• Willkommen im SAGEN.at-Forum und SAGEN.at-Fotogalerie.
    Forum zu Themen der Volkskunde, Kulturgeschichte, Regionalgeschichte, Technikgeschichte und vielem mehr - Fotogalerie für Dokumentar-Fotografie bis Fotogeschichte.
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst Du eigene Beiträge verfassen und eigene Fotos veröffentlichen.

Die 1968er Studentenbewegung in einer kleinen deutschen Hochschulstadt

Babel

Active member
Revolution mit Kindertrompete


Ende 1968 bekommt ein Münchner Professor einen Lehrstuhl an einer westdeutschen Hochschule und nimmt seine Assistenten mit. Die Ehefrauen der Assistenten, sofern vorhanden, müssen notgedrungen mit umziehen.

Die, von der hier erzählt wird, zieht also auch um. Von der neuen Stadt sieht sie nicht viel, denn einen Krippenplatz für die dreijährige Tochter bekommt sie nicht. So sitzt sie in einem schläfrigen Vorort, und die Decke fällt ihr auf den Kopf. Sie liest, strickt und tippt Diplom- und Doktorarbeiten.

Nachbarn? Von der Nachbarin gegenüber kennt sie lange Zeit nur ihr volumentöses Hinterteil – wenn die nämlich gebückt die drei Stufen vor ihrer Haustür aufwischt; das tut sie täglich, da ja ihr Mann morgens und abends rücksichtslos mit Straßenschuhen drauftritt. Im Haus daneben bewegt sich die Küchengardine, wenn sich auf der Straße etwas bewegt; und wenn gar jemand vorbeigeht, verschiebt sich die Gardine ein Stück zur Seite, dann putzt die Hausfrau das Fensterbrett, damit es nicht nach Neugier, sondern nach Arbeit aussieht. Das macht wenig Lust auf nähere Bekanntschaft.

Doch, eine nette Nachbarin gibt es auch, und die kümmert sich manchmal um das Kind. Die Ex-Münchnerin nutzt die Gelegenheit, mal mit dem Bus in die Altstadt zu fahren. Es ist ein warmer Sommertag, und sie trägt ihr gehäkeltes Minikleid, das natürlich weitgehend aus Löchern besteht, aber an den kritischen Stellen durchaus blickdicht ist. Während der viertelstündigen Busfahrt wird sie von fünf älteren Damen und zwei älteren Herren beschimpft: Ob sie sich denn gar nicht schäme, so herumzulaufen?! Sie zieht es vor, den Rückweg zu Fuß zu machen. Alle hundert Meter hält neben ihr ein Autofahrer und fragt, ob er sie ein Stück mitnehmen kann. Herrje, was für eine Stadt! In München hätte niemand sie und ihr Kleid beachtet.

***​

München ist zu dieser Zeit eine Hochburg der Studentenbewegung. Man kann täglich eine politische Veranstaltung besuchen, wöchentlich an mindestens einer Straßendemonstration teilnehmen. Eine kleine, für die Münchner Atmosphäre bezeichnende Szene: Drei kleine Mädchen sitzen an einer Bushaltestelle auf dem Rinnstein, nicht etwa im Universitätsviertel, sondern in einem entfernten Vorort; sie halten Papierfähnchen hoch, die irgendein Geschäft zur Eröffnung verteilt hat. Eine Frau fragt, warum sie sich denn nicht auf die Bank setzten, und die drei schreien im Chor: "Wir machen ein Sit-in!"

Nun, in dieser kleinen Hochschulstadt scheinen kaum die Studenten zu wissen, was ein Sit-in ist. Ansätze zum Studentenprotest finden sich allerdings auch hier. Sogar bei den chronisch unpolitischen "Technikern" gibt es einen berüchtigten Revoluzzer, von dem es heißt, er habe mal in der Vorlesung eines besonders verkalkten Professors mit einer Kindertrompete herumgetutet. Die Dozenten und Assistenten nennen seinen Namen mit Zittern. Er heißt Paul.

Die Frau lernt Paul kennen, denn der besucht ein Seminar, das ihr Mann leitet. Sie hat sich Paul als eine Art Bakunin mit fanatisch glühenden Augen vorgestellt; was sie nun sieht, ist ein unscheinbarer blonder Jüngling, kurzhaarig und bartlos; auf seiner Nase sitzt eine Nickelbrille mit runden Gläsern, seine Kleidung ist offenbar von Mutti ausgesucht, gewaschen und gebügelt, und er begrüßt allen Ernstes die Gattin seines Seminarleiters mit einer anmutigen Verbeugung. Das ist also die Speerspitze der hiesigen Studentenrevolte?

***​

Von München her weiß sie, wie leicht man in linke Studentengruppen Eingang findet. Sie bieten die einzige Gegenwelt, die ihr zugänglich ist: Ihr Mann befürwortet es, wenn sie "sich engagiert", also kann sie abends weggehen, während er sich des Kindes annimmt. Er berichtet ihr auch, daß Studenten seines naturwissenschaftlichen Fachbereichs gerade einen politischen Arbeitskreis gründen. Politische Arbeitskreise mit dem Ziel, das marode bundesrepublikanische System zu stürzen, schießen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden.

Die Mitglieder dieses Arbeitskreises sehen, anders als der Revoluzzer Paul, ganz so aus, wie man in dieser Zeit als aufrechter Linker aussieht: Sehr haarig, sehr bärtig, und die Jeans können nicht löchrig, die Lederjacken nicht abgeschabt genug sein. Mädchen gibt es nicht, Mädchen studieren nichts Naturwissenschaftliches. Die Frau des Assistenten wird ohne weiteres akzeptiert; daß sie weder Studentin noch eine ihres Fachs ist, dazu noch ein paar Jahre älter, stört keinen. Sie ist, wie man so sagt, gut integriert. Es gelingt ihr aber nicht mal, die anderen davon abzuhalten, im Tagungsraum des Instituts Asche, Kippen und Papier einfach auf den Boden zu werfen. Rücksicht auf die Putzfrauen ist kein Argument: Natürlich vergöttert man den Arbeiter ganz allgemein, aber Putzfrauen gehören offenbar nicht zum ausgebeuteten Proletariat.

Die Diskussionen bleiben politisch-unverbindlich. Der eine hat dies gelesen, der andere das gehört – das muß nun alles gemeinsam aufgearbeitet werden. Aber irgendwie fehlt da was ... Die Zahl der Arbeitskreis-Mitglieder nimmt ab, die Sitzungen werden kürzer, und man geht immer früher auf ein paar Bier rüber zum Griechen.

Was fehlt, ist theoretisches Grundwissen – Marxismus ist bekanntlich nicht auf dem Gymnasium gelehrt worden. Diesem Mangel versucht man in Schulungsgruppen abzuhelfen. Das läuft dann etwa so ab: Die Gruppe faßt den Beschluß, gemeinsam "Das Kapital" von Marx zu lesen. Nun ist das keine einfache Lektüre, aber eventuelle Warnungen und Hinweise auf zweckdienlichere Texte finden im Plenum keine Gnade: Wenn schon, denn schon. Man beschafft die benötigten Exemplare des Raubdrucks, und bis zum nächsten Treffen soll jeder das erste Kapitel lesen. Beim nächsten Treffen zeigt sich, daß keiner das Kapitel gelesen hat. Man diskutiert das Problem zwei Stunden lang und einigt sich darauf, daß nicht jeder das jeweilige Kapitel lesen muß, sondern immer nur zwei, die dann referieren werden. Den meisten verschafft das eine Galgenfrist, aber zwei müssen nun doch ran. In der Woche drauf erfährt die Gruppe, daß ihre Referenten infolge unvorgesehener Ereignisse an der "Kapital"-Lektüre verhindert waren. Man diskutiert das Problem zwei Stunden lang und geht dann zum Griechen. Der Abend verläuft noch recht harmonisch, aber der Mitgliederschwund ist nicht aufzuhalten. Die Lebensdauer von Schulungsgruppen ist generell sehr kurz.

Da weder Schulung noch andere Projekte voran kommen, lösen sich die studentischen Zirkel bald wieder auf oder schrumpfen zu politisch orientierten Freundeskreisen privaten Charakters. Man hat weiterhin seinen Jour fixe, aber diskutieren kann man ja auch gleich beim Griechen. Oder man geht zu einem der Teilnehmer auf die Bude. Da sitzt man dann auf dem Fußboden, und der Joint macht die Runde; die lebenslange Nichtraucherin weiß auch mit dem zerknautschten Papierröllchen nichts anzufangen, reicht es einfach an den nächsten weiter und beobachtet, wie die einen in überschwengliche Albernheit und die anderen in besinnliche, ja schläfrige Zustände verfallen. Einer sagt, er sei ein Flughörnchen, und man zieht ihn vom offenen Fenster weg, als er Miene macht, seine Fähigkeiten auszuprobieren. Ein anderer betrachtet träumerisch das Muster des halb zerfledderten Perserteppichs: "Da ist man nun zigmal drübergelaufen, einfach so, und hat es nicht gesehen, und auf einmal sieht man es, hier, diese Figur, du siehst es doch auch? Das ist doch ein Symbol, du siehst doch, daß das ein Symbol ist, nicht?" Ein Symbol wofür? "Siehst du das denn nicht? Für alles ...!"

***​

Auch Experimente mit der Lebensform der Kommune gibt es. Eines Tages überfällt einer dieser Polit-Freundeskreise den Hochschulassistenten und seine Frau mit einem großartigen Plan: Da werde eine Wohnung frei, absolut riesig, wie geschaffen für eine Kommune, naja, ein bißchen vergammelt, aber die Wände könne man ja streichen: "Kündigt sofort eure Wohnung und zieht mit uns da ein!" Zweifellos geht es ihnen vor allem um das Kind, denn ein Kind, an dem man repressionsfreie Erziehung erproben kann, ist der Traum jeder Kommune, die ja hehre Ziele hat: Integration von Leben und politischer Arbeit, Revolutionierung des bürgerlichen Individuums ... Der Assistent und seine Frau verweigern sich der neuen Lebensform.

Der Frau tun die Studenten leid. Es gibt mittlerweile genug bittere Erfahrungen mit solchen Projekten. Ehe die Wohnung bezogen werden kann, wird das Vorhaben bis zur Erschöpfung durchdiskutiert. Was soll alles gemeinsam sein? Sind Privatzimmer für die Einzelnen konterrevolutionär? Das wohl nicht, aber geschlossene Türen sind es auf jeden Fall. Die Frau wird zu jeder Frage um ihren Rat gebeten, der dankbar angehört und in den Wind geschlagen wird. Dann der Einzug: sechs Studenten, zwei Studentinnen. Schließlich soll ja auch die durch die bürgerliche Erziehung vermurkste Sexualität in eine befreite umgewandelt werden.

Als die Frau die frischgebackene Kommune das erste Mal besucht, sind zwei schon wieder ausgezogen. Die Luft im Gemeinschaftsraum vibriert vor unterdrückter Aggressivität. Kein Wunder, zischt Ingrid, da sie ja alle hinter Adele her seien. Adele gibt sich unschuldig und schaut drein wie die Katze am Rahmtopf. Die vier Männer schlagen vor, zum Griechen zu gehen. Ohne die zwei Mädchen, obwohl das nun gewiß gegen alle Regeln ist.

Bei ihrem letzten Besuch öffnet niemand auf ihr Klingeln. Vom oberen Treppenabsatz ruft jemand, wohl auch ein Student, ob sie reinwolle, er hätte einen Schlüssel. Drin sieht sie nichts als fest geschlossene Türen. Hinter der ersten sitzt einer geistesabwesend auf seiner Matratze, vor sich eine Gitarre, auf der er alle fünf Sekunden eine Saite antippt; seinem Gesichtsausdruck nach hört er himmlische Sphärenmusik. Das nächste Zimmer ist leer. Hinter der dritten Tür sitzt wieder einer, völlig unansprechbar, und hinter der vierten der letzte der noch verbliebenen Bewohner. Er erkennt sie noch. "Wo ist denn der Klaus hingekommen?" fragt sie ihn. Er scheint das für eine ganz und gar erstaunliche Frage zu halten, mit der er erstmal fertig werden muß. Endlich kommt eine Art Antwort: "Die Adele ist ja auch weg."

Der Zustand der drei wirkt besorgniserregend, und sie macht sich Gedanken über Notarzt, unterlassene Hilfeleistung und ähnliches. Ach was, sagt der Junge, der sie eingelassen hat, die seien alle Tage zugekifft bis in die Haarspitzen, das habe nichts zu bedeuten, in ein paar Stunden seien sie wieder okay. Die Frau mit ihrer Null-Erfahrung entschließt sich, vielleicht zu Unrecht, auf seine Kompetenz zu vertrauen.

Wo sind sie geblieben? Im Institut sieht man sie nicht mehr. Die Frau ist voll Traurigkeit – und kein Arbeitskreis ist mehr da, in dem sie dieses Relikt bürgerlichen Bewußtseins rational ausdiskutieren könnte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nun schon die 2. aus dem Leben gegriffene Geschichte von Babel zum Fest -
Ich danke für diese wunderbare Lektüre! Herzliche Grüße von Ulrike
P.S. Kommen noch weitere Geschichten? Bin gespannt!
 
Vielen Dank für die großartige und interessante Erzählung.
Ein plastisches Bild dieser Zeit, die sicher Potential hatte, aber nur "dagegen" sein war eben doch zu wenig. Und wenn die Revolution hauptsächlich im Bestreiken der eigenen Körperpflege und der Freiheit, den eigenen Müll von anderen aufsammeln zu lassen, besteht, ist da wohl irgendwas falsch verstanden worden ;).
Früher konnte man damit wenigstens noch die Spießbürger ärgern und erfuhr durch entsprechende Bemerkungen Aufmerksamkeit.
Wenn heute die Backen durch die künstlichen Jeanslöcher lachen, wackelt niemand mehr mit einem Ohr. Und die älteren Herrn getrauen sich nicht mehr hinschauen: schon droht der Vorwurf der sexuellen Belästigung :D.
Ob es vielleicht doch sowas wie eine gute alte Zeit gab, die man meist nur viel zu weit hinten in der Geschichte sucht ;).
 
Und wenn die Revolution hauptsächlich im Bestreiken der eigenen Körperpflege und der Freiheit, den eigenen Müll von anderen aufsammeln zu lassen, besteht, ist da wohl irgendwas falsch verstanden worden ;).

Und die älteren Herrn getrauen sich nicht mehr hinschauen ...
Wie sollten sie auch irgendwas verstehen? Das waren naive, bis dahin wohlbehütete Kinder, die noch nichts kennengelernt hatten als Elternhaus und Schule. Und damals waren die Kinder erheblich naiver und wohlbehüteter als heute.

... und erst recht nicht mehr zu schimpfen! :D
 
Zurück
Oben