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1949: Reise zwischen Ost und West

Babel

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Reise zwischen Ost und West im Jahre 1949

1949 war die Versorgung mit Lebensmitteln immer noch katastrophal in der sowjetisch besetzten Zone. Ich war zehn Jahre alt und so unterernährt, daß meine Eltern beschlossen, mich für ein Vierteljahr zu Verwandten nach Westdeutschland zu bringen, damit die mich "aufpäppelten".

Dieser Reisebericht besteht aus zwei Teilen. Zunächst suche ich die Erinnerungen zusammen, die ich an unsere Reise von Babelsberg nach Adorf (heute Diemelsee, Hessen) habe. Sie sind natürlich lückenhaft und eben die Erinnerungen eines Kindes, das nicht alles versteht, was geschieht. Der zweite Teil ist der Bericht meines Vaters über seine Rückkehr nach Babelsberg – ein Auszug aus einem Brief an seine Eltern, zu denen er mich gebracht hatte. Daß mein Vater so offen schreibt, obwohl mit einer Briefzensur zu rechnen war, liegt daran, daß er in Ostberlin arbeitete und dort auch Kollegen hatte, die in Westberlin wohnten (1949 gab es das noch) und für ihn Briefe in Westberliner Briefkästen einwarfen.




I. Mein Bericht

Die Reise begann morgens um 4.00 Uhr mit vier Kilometern Fußmarsch zum Bahnhof Potsdam, denn so früh fuhr noch keine S-Bahn. Für mich war das weit, und ich war stolz auf meine vier Kilometer. Noch nie habe ich so lebhaftes Vogelgezwitscher gehört wie auf diesem Weg, und noch nie die anderen, die unbeschreiblichen, noch nie gehörten Laute: „Frösche”, erklärte mein Vater. Sollte ich das glauben? Mit „Quak quak”, wie es in den Büchern hieß, hatte es gar keine Ähnlichkeit.

Die Bahnfahrten in Ostdeutschland waren damals furchtbar. Die Züge waren überfüllt, an Sitzplätze war nicht zu denken. Man stand dicht gedrängt in irgendeinem Gang oder auf einer Plattform, und fast immer standen noch einzelne draußen auf den Waggonstufen und klammerten sich an die Türgriffe. Die im Krieg bombardierten Strecken waren eingleisig; jeder entgegenkommende Zug hielt sein Gegenüber endlos auf irgendeinem Bahnhof oder auf einem Ausweichgleis auf freier Strecke fest. Womit diese Züge geheizt wurden, weiß ich nicht – jedenfalls drang Kohlenstaub selbst durch die geschlossenen Fenster, so daß die Augen weh taten und man ständig husten mußte. Wie lange die Fahrt von Potsdam nach Eisenach dauerte, weiß ich nicht. Nur an einen Umsteigebahnhof – Jüterbog – erinnere ich mich allzu gut, denn es gab eine Panik in der überfüllten Halle: Dichtes Gewühl, Geschrei ringsum, und immer meine Angst, ich könnte von meinem Vater weggedrängt werden.

In Eisenach saßen wir in einem Wartesaal. War es Tag oder Nacht? Ich weiß nur, daß am Morgen nach der Abreise mein Vater mit mir hinausging auf den Vorplatz und dort einen Mann traf. Ihre Verhandlungen waren mir unverständlich oder uninteressant, oder ich war einfach zu müde. Ich bekam mit, daß mein Vater dem Mann Geld gab. Was ein Grenzführer war und daß er bezahlt wurde, wußte ohnehin jedes Kind.

Zurück in den Wartesaal. Nach längerer Zeit wieder nach draußen; ein kurzer Weg, der in einem Hof endete. Noch andere Leute warteten dort.

Ein Auto kam, ein dreirädriger Lieferwagen (ähnlich wie dieses Gefährt). Zu acht wurden wir in den geschlossenen hinteren Teil des Wagens gesetzt. Es war so eng, daß man nicht wußte, wo man mit den Beinen hin sollte. Völlig finster war es nicht; es gab ein ganz kleines Fenster zum Fahrerraum.

Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Mir war schrecklich übel. Ein anderes Mädchen und ein kleiner Junge erbrachen sich. Die praktischen Plastiktüten, die heute zur Flugzeugausstattung gehören, gab es noch nicht; blieben nur Taschentücher und die Schürze des Mädchens.

Endlich hielt das Auto. Wir wurden ausgeladen, sollten ein kleines Stück in den Wald gehen und dort warten. Es hatte geregnet; der Wald triefte nur so, und wie sollte man sich in das klatschnasse Gras setzen? Lange standen wir und verloren fast die Hoffnung, daß jemand kommen und uns erlösen würde. Als wir nicht mehr stehen konnten, setzten wir uns doch. Naß waren wir ohnehin schon, denn von allen Zweigen rann das Wasser. Das Schlimmste aber waren die Schnecken: glänzend schwarz, riesig, ohne Haus, in unglaublichen Massen – wo man sich hinsetzen wollte, wo man sich festhalten wollte, überall saßen sie.

Dann kamen zwei Männer. Der Regen sei von Vorteil, sagten sie, da seien die Patrouillen weniger aufmerksam. Sie führten uns durch den Wald, es schien ständig im Zickzack zu gehen, und immer wieder mußten wir still stehenbleiben, während einer der beiden im Unterholz verschwand und eine Ewigkeit nicht wiederkam. Wir kamen nur langsam vorwärts, aber der Weg schien ein Vielfaches zu sein von den vier Kilometern, auf die ich am Vortag noch so stolz gewesen war.

Wir verließen den Wald. Ein freies, leicht hügeliges Land lag vor uns. „Wir sind im Westen”, sagten unsere Grenzführer. Die andern verfielen in hysterisches Geschrei, Gejubel, Gehüpfe, nachdem sie zuvor alles getan hatten, um auch mich mit ständigem "O Gott!" und "Wenn jetzt nur nicht ...!" in Angst zu versetzen. Mir war es unangenehm, meinem Vater sichtlich auch.

Ich weiß nicht, wo wir nun waren, und ich habe keine Erinnerung an die Weiterreise. Zumindest kam noch ein Fußmarsch zum nächsten Dorf; aus dem Bericht meines Vaters geht hervor, daß wir in einem Gasthaus übernachtet haben. Ich weiß davon nichts, auch nicht, wie wir wieder zu einem Bahnhof kamen. Da wir in ein Dorf reisten, mußten wir noch einige Male umsteigen: Eschwege, Kassel, Warburg. Nur die Ortsnamen habe ich behalten.



II. Der Bericht meines Vaters

Am Freitag bin ich 5.22 von Hofgeismar abgefahren und war gegen 11 Uhr in Eschwege. Von dort konnte ich um 13 Uhr mit dem Postbus weiterfahren. Im strömenden Regen ging die Fahrt bis 14.30 nach Netra vor sich, und im Regen wanderte ich bis 15 Uhr nach dem Dorf und Gasthaus, wo ich mit Waltraud übernachtet hatte. Trotz des scheußlichen Wetters erschienen am Nachmittag ziemlich durchgenäßt gemäß Verabredung meine beiden Führer, und gegen 18.45 gingen wir mit noch einer Frau, die auch herüber wollte, los. Um diese Zeit hörte der Regen auf, aber die Wege waren ein einziger Morast und das hohe Gras am Wegrand war völlig von Wasser triefend. Auf einem etwas anderen Weg gingen wir zur Grenze und überschritten die bewachte Grenzstraße an der gleichen Stelle wie auf dem Hinweg. Als wir etwa 100 m von dort entfernt waren, erfolgte hinter uns an der Grenze eine Schießerei, deren Ursache wir nicht feststellen konnten. Unsere Führer begleiteten uns noch eine Stunde, dann ging ich mit der Frau den mir bekannten Weg allein weiter. Meine Begleiterin streikte in der Gegend des nächsten Grenzortes und begab sich in das Dorf, um dort zu übernachten zu versuchen. Ich wollte auf Anraten unserer Führer mindestens bis Creuzburg weiter wandern, wofür mir noch ein anderer Grenzführer, der mir mit einigen Leuten entgegenkam, den Weg wies.

Es wurde unterdessen dunkel, ich habe auf dem weiteren Weg zweimal trockene Strümpfe angezogen, die alten trieften von Wasser. In Creuzburg kam ich gegen 23 Uhr an. Auf einem Weg unterhalb des hochgelegenen Schlosses umging ich die Innenstadt wegen Polizei, Kommandantur u.s.w. und überschritt etwas später die Werra. Auf der Werrabrücke, einer alten, sehr hohen Steinbrücke bei Creuzburg habe ich eine längere Weile gestanden. Unten in der Tiefe rauschte ganz gewaltig das Wasser und im Schein des tief stehenden Vollmondes sah man die weißen Schaumkämme auf dem Wasser. Das Rauschen der Werra unter der Brücke war dann noch kilometerweit auf der Landstraße zu hören, auf der ich nun nach Eisenach weiter wanderte.

Die nächtliche Wanderung auf der Landstraße von Creuzburg nach Eisenach war – abgesehen von noch etwas nassen Füßen – wirklich sehr schön. Einige Male mußte ich mich seitwärts in die Büsche schlagen, wenn ein Auto kam – es konnte ja Grenzpolizei sein –, aber das war nicht schlimm, weil man in der nächtlichen Stille das Auto schon auf weite Entfernung hörte. Manchmal war’s auch nur eine Luftbrücken-Maschine, die mich aufhorchen ließ. Die ganze Nacht war kein Wölkchen am Himmel, nur vor den Berghängen lagen hier und da weiße Nebelstreifen, vom Vollmond beleuchtet. An einer Stelle überquerte eine Wildsau vor mit die Straße und jagte mir einen Schreck ein.

Als ich Eisenach erreicht hatte und durch die schöne alte Hauptstraße wanderte, wurde es schon langsam wieder hell. Gegen 4 Uhr erreichte ich den Hauptbahnhof und setzte mich noch 3/4 Stunde in den Wartesaal. Da war wieder so richtig das Bild des Lebens in der Ostzone zu sehen: der ganze Saal voller Menschen mit noch mehr Gepäck, Säcken, Kisten u.s.w., die meisten schliefen, alles so grau unter der trüben Beleuchtung, an der Theke gab es nur Bier und Schnaps, sonst nichts.

Ich bin dann gegen 5 Uhr mit dem Personenzug nach Erfurt gefahren, von dort mit einem Eilzug nach Magdeburg und nach drei Stunden Aufenthalt weiter nach Potsdam. Auf dem Bahnhof Potsdam Gepäck-Kontrolle durch die Polizei, aber ich hatte Glück – mir wurde nichts abgenommen. Das war also meine Rückreise, und gegen 20 Uhr war ich zu Hause.
 
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Hallo Babel!

Danke für diesen Bericht.
Ich finde es ist wichtig, die Erlebnisse der Zeitzeugen hören oder lesen zu können.
Allzuviele erinnern sich falsch oder überhaupt nicht mehr daran, was die Geschichte für persönliche Geschichten schreibt.
Es sind vor allem die Opfer dieser Zeit, die Kinder, die uns heute noch einen Abriss der Geschichte wie sie wirklich wahrgenommen und durchlebt wurde, nahebringen können. Über eine Zeit die wie kaum eine andere unsere jetzige Kultur beeinflusst hat.

Wir, die wir lange nach Kriegsende geboren wurden haben zwar keine Schuld aber die Verpflichtung aus den Ereignissen zu lernen. Von euch, die als Kinder von damals ebenfalls keine Schuld aber die Verpflichtung haben uns nicht vergessen zu lassen.
 
Danke für deine Worte! Ich habe diesen Bericht geschrieben, weil ich weiß, daß heute fast allgemein die Vorstellung herrscht, erst der Bau der Mauer habe Ost und West so nachhaltig getrennt. Aber zwischen der sowjetischen Zone und den Westzonen war eine Grenze, und sie wurde scharf bewacht. Unzählige verließen damals die DDR (die zur Zeit dieses Berichts übrigens noch nicht gegründet war), aber alle entweder auf solchen Wegen, wie ich es hier beschrieben habe ("schwarz über die grüne Grenze" nannte man das), oder über Berlin, in dem man sich – von den Polizeikontrollen auf den S-Bahnhöfen abgesehen – noch verhältnismäßig frei zwischen den Sektoren bewegen konnte und von wo es Flugverbindungen nach Westdeutschland gab. Auf die letztere Art haben auch wir zwei Jahre später die DDR verlassen.
 
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