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Lieblingsgedichte

Erich Fried
Dich

Dich nicht näher denken
und dich nicht weiter denken
dich denken wo du bist
weil du dort wirklich bist

Dich nicht älter denken
und dich nicht jünger denken
nicht größer nicht kleiner
nicht hitziger und nicht kälter

Dich denken und mich nach dir sehnen
dich sehen wollen
und dich liebhaben
so wie du wirklich bist
 
Eine mir unbekannte Variante ;), doch danke für die Erinnerung.

Nachdem ich das Original nicht nur aus Respekt vorm Dichter für die beste Variante halte:

Dich

Dich
dich sein lassen
ganz dich

Sehen
dass du nur du bist
wenn du alles bist
was du bist
das Zarte
und das Wilde
das was sich losreißen
und das was sich anschmiegen will

Wer nur die Hälfte liebt
der liebt dich nicht halb
sondern gar nicht
der will dich zurechtschneiden
amputieren
verstümmeln

Dich dich sein lassen
ob das schwer oder leicht ist?
Es kommt nicht darauf an mit wieviel
Vorbedacht und Verstand
sondern mit wieviel Liebe und mit wieviel
offener Sehnsucht nach allem –
nach allem
was du ist

Nach der Wärme
und nach der Kälte
nach der Güte
und nach dem Starrsinn
nach deinem Willen
und deinem Unwillen

nach jeder deiner Gebärden
nach deiner Ungebärdigkeit
Unstetigkeit
Stetigkeit

Dann
ist dieses
dich dich sein lassen
vielleicht
gar nicht so schwer.

Erich Fried: "Was bist du mit? Gedichte von der Liebe" Wagenbach-Verlag
 
Zur Abwechslung etwas Zeitgenössisches.
Ich habe meinen Spass daran :smiley_da


Frühflug
(von Reinhard Fendrich)

Vom Himmel fällt ein leichter Niesel,
der Kopf ist schwer, der Magen flau,
es wartet ein Mercedes-Diesel,
ich muss zu einer Fernsehschau.

Es ist noch ziemlich früh am Tage,
mein Flug geht Punkt sieben Uhr zehn
und ich bin noch nicht in der Lage
aus meinen Augen klar zu seh´n.

Die Hostessen lächeln freundlich,
auch ihre Nacht war nicht sehr lang,
nur meine Müdigkeit ist feindlich –
ich stolpere am Mittelgang.

Die Hand ist schwach und greift ins Leere,
mein Wunsch nach Halt wird riesengroß,
bevor ich noch das kreischen höre,
sitz' ich auf einem Nonnenschoß.

Rasch hab´ ich meinen Platz gefunden
und mich an diesem festgeschnallt,
die Peinlichkeit ist überwunden
und die Maschine startet bald.
Da seh´ ich aus dem Augenwinkel -
mir bleibt doch wirklich nichts erspart,
wie ein besonders feiner Pinkel
gespannt zu mir herüberstarrt.
Ich spürte, dass er Kavalier war,
sehr gut betucht - ein Mann von Welt
und als er plötzlich neben mir war
roch es verdammt nach Lagerfeld.

Jetzt gibt es für mich kein Entrinnen,
weil Zufall keine Gnade kennt,
der nette Herr ist wie von Sinnen,
dass ich allein und prominent.
Ich habe Sie schon oft gesehen –
startet er den Versuchsballon,
auch meine Frau muss ich gestehen,
hätte sie gern als Schwiegersohn.
Ich habe zwei sehr hübsche Töchter,
die jüngere verehrt sie heiß,
kurz rum ein nettes Foto möcht´ er
mit Autogramm als Gunstbeweis.

Wir stoßen durch die Wolkendecke,
die Sonne strahlt, das Auge tränt,
ich lehne hilflos in der Ecke,
wo sich mein Hirn nach Ruhe sehnt.
Stumm sitz´ ich da und grinse süßlich,
damit man gutes von mir hält,
mein Nebenan erzählt mir schließlich –
so hab´ ich sie mir vorgestellt.

Das Flugzeug nähert sich dem Hafen,
er sagt er war mir ein Genuss,
dass wir uns hier durch Zufall trafen,
viel Glück noch Herr Cornelius.
 
Trauercarmen in memoriam unserer plötzlich heimgegangenen Katze

Unsere alte Katze ist verschieden,
War so sanft und gut.
Ach, sie war des Hauses Trost und Frieden,
Und nun liegt sie da in ihrem Blut.
In Gestalt des Lifts kam er geschlichen,
Lautlos, tückisch, flink: der Tod,
Bis sie unter seiner Eisenfaust verblichen,
Und das ganze Treppenhaus war rot.
Nimmer wirst du mehr im Schoß der Herrin schnurren oder schnarren,
Und der Herr, er krault dich nicht von Zeit zu Zeit.
Unterm Schnee wird man dir eine Grabstatt scharren
Nur zwei Schuhe breit.
Aber einst wird die Posaun ertönen,
Wenn der Katzengott zur Auferstehung bläst.
Und du wandelst dann mit vielen schönen
Katern zum erkornen Fest.
Wie behaglich wirst du in das Himmelsbett, des Himmels Bett dich schmiegen.
Mäuse gibt es ohne Zahl und keinen Hund.
Jeden Tag wirst du ein andres Junges kriegen,
Weiß und schwarz und scheckig oder bunt.
Aber unsre Tränen tropfen, und wir raufen
Uns die Haare sonder Ruh.
Zwar man könnte eine andre Katze kaufen,
Aber das wärst doch nicht du.
Was auch Darwin oder Haeckel sage:
Eine Seele hattest du gewiß.
Und so rinnt denn unsre Totenklage
In die uferlose, in die Finsternis.

Klabund (= Alfred Henschke, 1890-1928)
 
Die Kraft der Liebe

Zeit heilt nicht alle Wunden,
die das Leben schlägt.
Verletztes kann mit Liebe gesunden.
Liebe trägt.

Was verdorrt, blüht wieder auf,
erwacht zu neuem Leben.
Liebe nimmt Rückschläge in Kauf,
will sich geben.

Wärmt wie der Sonne Strahlen,
das in Kälte erstarrt.
Langsam enden Seelenqualen.
Liebe geduldig harrt.
 
Passend zur Jahreszeit:

Herbsttag

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke
 
Na, wenn das keine berührende Liebeserklärung für den Zimmertiger ist :).
Danke Babel für das beachtenswerte Gedicht !
Na, hier habt ihr ein weniger trauriges Katzengedicht – von demselben Katzenfreund, der auch diese Geschichte schrieb:

Theodor Storm:
Von Katzen

Vergangnen Maitag brachte meine Katze
Zur Welt sechs allerliebste kleine Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß, mit schwarzen Schwänzchen.
Fürwahr, es war ein zierlich Wochenbettchen!
Die Köchin aber — Köchinnen sind grausam,
Und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche —
Die wollte von den sechsen fünf ertränken,
fünf weiße, schwarzgeschwänzte Maienkätzchen
Ermorden wollte dies verruchte Weib.
Ich half ihr heim! — der Himmel segne
Mir meine Menschlichkeit! Die lieben Kätzchen,
Sie wuchsen auf und schritten binnen kurzem
Erhobnen Schwanzes über Hof und Herd;
Ja, wie die Köchin auch ingrimmig dreinsah,
Sie wuchsen auf, und nachts vor ihrem Fenster
Probierten sie die allerliebsten Stimmchen.
Ich aber, wie ich sie so wachsen sahe,
Ich pries mich selbst und meine Menschlichkeit. —
Ein Jahr ist um, und Katzen sind die Kätzchen,
Und Maitag ist's! — Wie soll ich es beschreiben,
Das Schauspiel, das sich jetzt vor mir entfaltet!
Mein ganzes Haus, vom Keller bis zum Giebel,
Ein jeder Winkel ist ein Wochenbettchen!
Hier liegt das eine, dort das andre Kätzchen,
In Schränken, Körben, unter Tisch und Treppen,
Die Alte gar — nein, es ist unaussprechlich,
Liegt in der Köchin jungfräulichem Bette!
Und jede, jede von den sieben Katzen
Hat sieben, denkt euch', sieben junge Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß, mit schwarzen Schwänzchen.
Die Köchin rast, ich kann der blinden Wut
Nicht Schranken setzen dieses Frauenzimmers;
Ersäufen will sie alle neunundvierzig!
Mir selber, ach, mir läuft der Kopf davon —
O Menschlichkeit, wie soll ich dich bewahren!
Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen!
 
Zuletzt bearbeitet:
Rede des Philosophen


Nachts,
wenn die Welt eine Chance hat,
beginne ich mit der Arbeit.
Aber erwarten Sie kein System.
Kühnheit war mir stets fremd,
für eine Schule war ich zu müde,
das Fremde machte mir Angst.
Eine Zukunft des Denkens
kann ich mir nicht vorstellen,
die Entfernung von Begriff zu Begriff
nimmt zu, und über dem Vergangenen
hängen schwere Wolken.
Alles, was ich noch sehe,
sind ein paar Fußabdrucke von weither,
die ich sorgfältig übersetze,
ehe sie sich verlieren.
Von meinem Buch über die Ethik
schrieb ich nur das Wort ››Ich‹‹,
auch das mit unsicherer Hand.
Manchmal schreibt mir die Kindheit
eine Postkarte: Erinnerst du dich?
Aber das ist, strenggenommen,
keine Philosophie.


Michael Krüger
 
Ich will niemanden verschrecken.
Ich möchte niemanden kränken.

Ich möchte nur meine Sicht der Dinge
mit einem Gedicht von Hans Peter Heinzl
schildern.

Vielleicht eine Mahnung...



Krieg


Wir haben Krieg - und zwar an allen Fronten.
Zum Beispiel Wirtschaftskrieg, Konzerne gegen Plebs.
Weil wir uns viel zu lang im Wirtschaftswachstum sonnten,
Die Sonne sank, geblieben ist uns nur der Krebs.

Unsere Natur verliert heut alle Schlachten,
Doch mit dem Endsieg geben wir uns selbst den Rest.
Man kann nicht ständig das was um uns lebt mißachten
Und dabei hoffen, daß es uns am Leben läßt.

Wir haben Krieg, da brauchts keine Erklärung -
Und auch der Nadelstreif ist eine Uniform.
Man spekuliert mit jedem Rohstoff, jeder Währung,
Egal wer fällt, denn die Gewinne sind enorm.

Wer Kapital hat, braucht keine Kanonen -
Doch muß mans erst einmal wem nehmen eh mans hat.
Aus Schwarz wird Weiß, so macht man saubere Millionen,
Die große Wäsche findet auf den Banken statt.

Wir haben Krieg, am liebsten frißt er Kinder.
Noch sinds die andern, morgen könntens Deine sein!
Den Drogendealern ist kein Taschengeld zu minder,
Sie setzen chemische Vernichtungswaffen ein.

Es gibt die Sucht, sie wächst aus einer Leere,
Aus jeder Kluft die zwischen Mensch und Mensch entsteht.
Und dieses Vakuum füllen dann die Heere,
Die daran verdienen, daß ein Mensch zugrunde geht.

Wir haben Krieg! Zu Ende ist der Friede.
Gilt auch der Kampf zur Zeit noch einer Minderheit,
Wenn erst gemordet wird, gibts keine Unterschiede,
Denn irgendjemand ist zum äußersten bereit.

Das sind nicht nur politische Idioten -
Da ballt das Böse wieder seine Faust!
Die Funken sind des Feuers erste Boten,
Wer sie entfacht, der will den Holocaust.

Wir haben Krieg. Wir wollens nur nicht wissen.
Jedoch durchs Wegschaun heizen wir ihn g'rade an.
Und morgen schon, brennt unser sanftes Ruhekissen
Und nach den andern kommen auch wir selber dran.

Es ist ganz klar, man hört nicht gern von Kriegen.
Doch wenn wir einen führen müssen, ist es der,
In dem wir unsre Teilnahmslosigkeit besiegen,
Sonst gibt es Krieg, und danach - gar nichts mehr.
 
Um beim Thema zu bleiben, ein älteres Gedicht (1778) von Matthias Claudius, (hier mit ein paar Erläuterungen):


Kriegslied

's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,

Und rede du darein!

's ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blaß,

Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,

Verstümmelt und halb tot

Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten

In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,

So glücklich vor dem Krieg,

Nun alle elend, alle arme Leute,

Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch' und ihre Nöten

Freund, Freund und Feind ins Grab

Versammelten, und mir zu Ehren krähten

Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron' und Land und Gold und Ehre?

Die könnten mich nicht freun!

's ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!



... und ein noch älteres von Friedrich von Logau (1606-1655):

Abgedanckte Soldaten.

Würmer im Gewissen /
Kleider wol zerrissen /
Wolbenarbte Leiber /
Wolgebrauchte Weiber /
Vngewisse Kinder
Weder Pferd noch Rinder /
Nimmer Brot im Sacke /
Nimmer Geld im Packe /
Haben mit genummen
Die von Kriege kummen:
Wer hat dann die Beute?
Eitel fremde Leute.
 
Bitteschön Elfie:

In Gottes Namen
Hans Peter Heinzl - Peter Orthofer



Ein Flüchtling sprach um Mitternacht voll Angst zu seinem Herrn im Tempel:

„Du hast die Menschen doch gemacht, mit deinem Siegel, deinem Stempel?“

Ich zahlte pünktlich meine Steuern, ich pflanzte Rosen, bog das Knie;

ich schmiedete in meinem Feuer zwar manches Schwert, doch zog ich’s nie!

Du hast gesagt: ‚Der Mensch ist gut.‘ – Jetzt droh’n sie mir, die wilden Haufen!“

Da sprach der Herr: „So leid mir’s tut, die Garantie ist abgelaufen!

Ich gab dem Willen keine Normen, geht nur als Beispiel in zivil.

Doch wollt ihr lieber Uniformen, lasst meinen Namen aus dem Spiel!“



In einer Kirche stand ein Zweiter, in seiner Brust ein dumpfer Schmerz.

Er schrie: „Ich war ein Wegbegleiter und schonte dabei nie mein Herz.

Ich schuf wie du aus Lehm und Erde, die Wirtschaft wäre sonst bankrott.

Ich lenkte eine schwache Herde, ich war auch sowas wie ein Gott.

Die Wirtschaft wuchs, das Konto schwoll – jetzt droht Infarkt noch vorm Verschnaufen!“

Da sprach der Herr: „Das Maß ist voll! Die Garantie ist abgelaufen!

Ich hab euch nie etwas verborgen, ich definierte euch das Ziel,

wenn ihr nun Angst habt vor dem Morgen, lasst meinen Namen aus dem Spiel!“



Auf freiem Felde stand der Dritte, er hatte auch die Kinder mit,

sprach: „Ich hab nur eine Bitte, mach deine Schöpfung wieder fit.

Ich machte mir nach deinem Plane, die Erde untertan ganz flott.

Ich schrieb den Fortschritt auf die Fahne, ist denn das nicht dein Name, Gott?

Jetzt stirbt der Wald, das Wasser stinkt, soll’n wir den eig’nen Unrat saufen?“

Da hat der Herr nur abgewinkt: „Die Garantie ist abgelaufen!

Ich hab die Erde euch gegeben, ich sehe jetzt, es war zuviel.

Doch könnt ihr darauf nicht mehr leben, lasst meinen Namen aus dem Spiel!“



Ein Vierter sprach: „In deinem Namen – du Marx, du Mohamed, du Christ –

vergoss ich Blut; aus deinem Samen, wächst alles, was uns heilig ist.

Ich töte Männer, Frau’n und Kinder, ich treib die Gegner aufs Schafott.

Du gabst die Zeit, ich bin der Zünder – wir sind doch Partner, lieber Gott?

Ich weiß, ein Platz für mich ist frei, ich kann damit den Himmel kaufen!“

Da sprach der Herr: „Das ist vorbei! Die Garantie ist abgelaufen!

Ich werd mich nicht mehr von euch wenden, das war von jeher nicht mein Stil,

doch habt ihr Blut an euren Händen, lasst meinen Namen aus dem Spiel!



Ich habe viele and‘re Sterne, ich finde überall Exil.

Ihr habt nur mich, habt mich doch gerne,

der Mensch war da, dass er was lerne ...

Das klappte nicht und insoferne:

Lasst meinen Namen aus dem Spiel!“
 
Oh, danke!!

Ich habs auch auf youtube gesucht, weils als Lied auch sehr "reingeht", vor Jahren wars noch drin. Vielleicht hatte ich nur zu wenig Geduld.
 
Ein Beitrag zur Statistik


Von hundert Leuten:

Besserwisser
– zweiundfünfzig,

unsicher auf Schritt und Tritt
– fast der ganze Rest.

hilfsbereit,
wenn es nicht zu lange dauert
– ganze neunundvierzig,

immer gutmütig,
denn sie können es nicht anders
– vier, na vielleicht fünf,
fähig zu bewundern ohne Neid
– achtzehn,

irregeleitet
durch die Jugend, die vergeht
– plus minus sechzig,

mit denen nicht zu scherzen,
– vierzig und vier,
die in ständiger Furcht leben
vor jemandem oder etwas
– siebenundsiebzig,

mit einer Begabung für das Glück
– höchstens über zwanzig,

einzeln ungefährlich,
wild in der Masse
– sicher über die Hälfte,

grausam,
wenn die Umstände sie zwingen
– das sollte man besser nicht wissen
auch nicht annähernd,

aus Schaden klug
– nicht viel mehr
als klug vor dem Schaden,

die dem Leben nichts abgewinnen außer Sachen
– dreißig,
obwohl ich mich gern irrte,

geduckt, leidend
und ohne Taschenlampe im Dunkeln
– dreiundachtzig
früher oder später,

gerecht
– ziemlich viele, weil fünfunddreißig,

wenn diese Eigenschaft sich verbindet
mit der Mühe zu begreifen
– drei,

bemitleidenswert
– neunundneunzig,

sterblich
– hundert von hundert.
Eine Zahl, die bislang unverändert bleibt.



Wisława Szymborska
 
Auf viele wird dieses Gedicht sentimental wirken.
Ich verstehe es als Erinnerung an ein Lebensgefühl
das verloren ging - auch mir.

Existenz im Wiederholungsfalle

Man müßte wieder sechzehn Jahre sein
und alles, was seitdem geschah, vergessen.
Man müßte wieder seltne Blumen pressen
und (weil man wächst) sich an der Türe messen
und auf dem Schulweg in die Tore schrein.

Man müßte wieder nachts am Fenster stehn
und auf die Stimmen der Passanten hören,
wenn sie den leisen Schlaf der Straßen stören.
Man müßte sich, wenn einer lügt, empören
und ihm fünf Tage aus dem Wege gehn.

Man müßte wieder durch den Stadtpark laufen
mit einem Mädchen, das nach Hause muß
und küssen will und Angst hat vor dem Kuß.
Man müßte ihr und sich, vor Ladenschluß,
für zwei Mark fünfzig ein paar Ringe kaufen.

Man würde seiner Mutter wieder schmeicheln,
weil man zum Jahrmarkt ein paar Groschen braucht.
Man sähe dann den Mann, der lange taucht.
Und einen Affen, der Zigarren raucht.
Und ließe sich von Riesendamen streicheln.

Man ließe sich von einer Frau verführen
und dächte stets: das ist Herrn Lehmanns Braut.
Man spürte ihre Hände auf der Haut.
Das Herz im Leibe schlüge hart und laut,
als schlügen nachts im Elternhaus die Türen.

Man sähe alles, was man damals sah.
Und alles, was seit jener Zeit geschah,
das würde nun zum zweitenmal geschehn ...
Dieselben Bilder willst du wiedersehn?
Ja!

Erich Kästner
 
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