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Abgesang an einen kleinen vogel

Elfie

Active member
(Ein paar Jährchen her und leider ohne Fotos)

Du bist mir – nein, nicht in den Schoß – auf den Gehsteig vor meinem Haus gefallen. Auf jenen knappen einen Meter zwischen Steinwand und Fahrbahn, wer weiß woher.
Wer weiß auch, wie lange schon der Windschatten der LKW´s den zarten Flaum auf Kopf und Brust zerwirbelt hat. Richtige Flügelfedern gibt´s jedenfalls schon.
Damit hast du dich auch sofort zwei Mal in Folge aus dem provisorischen Nest katapultiert, das ich dir zur Verfügung gestellt habe, ein verlassenes vom Nistkasten im Marillenbaum. Und diese Verfügung hängt jetzt mittels Blumentopf in einem Gebüsch, hoch genug um deinen Eltern, die unentwegt zu hören sind, sagen zu können: da bin ich. Tief genug um dich zu füttern, falls die Botschaft doch nicht ankommt.
Weiß der Fink – übrigens Grün – warum, es reicht nur zur Kommunikation. Und davon kann kein Vogel leben.

Meine Gedanken während der Anreise waren vielfältig aber in keinem Fall positiv gewesen. Und jetzt auch das noch.
Gerade angekommen nach 4 deprimierenden Tagen war jetzt Futtersuche angesagt. Wo zum Teufel waren die Viecher, die für gewöhnlich immer die Wohnung vernetzen und die Fenster verscheißen?
Nein – ich bin keine gute, zumindest keine gutversorgende Vogelmutter. Die Taschen bleiben stehen, auspacken zahlt sich ohnehin nie wirklich aus. Die Pausen zwischen Fliegenfangen und Spinnen jagen werden mit Beobachtungen genutzt: pfeifen die Vogeleltern nur herum oder entschließen sie sich doch, den einen oder anderen Wurm für den aufmüpfigen Nachwuchs zu besorgen. Ergebnis negativ. Und du sperrst unentwegt den Schnabel auf.

Später der Anruf bei der Freundin: sag, gibt´s bei euch noch dieses Zoogeschäft?
Aber ja, kompetent und günstig: beraten, scherzen, Madenkauf. Dicke Dinger, denen man vor Fütterung den Kopf vernichten muss.
Mahlzeit – du bist begeistert.
Dann wieder Tag der Abfahrt, mit Blumentopf im Gebäck.
Die Autofahrt ist kein Problem, der Gefährte interessiert und positiv: hurra, wir haben wieder mal ein gemeinsames Thema.
Die Maden gehen nicht nur ihrem eigenen sondern auch mengenmäßig dem Ende entgegen. Doch auch hier gibt´s Quellen. Das schon zur schönen Gewohnheit gewordene Fuchsfutter wird als eine solche missbraucht: im eine Spur geöffnetem Plastiksackerl in die Sonne gelegt, kann man damit jede Menge Fliegen fangen.
Du wächst schnell, magst nachts nicht mehr im Nest sondern auf einem Ästchen schlafen, doch noch geschützt in einer Kiste. Abgedeckt, denn Licht stört, Lärm nicht.
Ein letzter Blick vorm Schlafen geh´n schockiert: wo ist der Kopf?
Unterm Flügel – o.k., Artverhalten hautnah. Wer ahnt das schon beim täglichen Gezwitscher.

Im kleinen Garten gibt´s wenig Schatten. Ein einziger Busch Blutberberitze, dort bist du auch fortan deponiert. Sitzt auf dem zugewiesenen Ast, wartest auf Futter und besuchst völlig unerwartet die darunterliegende Vogeltränke. Kannst mit dem Stein in der Mitte nichts anfangen, begibst dich auf den Rand und versuchst instinktiv, aber mit ungeübten Bewegungen zu baden. Schickst dich aber gleich an, im Gras das Wasser wieder abzuwischen. Dann, dem Wasser wieder zugewendet, eine unbedachte Bewegung und ein Vollbad. Mit entsetztem Geflatter zurück auf den rettenden Baum.
An diesem Tag entdeckst du eine andere, dichtere Staude und kommst auch abends nicht zurück. Mit anbrechender Dunkelheit versiegt die übliche Konversation, die in „Hallo?“ – „Tschii!“ besteht.
Du bist eingeschlafen.
Frühmorgens öffne ich mit einem ängstlichem „Hallo?“ die Türe und siehe da: „Tschii, Tschii, Tschii…“, es steht für alles zugleich: „guten Morgen, Hunger, du Rabenmutter, ich bin ein Grünfink!!

Unmengen an Maden, Fliegen, Mücken – die letzten beiden Spezies eigenhändig gefangen, verschwinden in dieser halben Handvoll hüpfenden, tschiependen, flatternden Leben. Mit Pinzette in den permanent offenen, kreischenden Schnabel geschoben.
Vier Tage lang, dann alles retour zum Fundort. Dort hört man keine Eltern mehr. Der Sohn – oder ist es eine Tochter? – sitzt jetzt im selben Gebüsch wie vormals die Eltern und versucht, auf Zuruf herbeizufliegen, aber die Navigation ist noch nicht richtig einstellbar.
Plötzlich ein Geschrei, Amseln zetern – sie sind immer auf Kontrollposten. Ich laufe vor die Türe: „Hallo?“ „Tschii“ – o.k., später stelle ich fest: am Heck stimmt was nicht. Wo schon ein ganz passables Schwänzchen war, bilden plötzlich die Flügelspitzen das Ende des Vogels.
Der Verdacht, irgendein Bösewicht hätte dich gepackt und das allgemeine Geschrei verursacht, wird später durch die Aussage der Expertin zerstreut: die Künstlerin, welche seit kurzem als Steinbildhauerin das angrenzende Glashaus mit Kompressor-Werkzeugen bedröhnt, outet ihr einst begonnenes Biologiestudium: es gibt auch eine Schockmauser!
Das heißt: Bösewicht ja, aber zum Zupacken muss es nicht gekommen sein.

Am übernächsten Tag wieder Übersiedlung, Auto fahren dürftest du mögen.
Auch Fliegen magst du, nicht nur als Futter, sondern als Lebenstraining. Nur eines magst du nicht: picken. Du hast bereits die Größe deiner Artgenossen, die Babyleisten am Schnabel sind weg und jeder Vogel ohne Schwanz wirkt irgendwie unfertig. Vor allem das emotionale Schöpfchen aufstellen zeugt vom erwachsen werden.
Bloß: du kannst nichts aufnehmen! Wippst wie irre mal hin, mal her. So, als ob du das Objekt der Begierde - Spezialfutter, das ich inzwischen besorgt habe – erst mit dem einen und dann mit dem anderen Auge begutachten müsstest. Nur nehmen ist nicht – du lässt es dir geben.
Augenkrankheit oder Dachschaden? Aus dem Nest gefallen eben, das kann schon Folgen haben!

Langsam wäre mir Selbstständigkeit sehr lieb. Füttern o.k. – auf einem Platz mit allem Komfort: Windschutz, Wassertöpfchen… Aber eben Selbstbedienung!
Ich installiere alles auf der kleinen Terrasse vor der Haustüre auf einem passablen Küchenbrett und setz dich mitten drauf. Immer wieder. Pike inzwischen mit allen zehn Fingern vor, die du interessiert verfolgst. Letztendlich stopfe ich wieder in dich hinein: neues Futter, mit unterschiedlichen, auch gelben Anteilen. Das dürfte dir schmecken: mein Gott, jetzt hat er´s!
Lebendfutter muss immer noch transferiert werden, aber nur noch bis zum nächsten Tag. Danach haben selbst die kleinen, von mir aus dem Komposter gescharrten, sich verzweifelt kringelnden Würmer keine Chance.

Erfreut berichte ich dem ebenfalls sehr interessierten Gefährten von der Neuigkeit um gleich darauf zu sagen: morgen bleibt er da. Diesen Garten kennt er, da gibt es keine Straße, lediglich Raben, Spechte, Eichelhäher, die gerne kleine Vögel fressen, aber das Leben ist nun mal lebensgefährlich.
Was das deine noch ein wenig gefährlicher macht, ist deine Vorliebe, auf dem Boden herum zu hüpfen. Sei es weil ich dich dann sofort aufnehme und knuddle, das hast du offensichtlich sehr gern, oder warum auch immer. Von der Gefahr, unter irgendwelche Füße zu gelangen, weißt du nichts. Und morgen Abend steht zahlreicher Besuch ins Haus, keiner unter Schuhgröße 41.
Der Abschied fällt mir nicht ganz leicht, am Zielort deponiere ich sofort eine Telefonbotschaft: bei allgemeinem Eintrudeln Vogel wegsperren, später um Achtsamkeit bitten. Und bat um Nachricht. Diese kam am nächsten Morgen: alles hat geklappt, der kleine Clown endete nicht unter irgendwelchen Schuhsohlen, sondern hüpfte von Haupt zu Haupt und war der Star des Abends.

Anderntags bei meiner Rückkehr war – noch mit einem Bein im Auto – das erste Wort „Hallo?“ „Tschii“ – du sitzt in der großen Eibe, kommst aufs Geländer und in meine Hand.
Würmer gibt’s noch in der Dose, Fliegen gibt’s immer und natürlich die gelben Körnchen.
Freudig geht eine SMS an den bereits auf seinem 3 Fahrstunden entfernten Hof weilenden Gefährten: Danke für die Pflege.

Dann verdüsterte sich der Himmel.
Ein furchtbarer Sturm bricht los, tötet zwei Menschen in der Stadt und einen dritten im Umland. Das Futterbrett ist weggeflogen und zerbrochen von der Wucht.
Mit zitterndem Herzen suche ich anderntags in der üppigen Vegetation, in der deine Plattform gelandet war, nach deiner Leiche.
Nichts. Gott sei Dank.
Aber auch mein „Hallo“ bleibt ungehört. Ich lausche auf jedes Tschii in jede Richtung.
Hallo? Kein Tschii. Noch Tage lang.

Das Futter werden die anderen Vögel bekommen. Nicht gleich – der nächste Winter kommt bestimmt. Der Grünfink wohl nicht mehr.

Fortgeweht.

Ich hätte dich rechtzeitig hereinholen sollen, du warst noch so klein und hattest keine Eltern, die dir sagten: „Pass auf, die Welt ist kein Fliegenfangen! Da gibt’s große Schuhe, Vögel, die andere Vögel fressen und Stürme, die ganze Bäume ausreißen.“
Vielleicht hat es dich auch von Baum zu Baum geweht und du hast gefunden: hier ist es auch schön. Abseits der bekannten Futterschüssel hast du dann andere Vögel gefunden und bist dir endlich deines Vogelseins bewusst geworden.

Und im nächsten Jahr baust du dein eigenes Nest.
Bitte nicht in Gehsteignähe.


Frühling 2006
 
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