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Unwetter, Bergstürze&Co: Eure Erinnerungen

Nicobär

Member
Sicherlich habt Ihr alle so Eure Erinnerungen an schwere Unwetter - sei es nun Stürme, Gewitter, Schneekatastrophen, Hochwasser, Bergstürze etc.

Ich habe für den norddeutschen Raum im vergangenen Monat das Projekt 'Sturmfluten' gestartet, habe aber allein schon bei der Recherche schnell gemerkt, dass man das Thema nahezu unbegrenzt ausdehnen kann und es somit auch für das Projekt 'Sagen' interessant ist. Deshalb würden mich Eure Erinnerungen sehr interessieren - und einiges werde ich in den kommenden Tagen auch noch hinzufügen...

Liebe Grüße
Nicolaus


...und nun meine Geschichte...

Der 13. November 1973 - oder warum ich Geograph wurde.

An den 13. November 1973 kann ich mich noch genau erinnern. Es ist fast so, als wäre es gestern gewesen. Ich war damals 4 Jahre alt. Schon am Vormittag tobte bei uns ein fürchterlicher Sturm, der die Bäume sich biegen ließ. Als er am Nachmittag immer noch nicht nachgelassen hatte, sondern noch weiter zunahm, kam bei meinen Eltern Unruhe auf. Man muss dazu wissen, dass wir in einer Gegend lebten, in der es keinen Deichschutz gab, die Flut also bei Nordweststurm direkt aus der Nordsee bis zu uns hin aufgestaut werden konnte. An die Radionachrichten schloss sich in solchen Fällen dann nicht nur die Unwetterwarnung des Seewetteramtes in Hamburg, sondern auch die Sturmflutwarnung des Deutschen Hydrographischen Instituts in Hamburg an. Irgendwann hieß es dann ,die Ochtum, ein kleiner Nebenfluß der Weser, finge an, überzulaufen. Um die Lage einschätzen zu können fuhren wir nun in Richtung Stromer Ochtumbrücke - allerdings kamen wir erst einmal nicht so weit. Ich werde es nie vergessen, wie ein alter Mann in unserer Straße, der nicht weit von unserem Haus entfernt auf dem Weg zum Friedhof war, von einer fürchterlichen Orkanböe gepackt und durch die Luft geschleudert wurde. Meine Eltern huben ihm auf und Gott sei dank war ihm nicht viel passiert - außer ein paar Schürfwunden. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir ihn nach Hause brachten und ich kann mich noch genau an den entsetzten Ausruf seiner Tochter einnern.

Was ich danach allerdings erlebte, konnte fürchterlicher nicht sein: an der Ochtum, einem kleinen Fluß, normal gerade einmal 50 Meter breit, tobten die Elemente, das Meer, 60 km von der Küste entfernt, stürmte den Flußlauf hinauf. Auf den Weiden versuchten die Bauern, die Rinder in Sicherheit zu bringen und auf der Brücke standen die Deichgeschworenen, alte, erfahrene Kämpen, mit versteinerten Mienen. Ich kann mich noch genau an den ausruf erinnern "Da schwimmt einer in der Ochtum!". Im Mündungsbereich war ein Skipper mit seiner Yacht, die er in Sicherheit zu bringen versucht hatte, gekentert und trieb nun den Fluß hinauf. Als erstes kam das Boot kieloben angetrieben, dahinter sah man den Besitzer, der krampfhaft versuchte, ans Ufer zu kommen, aber immer wieder in die Flußmitte abgetrieben wurde. Inzwischen kam auch die Feuerwehr, aber was sollte die Feuerwehr mit ihrem altersschwachen Löschfahrzeug machen? Man hatte weder Bootshaken, noch Rettungsringe und auf einem Mal verschwand der Mann mit einem gellendem Schrei und wurde nicht mehr gesehen. Man hat seine sterblichen Überreste nie gefunden. Noch heute, 33 Jahr später sehe ich diese Situation vor mir und höre in Albträumen diesen Schrei.

Seit genau diesem Tag wusste ich, dass ich Geograph werden wollte - und ich bin es geworden. Dass ich allerdings glücklich damit bin, kann ich heute nicht unbedingt sagen. Denn: dieses Unglück war einzig und allein auf menschliche Unvernunft zurückzuführen. Otto H. war mit den Bedingungen auf dem Fluß vertraut und hätte aus heutiger Sicht wissen müssen, wie gerfährlich es dort bei Sturmflut war - heute gibt es Gott sei Dank ein Sperrwerk.
 
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Hallo Nicolaus,

ein äußerst beeindruckender Bericht! Danke!
Zwei Fragen mit der Bitte um Begriffserklärung:

Deichgeschworene = ?

Kämpen = ?

Wolfgang (SAGEN.at)
 
SAGEN.at schrieb:
Hallo Nicolaus,

ein äußerst beeindruckender Bericht! Danke!
Zwei Fragen mit der Bitte um Begriffserklärung:

Deichgeschworene = ?

Kämpen = ?

Wolfgang (SAGEN.at)

Deichbau ist an der Nordseeküste eine Genossenschaftssache. Wem ein Grundstück dort gehört, ist zu einem Beitrag zum Deichbau verpflichtet. Macht er das nicht, muss er sein Grundstück aufgeben.. Die Deichgeschworenen werden von den Mitgliedern des Deichverbandes seit altersher gewählt, es handelt sich dabei um die ältesten demokratischen Verfassungen im deutschsprachigen Raum. Dabei gilt allerdings nicht die allgemeine und gleiche Wahl, sie richtet sich nach den Flächen, die jemanden im Einzugsbereich des Deichverbandes besitzt. Durch Koalitionen unter den weniger begüterten kann er jedoch überstimmt werden. Im Küstenschutz hat sich diese Verfassung seit Jahrhunderten bewährt; Versuche, diese Verfassung auszuhebeln, haben sich stets als katastrophal erwiesen. Der letzte Versuch im Oldenburger Land endete bei der Weihnachtsflut 1717 mit über 10.000 Toten und dem Bankrott des dänischen Landesherren, der danach schleunigst das alte System wiederherstellte.

Unter Kämpen versteht man in Norddeutschland 'alte Kämpfer'. Das sind sehr erfahrene Leute, die schon viel erlebt haben und in fachlicher Sicht über jeden Zweifel erhaben sind- oder zumindest zu sein scheinen: Alter schützt ja nicht vor Torheit.
 
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