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Das Attentat auf den Kaiser

Elfie

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Eine Geschichte aus dem alten Wien
Erzählt von Margarete Lutz

Margarethe Lutz, Jg. 1918, war eine begeisterte Erzählerin und hat auch Vieles aufgeschrieben, um es späteren Generationen zu erhalten.

Nachdem wir bereits das neue Jahrtausend begonnen haben, kann ich von der Geschichte die ich erzählen möchte, ruhig sagen, sie handle von alten Zeiten, aus dem alten Wien. Dem alten Wien vor dem ersten Weltkrieg und dem alten Kaiser Franz Josef, der damals noch als unantastbare, erhabene Herrschergestalt im Bewusstsein seiner Wiener thronte. Die Geschichte erzählte mir mein Großonkel Rudi, ein aufgewecktes Bürscherl der damals mit seinen Eltern in einer Wiener Vorstadt lebte. Die Eltern betrieben eine Greißlerei, so eine Richtige, an die wir uns manchmal noch mit Wehmut erinnern. Nicht nur an das Gewölbe als eine Insel der Begegnung, wo fast jeder einen jeden kannte, sondern auch der unwiederholbaren Atmosphäre des einmaligen Duftbouquets wegen: Sauerkraut und Salzgurkenfassln, Stearinkerzen und Petroleum, Zichorie und eingesalzene Haring. Saure Zuckerln und die aus den kleinen Holzladln, in Stanitzel abgefüllten , fremdartigen und doch so vertrauten Gewürze. Die Schuhwichs und der Powell, all dies zusammen war beim Eintritt erschnupperbar und vertraut.
Zu Rudis Zeit konnten die vielen Kinder noch überall frei herumspielen, in den Gassen, Hinterhöfen und kleinen Hausgärten. Rudi war nicht nur Mitglied, sondern oftmals auch begehrter Anführer bei den mannigfaltigen Spielen, bevorzugt vor allem bei der wilden und aufregenden Jagd zwischen Räuber und Gendarmen. Letzte Bezeichnung nie voll ausgesprochen, hieß in Kurzform" Schandi". Gekämpft wurde mit kleinen Astgabelschleudern samt Gummischnürl und die Munition, es waren fest zusammengedrehte Papierknäuel, wurde verschieden eingefärbt. Rudis Knäulerln waren mit Rote-Rübensaft aus der Greißlerei blutig, ziemlich saftig und hinterließen Spuren seiner besonderen Treffsicherheit.
In Rudis Haus wohnte eine alte Frau und an dem Tag an dem sich ihr 100 Geburtstag jährte, war es üblich, dass ein Mitglied des Hauses Habsburg, irgendein Erzherzog, mit Glückwünschen angefahren kam. Eine besondere Ehrung für ein damals noch außergewöhnlich hohes Alter. Rudi, mitten in einer Räuber und Schandi Verfolgungsjagd begriffen, lauerte hinter dem offenen Haustor neben der Greißlerei und hatte auf nichts sonst seine Aufmerksamkeit gerichtet, als auf den vorüberschleichenden Haschek Peperl. Da kam, bestaunt und bewundert von den Anrainern, eine Hof kutsche angefahren, hielt, und ein hoher Herr, im Begriffe auszusteigen, wurde von Rudis Saftgeschoß hart an der Wange getroffen, weil sich der Peperl rechtzeitig geduckt hatte. Der hohe Herr fasste betroffen nach Wange und Geschoß, verfehlte die oberste Kutschenstufe, wankte, wurde von seinem Adjutanten aufgefangen, wieder aufgerichtet und mit Entsetzen sahen alle die Blutspur auf Wange und weißem Glacehandschuh.
Ein Attentat!
Ein unbeschreiblicher Wirbel, die Polizei mit gezogenen Säbeln und lautem „Zurück! Zurück" Geschrei, die Kutsche, die mit dem Erzherzog im Fond schnellstens zur heimatlichen Hofburg zurückfuhr. Rudi war im ersten Schrecken sofort auf den Dachboden geflüchtet und versteckte sich zwischen den Schmierseifenfässern. Er rechnete nicht mit dem damals bereits voll entwickelten kriminalistischen Spürsinn der Polizei, welche ihn an Hand des roten Knäulerls als Täter identifizierte. Er, sowie sein völlig desparater Vater hatten gar keine Möglichkeit einer Aufklärung. Die offensichtliche Zugehörigkeit zu einer anarchistischen Bewegung, von der weder Rudi noch sein biederer Greißlervater eine Ahnung hatten, endete in Hausdurchsuchung, Protokollen, zeitweiser Inhaftierung und völliger Desperation. Die Mühlen der Gerechtigkeit malten und außer den gewaltigen Hieben die der Rudi vom Vater bezog, waren die Folgen schrecklich. In der Schule wurde er in der letzten Bank isoliert, niemand durfte mit ihm sprechen und der Lehrer war außer sich, daß sich in seiner Klasse in einem Schülerhirn Gedanken des Aufruhrs breitmachen und einschleichen konnten. Die Greißlerei wurde bis auf die Kunden mit den Aufschreibbücheln gemieden, ein Verfahren schwebte und ebenso schwebte der Niedergang über dem Geschäft. Die schiere Verzweiflung ließ allmählich die gesamte Familie verstummen. Die Mutter, verweint und angstverkrochen, der Vater von der Schande und der Hilflosigkeit seiner Unschuldsbeteuerungen ganz gebrochen, sagte eines Tages mit rauher Stimme: „So geht´s net weiter! Jetzt schreib ich an den Kaiser: und wann der net hilft, dann häng ich mich auf!"
Der Vater schrieb und der Kaiser ließ antworten. Die Antwort: eine Audienz bei Seiner Majestät und zwar war nicht der Vater befohlen, sondern der Rudi! Rudi im besten Anzug, gewaschen, geschneuzt und gekammpelt, wie der Volksmund diese besondere Aufmachung beschreibt, wurde vom Vater mit einem Fiaker zur Hofburg gefahren und dort abgegeben. Mitgehen durfte der Vater nicht. Rudi, mit vielen Ermahnungen und Verhaltungsregeln vollgestopft, behielt als Leitmotiv nur zwei einfache aber starke Sätze im Bewusstsein: „Lüg´ ja nicht, denn der Kaiser weiß immer alles! Und denk dran, du bist schuld, und wenn der Kaiser nicht hilft, dann häng ich mich auf!“
Die schöne Stiege, auf der heute unsere so willkommenen Auslandsbesucher emporsteigen, wurde zu Rudis Zeiten von ganz anderen Menschen beschritten. Die bunten Farben des Militärs, allerhand Eminenzen in ihren Soutanen, Uniformierte der unterschiedlichsten Art, Lakaien, Gehrockträger mit Zylinderhut, Rudi war schon ganz benommen, als er in einem großen Saal einem überaus würdigen Herrn überantwortet wurde. Von diesem, der wie ein Kaiser aussah, wurden ihm alle nötigen Zeremonien eingetrichtert: angefangen von der tiefen Verbeugung, sofort hinter der geschlossenen Tür, gewärtigt der gnädigen Handbewegung des Nähertretens, ja nur nicht zu nah, nur reden wenn gefragt und da selbstverständlich immer nur die Wahrheit, denn Seine Majestät weiß immer alles, ist von allem unterrichtet! Nach gnädigster Anhörung und Verbeugung, immer die Augen auf den hohen Herrn gerichtet, rückwärtsgehend, bei der sich öffnenden Tür nochmals seine Ergebenheit bekundend, sodann zu verschwinden.
Rudi stand letztendlich vor seinem Kaiser, der ihn mit Buberl anredete und aufforderte die ganze Begebenheit wahrheitsgetreu zu erzählen. Aus einer totalen Sprach-und Bewegungslosigkeit erlöst, berichtete er nun von Räuber und Schandi, vom Haschek Peperl , der sich geduckt hatte, auch vom Roterübenknäulerl und vom Vater, der sich aufhängen muss, wenn niemand mehr in die Greißlerei kommt und dass die Mutter überhaupt nur mehr want.
Der Kaiser hörte zu und dann wollte er wissen was den eigentlich bei Räuber und Schanti vor sich gehe! Der Rudi staunte nur so, aber er erklärte bereitwillig den ganzen Ablauf. Zuletzt sagte der Kaiser, dass ein Brief kommen würde und der Vater sich nicht aufhängen braucht und der Rudi versprechen muss immer brav zu sein! Na ja, das war´s. Dann reichte ihm der Kaiser vom Stehpult her einen Gulden und erlaubte einen Handkuss. Rudi - von Dankbarkeit, Reue und sonstigen unbeschreibbaren Gefühlen nur so gebeutelt, drückte sein tränenüberströmtes, und des Schneuztuches sehr bedürftiges Bubengesicht auf die allerhöchste Hand und begann dann im Krebsgang zur Tür zurückzugehen. Der Kaiser stand vor seinen nassen Augen groß, wie von einer Glorie umschimmert, die ungewohnte Gangart verhaspelte Rudis Füße. Er stolperte und fiel der Länge nach in Richtung Kaiser und so mit der wirklich tiefsten Haltung einer demütigen Ergebenheit wurde er durch die offene Tür hinausgezogen.
Der versprochene Brief langte ein, was drin stand hat sich der Rudi nicht gemerkt, nur dass der Vater unschuldig, das Verfahren niedergeschlagen und die Reputation wiederhergestellt war. Der Brief wurde eingerahmt in der Greißlerei aufgehängt, von der Kundschaft bestaunt und ebenso der Rudi. Er konnte nicht genug von der Begegnung mit dem Kaiser erzählen: in der Familie, bei den Verwandten, in der Schule, bei den Gassenbuben. Und da geschah es, daß er gleichsam als Schlusspunkt seiner Euphorie vom Lehrer noch eine kräftige Watschen erhielt. Der hatte sich in der Pause der Bubenschar ungesehen genähert und den respektlosen Ausspruch Rudis gehört: „Ich sag euch, der Kaiser ist schon wirklich kaiserlich, aber wissen tut er net alles! Na, er waas net alles ! Und von Räuber und Schanti waas er überhaupt nix!"
"Lausbub, unverschämter," schrie der erboste Lehrer, "jetzt auch noch eine Majestätsbeleidigung! Dir werd ich´s zeigen!" Und eine schnell verabreichte Tachtel brachte mit einem Schlag Rudi in das normale Untertanenbewusstsein jener Zeit - Kaiser, kritiklose Verehrung der allerhöchsten kaiserlichen Majestät - wieder zurück.
2003
 
Zuletzt bearbeitet:
Franz-Josef I. ist ja heute auch eine Sagengestalt - zum einen wegen seiner extrem langen Regentschaft von fast 70 Jahren, zum anderen wegen seines strikt neutralen Auftretens in der Öffentlichkeit: außer seinem vielzitierten Ausspruch "Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut" ist von ihm irgendwie nichts wirklich überliefert - außer einer Menge von Anekdoten und der Tatsache, dass er als Regent spätestens in den letzten 20 Jahren seiner Regierungszeit jeglichen Bezug zur Realität verloren und dadurch jede Menge Unheil angerichtet hat.

Bemerkenswert ist jedoch, dass die Selbstinszenierung Franz-Josefs noch lange anhielt - er galt bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Inbegriff der "guten Alten Zeit", in der angeblich alles viel besser war.
 
Vielleicht hängt es ganz allgemein mit der Glorifizierung der Vergangenheit zusammen - weiß nicht, ob das ein österreichisches Spezifikum ist. Warum war früher alles besser? Ich meine: von jedem Einzelnen gesehen? Man war jünger, das hat schon mal Vorteile, man vergißt die schlimmen Dinge lieber und das Schöne bleibt hängen - ein ganz gute Einrichtung der Psyche, bei manchen Menschen ist es ohnehin umgekehrt, das ist bitter.
Konkret hat es vielleicht auch mit der schlimmen Zeit zu tun, die folgte in den 20er Jahren und der Annahme, „unterm Kaiser“ wär es anders gewesen. Und Prinzessinnen und Könige faszinieren ja immer wieder noch und nicht nur im Märchen.
Es soll auch noch Monarchisten geben und nicht nur unter alten Leutchen, die von früher träumen. Die Frage ist, wo die sich im Fall des Falles gesellschaftlich sehen. Sicher mindestens „aus gutem Haus“ und auf keinen Fall als Wäschermädl.
Übrigens "Mir bleibt auch nichts erspart" ist auch überliefert ;).
 
Mir fällt bei Franz Josef I. immer das Gedicht ein, das Karl Kraus über ihn schrieb:

Franz Joseph
Wie war er? War er dumm? War er gescheit?

Wie fühlt' er? Hat es wirklich ihn gefreut?

War er ein Körper? War er nur ein Kleid?

War eine Seele in dem Staatsgewand?

Formte das Land ihn? Formte er das Land?

Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt?

Trug ein Gesicht er oder einen Bart?

Von wannen kam er und von welcher Art?

Blieb nichts ihm, nur das Wesen selbst erspart?

War die Figur er oder nur das Bild?

War er so grausam, wie er altersmild?

Zählt' er Gefallne wie erlegtes Wild?

Hat er's erwogen oder frisch gewagt?

Hat er auch sich, nicht nur die Welt geplagt?

Wollt' er die Handlung oder bloß den Akt?

Wollt' er den Krieg? Wollt' eigentlich er nur

Soldaten und von diesen die Montur,

von der den Knopf nur? Hatt' er eine Spur

von Tod und Liebe und vom Menschenleid?

Nie prägte mächtiger in ihre Zeit

jemals ihr Bild die Unpersönlichkeit.
 
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