass es ein mächtiger Steinblock sei, der mit kaum mehr kenntlichen Buchstaben die Inschrift trage: Maximilian 1489 (1). Diese Erklärung wurde von den meisten in der Folge erschienenen Wanderführern übernommen und allgemein einer Jagdgesellschaft Kaiser Maximilians die Schriftzeichen und -damit die Benennung „Bschriebener Stein“ zugewiesen. Bei den einheimischen Hirten und Bauern ist dieser Name durchaus geläufig, eine Erklärung freilich wissen sie in den meisten Fällen nicht. Die Bezeichnung „Gschriebener Stein“ dürfte wohl auf falscher Niederschrift des mundartlichen Lautbildes beruhen, sprachlich und sinngemäß richtig ist zweifellos „Bschriebner Stoan“.
Wandert man vom Meißner Hause am aussichtsreichen Vikar-Hochleger vorbei den bezeichneten Weg zur Kreuzspitze, so kommt man nach etwa anderthalb Stunden zum ersten flachen Boden über dem Talschluss, wo in rund 2100 Meter Seehöhe der Bschriebene Stein steht. Es ist dies ein großer, ziemlich freistehender Glimmerschieferblock, der ungefähr dreikantig ist, am Boden einen Umfang von 17 Meter besitzt und dessen Höhe auf gut 5 Meter geschätzt werden darf. Vor einigen Jahren noch (1934) stand auf seiner Spitze eine mit F. Z. gezeichnete kleine und rostige Blechfahne, die mittlerweile (1940) verschwunden ist. Bei genauer Betrachtung sind tatsächlich an manchen Stellen der glatten Felsfläche Zeichen aufzufinden, die allerdings bereits stark verwittert sind und deswegen besonders schwer als regelrechte Buchstäben aufgefasst zu weiden vermögen. Die Zeichen befinden sich in der Hauptsache auf der Nordost- und Westseite des Steines. Die Abbildung gibt eine übersichtliche Darstellung der erkennbaren Eingravierungen. Irgendeinen Sinn, eine Zeichnung, Darstellung oder ein Wortbild aus dem Wirrwarr der Striche herauszufinden, gelingt nicht. Ein Teil der eingemeißelten Striche ist kaum mehr kenntlich und nur noch andeutungsweise erhalten. Auffallend ist das häufige Vorkommen von Vierecken und die Darstellung von Kreuze n, die auch auf der weniger reich mit Zeichen versehenen Westseite erscheinen. Ansonsten ist auch aus dem gesamten Erscheinungsbild irgendeine Bevorzugung eines besonderen Zeichenelementes nicht zu entnehmen, gerade Linien und Bogenstücke kommen gleichwertig nebeneinander vor. Ein Alter der „Beschreibung“ schätzungsweise festzustellen, ist ohneweiters nicht möglich. Es muss aber besonders überraschen, dass bei der Betrachtung in der Natur Altersunterschiede deutlich zu erkennen sind: neben ausgewaschenen, flachen und flechtenüberwachsenen Vertiefungen treten ziemlich frische, scharfkantige und wenig verwitterte Einschnitte auf. Es ist daher wahrscheinlich, dass sich zu den von älterer Zeit stammenden Zeichen neue dazu gesellt haben. Dieses kaum scharf trennbare, zeitlich verschiedene Nebeneinander von allerlei rätselhaftem Strichwerk wird sich wohl kaum entziffern lassen.
Schriftzeichen der Nordostseite des "Bschriebenen Steins"
Wichtiger ist es, festzustellen, woher die rätselhaften Zeichen stammen könnten. In dieser Hinsicht bestehen mehrere Deutungen.
Die eingangs erwähnte Ansicht, dass eine Jagdgesellschaft Maximilians hier ihre Namen und die Jahreszahl hinterließ, beruht auf einer Beschreibung in der Ellbögner Pfarrchronik, des Hausbuches des Widums zu St. Peter. Es heißt dort (2):
„......Von Mühlthale aus vührt durch eine Bergschlucht ein Weg nach der zwey Stunden entpfernten Alpe Viggar genannt, welche im Sommer von Hirten bewohnt ist. Merkwürdig ist in dieser Alpe ein Wasserfall, und ein Viertl Stunde von obern Läger entfernt eine Ebene, welche mit Felsentrümmern ganz überdeckt ist, die sich der Volkssage nach von den Rothwandspitzen auf den schönsten Theil der Obernalpe herabgestürzt haben. Auf einem bey 20 Schuh' hohen Felsenstück findet man mit römischen Buchstaben den Nahmen Kaiser Maximilian des 1 sten und deutschen Ziffern die Jahrzahl 1489 eingehauen.“
Tatsache ist jedenfalls, dass das Vikartal zu den Jagd gründen Maximilians gehörte und in seinem bekannten Jagdbuch angeführt ist. Wieweit die obige Angabe auf historischer Richtigkeit beruht, müssten weiter zurück datierte Belege beweisen. Die Möglichkeit aber besteht durchaus.
Eine andere Erklärung meint, dass die Senner hier ihren alljährlichen AImnutzen aufgezeichnet haben. Doch ist es nicht einzusehen, warum diese ausgerechnet Dreiviertelstunden von der Alm entfernt auf einem schwer bearbeitbaren Stein ihre Aufzeichnungen machen sollten. Schon eher möglich ist, dass die in der Umgebung hütenden Hirten zum Zeitvertreib allerlei in den Stein gemeißelt haben.
Wahrscheinlich dürfte es so gewesen sein, dass in weiter zurückliegender Zeit Besucher die ersten Zeichen schlugen. Als in der Folge die Jäger und Hirten, die in dieser Gegend weilten, den Felsblock näher betrachteten, bemerkten sie diese und der Stein erhielt seinen besonderen Namen. Hin und wieder nun meißelten auch sie Buchstaben ein und konnten sie nicht schreiben (was wohl meist der Fall war), so wurde eben mit mehr oder minder großer Geschicklichkeit und Sorgfalt ein Kreuz oder sonst ein Zeichen eingeritzt. So kam das Durcheinander der seltsamen Zeichen zustande, von dem der Block seinen Namen trägt. Dieser Hang zur Hinterlassung von „Andenken“ äußert sich auch an den an einigen Stellen sichtbaren Anfangsbuchstaben von Namen, die mit roter Farbe auf den Stein gepinselt wurden. Ein Hirte der Gegend meinte sogar, dass deswegen der Stein so genannt werde.
Übrigens ist der Bschriebene Stein auch in mehreren heimatlichen Sagenbüchern angeführt: Alpenburg (Mythen und Sagen Tirols, 1877) erwähnt seine Umgebung als Wohnort einer Seeschlange und sagt über den Stein selbst: .... „steht ein riesiger Steinblock, hoch und breit wie ein dreistöckiges Haus, in welchen verschiedene Buchstaben eingegraben sind, die nicht mehr zu deuten“. Auch in den „Tiroler Sagen“ von K. Paulin ist diese Geschichte in ähnlicher Fassung wiedergegeben.
Neben allen diesen Deutungs- und Erklärungsversuchen, die von der Fragestellung ausgehen, wie die Schriftzeichen auf den Stein gekommen sein mögen und deren unterschiedliche Antworten solange gleichwertig sind, bis es durch Auffindung entsprechender Urkunden gelingt, geschichtlich einwandfreie Belege für ihre Gültigkeit beizubringen, besteht eine Ansicht, die, so unglaubwürdig sie auf den ersten Blick erscheinen mag, doch den Dingen auf den Grund zu gehen vermöchte. Die Vermutung, dass wir es beim Bschriebenen Stein mit einer urzeitIichen KuItstätte — nicht im Sinne eines Opferortes o. ä., sondern, wie noch näher ausgeführt werden soll, als Fixpunkt einer räumlichen und zeitlichen Ordnung im Wechsel der regelmäßig wiederkehrenden Naturvorgänge — zu tun haben, ist durch verschiedene Anzeichen nicht von der Hand zu weisen (3). Leider war und ist es mir derzeit nicht möglich, die umfangreichen Messungen und Berechnungen, die eine endgültige Klarstellung erfordern würde, durchzuführen. Vielleicht kann dies zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Aus diesem Grunde sind auch die folgenden Ausführungen mit allem Vorbehalt aufzunehmen und vorläufig als eine allenfalls bestehende Möglichkeit aufzufassen. Dass sie dennoch ausführlich verzeichnet wird, hat seinen Grund in der Überzeugung, dass dadurch die Erklärung des Rätsels vom Bschriebenen Stein von einer rein historischen Merkwürdigkeit auf die weitere und bedeutungsvollere Ebene der Vorgeschichte verschoben würde. Es sei gestattet, dazu etwas weiter auszuholen.
Kultstätten verschiedener Art sind bereits in großer Zahl bekannt (4). AIs eindeutig sichergestellte Kultstätten gelten z. B.: Die Externsteine im Teutoburger Wald, der Steinkranz von Stonehenge in Südengland, der Steintanz von Bützow in Mecklenburg. Dass aber auch im Gebirge Kultstätten bestanden, beweist G. Innerebner für den Jobenbühel am Montiggler See in der Umgebung von Bozen (5).
Wozu diente eine solche Kultstätte?
Der einfache Mensch der Urzeit wusste als guter Naturbeobachter, dass bestimmte Vorgänge in anscheinend ähnlichen Zeitabständen wiederzukommen pflegen (Sonnenaufgang, Gestirnsbewegung, Jahreszeiten). Ihn interessierte weniger der Vorgang als solcher sondern er wollte die Zeit einteilen, um mit annehmbarer Genauigkeit solche Ereignisse vorausbestimmen zu können. Damit trat, der Begriff Zeit in sein Leben. An sich natürlich nichtssagend, solange ihm ein Bezugspunkt fehlte. Nichts aber lag näher als seine Umgebung, also seine ruhende Umwelt dazu heranzuziehen. Der Begriff des Raumes entwickelte sich. Beide, Raum und Zeit, beherrschen in ihrem Zusammenhang jedwedes Leben überhaupt. Der Raum ist das Ruhende und Beständige, die Zeit das Bewegliche und Fortschreitende.
Es galt daher als folgerichtige Handlung, zum Mittelpunkt beider Begriffe das menschliche Leben zu nehmen. Der Beobachter stellte bald fest, dass z. B. die Sonne nicht täglich am gleichen Platz auf- und untergeht, sondern wechselt und im Laufe der Zeit weiteste und engste Grenzen berührt, die nicht überschritten werden. Die Sonnenwende war auf diese Art entdeckt und die Bedeutung, die ihr im Naturgeschehen zukommt, rechtfertigt ihre festliche Begehung, die heute noch in überlieferten „heidnischen“ Bräuchen vorhanden ist. Eine Markierung solcher Sonnenstände konnte nur durch Festlegung bestimmter Merkmale, z. B. eines Baumes oder Felsblockes in der Ebene oder einer bestimmten Bergkuppe im Gebirge möglich sein. Das Wiederauftreten der Sonne an diesem oder jenem Ort bedeutete für den Urmenschen ein aus seiner Erfahrung bekanntes Merkmal, nach dem er die Zeit einteilte. Mit fortschreitender Entwicklung gelang ihm eine weitgehende Unterteilung des Jahresbogens und damit die immer genauere Festlegung einer geordnet ablaufenden Jahreseinteilung, wobei bald Sonne oder Mond, Fixsterne oder Planeten zur Grundlage gemacht wurden.
Es ist einleuchtend, dass zur Vornahme solcher Messungen jeweils durch ihre Lage, Umgebung oder sonstige Eigenschaften hervorragende Orte benutzt wurden. Je ausgeprägter ihre Umgebung war (Gipfel, Kuppen, Jöcher), desto genauer konnte die Einstellung vorgenommen werden. Das ist der Vorgang, der heute als Ortung bezeichnet wird, d. h. die geometrische Einstellung zu einer Bezugsrichtung, um Zeit und Raum von dieser festen Linie aus eindeutig zu bestimmen. Die so gewonnenen OrtungsIinien stehen meist auch untereinander in einem bestimmten geometrischen Verhältnis.
Diese allgemeinen Ausführungen deuten genügend an, welche entscheidende Rolle allenfalls dem Bschriebenen Stein zukommen könnte. Eine Beziehung, die zumindest auffällig ist, ist folgende: Eine Verbindungslinie zwischen dem Bschriebenen Stein und St. Georgenberg (bei Schwaz) trifft genau die WaIdrastgegend. Eine darauf mit dem Mittelpunkt des Bschriebenen Steins errichtete Senkrechte führt über „Boscheben“ am Patscherkofel-Westhang (wo sich nach Angabe von Herrn Dipl.-Ing. Rüdiger eine weitere Kultstätte befinden könnte) in die Kranebitterklamm (6). Alle die genannten Orte haben möglicherweise Ortungsbedeutung.
Das Problem der Ortung im Hochgebirge ist noch fast völliges Brachland und bisher kaum behandelt, die obigen Angaben sind daher nur als Vermutung zu werten.
Für den Bschriebenen Stein wäre zunächst festzustellen, ob und in welcher Art Beziehungen der Bergumgebung zu gewissen Sonnenständen oder Gestirnbewegungen bestehen, diese zu vermessen und zu berechnen. Außerdem müsste dabei auf allenfalls vorhandene richtungweisende Steinsetzungen geachtet werden. Erst nach Vorliegen solchen einwandfreien Materials könnte ein näheres Urteil abgegeben werden. Die Schriftzeichen jedoch können m. E. dabei vernachlässigt werden, denn es ist kaum zu denken, dass die Verwitterung im Hochgebirge sie über einen so langen Zeitraum bestehen hätte lassen. Sie dürften wohl, wie eingangs geschildert, von Besuchern viel späterer Zeit stammen.
Immerhin ist damit eine Frage von nicht geringem Interesse und heimatkundlicher Bedeutung angeschnitten und es wäre erfreulich, wenn gegebenenfalls Freunde der Sache sich weiter um den Bschriebenen Stein annehmen wollten, damit dieser nicht länger ein, seinem Namen wenig Ehre machender, „unbeschriebener“ bleibe!
(1) Vgl. H. Hörtnagls Schilderungen vom Vikartal, Innsbrucker Nachrichten, 4. Sept. 1920 und Tiroler Heimatblätter 1930, S. 199.
(2) Pfarr-Archiv Ellbögen, Lade M, Mappe I, Nr. 1: Kirchliche Topographie und Statistik der Kuratie Ellbögen, Seite 3. Verfasser ist der Kurat von Ellbögen 1835 Niedermayr (dankenswerte Mitteilung des dortigen Pfarramtes).
(3) Herrn Dipl.-Ing. Rüdiger, Innsbruck, danke ich für verschiedene wertvolle Hinweise auch an dieser Stelle herzlich. Seine Ansicht (Privatmitteilung), die Schriftzeichen nicht einzeln, sondern aus ihrem ganzen Erscheinungsbild (Ursache, Wirkung) als Überbleibsel einer versunkenen KuIturperiode zu deuten, in welcher einzelne, geistig vorausschauende Menschen intuitiv höher als verständlich entwickelt waren, die dann von bestimmten Kultstätten aus Gestirnsbeobachtungen usw. vornahmen, um bevorstehende geistige und körperliche Aussichten (Heirat, Tod usw.) zu erfahren, scheint mir zu sehr in das Gebiet des Unexakten zu schlagen, um heute schon ernstlich vertretbar zu sein.
(4) R. Müller: Himmelskundliche Ortung auf nordisch-germanischem Boden. Leipzig, 1936. — O. S. Reuter: Germanische Himmelskunde.
(5) Der Jobenbühel, eine zeitweisende Kultstätte der Urzeit; Der Schlern 1937, S. 46 (mit Abb. und Karten). Vergl. auch, G. Innerebner, Der Menhir von Villandro. Ebenda, S. 184.
(6) Rüdiger, Die Hundskirche in der Kranebitter Klamm. Tiroler Heimatblätter, VII, 1929, Seite 120.
Quelle: Herbert Kuntscher, Der "Bschriebene Stein" im Vikartal, in: Tiroler Heimatblätter, 19. Jahrgang, Heft 7/8/9, 1941, S. 99 - 103.
Wolfgang (
SAGEN.at)