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Seemannsgarn - Extreme Naturerlebnisse zur See

Nicobär

Member
Da ich mich zur Zeit gerade mit dem Thema Natur und Naturerlebnis in Nordwestdeutschland beschäftige, bin ich zwangsläufig auch beim sogenannten 'Seemannsgarn' gelandet. Dabei handelte es sich um Erlebnisse von Seeleuten, die einer übertriebenen Phantasie zugeschrieben wurden: man glaubte ihnen ganz einfach nicht und führte die für übertrieben gehaltenen Geschichten auf die lange Einsamkeit an Bord und den übermäßigen Alkoholkonsum zurück. Man wollte ihnen die Geschichten von riesigen Rochen und Riesenkalmaren ganz einfach nicht glauben - heute weiss man es anders, wie hier unter anderem zu sehen ist. Mir persönlich erscheint es als bemerkenswert, dass Berichte über Angriffe auf Schiffe mit Aufkommen maschinengetribener Schiffe praktisch verschwunden sind - ob es sich hierbei um präventive Angriffe der Kraken auf vermeintliche Pottwale gehandelt hat? Es ist bekannt, dass Riesenkraken die Hauptbeute des Pottwals sind.

Aber es gab auch noch andere Phänomene, denen man sich spätestens mit dem spurlosen Verschwinden des Lash-Carriers "München" im Atlantik im Dezember 1978 und dem Untergang der Bohrinsel "Ocean Ranger" - bei beiden Unglücken kamen alle Besatzungsmitglieder um Leben - beschäftigen musste: den sogenannten 'Freakwaves', in der Seemannssprache auch 'Kaventsmänner' oder 'Johnnys' genannt: riesigen Wellen, die sich bei schweren Orkanwetterlagen plötzlich vor dem Schiff aufbauen und es mit unheurer Wucht treffen. Ein niederländischer Seemann hat das Erlebnis einmal so beschrieben: man sähe sie kommen und wüsste, dass sie böses ausbrüten; aber bevor man noch einen klaren Gedanken fassen könne, wären sie über einem. Ähnliche Beschreibungen können die tapferen Janmaaten der DGzRS machen. So wurde der auf Borkum stationierte Rettungskreuzer 'Alfried Krupp' westlich von Borkum von einer schweren Grundsee getroffen, der ihn über seine Längsachse zum durchkentern brachte; die beiden an Deck befindlichen Besatzungsmitglieder fanden dabei den Tod. Ich persönlich habe das Schiff Wochen später im Hafen von Bremen-Vegesack liegen sehen, in den es zwecks Reparatur in Lemwerder geschleppt worden war. Der komplett umgebogene, aus zentimeterdickem Stahl bestehende Mast des Schiffes ließ erahnen, welche Kräfte dort am Werk waren.
Ähnliches erlebten auch die Rettungsleute der 'Vormann Steffens', die im August 1990 in einem Sommergewitter in der Jademündung von einer etwa 15 bis 20 m hohen Welle getroffen wurden, die unvermittelt von achtern anrollte. Ein Besatzungsmitglied ging über Bord, konnte aber später gerettet werden. Das Erlebnis war jedoch so traumatisierend, dass er seinen Dienst quittieren musste.

Im November 1930 konnte der Besatzung des Hamburger Frachters 'Luise Leonhardt' auf Grund der außergewöhnlich schweren See niemand zur Hilfe kommen. Auf Grund einer Fehlinterpretation des Wetterberichts war der Kapitän des Schiffes nach Absetzen des Lotsen in Cuxhaven nicht als sogenannter 'Windlieger' vor Anker gegangen, sondern bei vollem Orkan in die Deutsche Bucht hinausgefahren. In Höhe des Feuerschiffs Elbe II wurde das Schiff schließlich auf den Großen Vogelsand getrieben, wo es im Brandungsbereich strandete. Sowohl vom Feuerschiff als auch von dem zu Hilfe gekommenen Bergungsschlepper musste man tatenlos zusehen, wie das Schiff in der Brandung innerhalb weniger Stunden völlig zerstört wurde. Der Schlepper war durch gewaltige Wellen so schwer beschädigt, dass ein näheres Herankommen an das Schiff für die Besatzung den sicheren Tod bedeutet hätte. Ein Bericht findet sich hier. Besatzungsmitglieder des Schleppers berichteten hinterher, sie wären bis etwa 60 Meter an den Havaristen herangekommen und hätten gesehen, wie sich die Besatzung der Luise Leonhardt am Ende in die Masten des Schiffes zu retten versucht hätten, dann aber einer nach dem anderen von der See hinuntergespült wurden. Die bei der folgenden Verhandlung des Unfalls vor dem Seeamt in Hamburg analysierten Funksprüche zwischen der 'Louise Leonhardt' und dem Schlepper 'Hermes', der bis auf 60 m an den Havaristen herankam, ohne helfen zu können und der mit schweren Schäden am Schiff und mit durch schwerstem Seeschlag schwer verletzen Besatzungsmitgliedern den Rückzug antreten musste, gehören wohl mit zu dem Entsetzlichstem, was man sich vorstellen kann.

Solch ein Erleben hinterlässt zwangsläufig Spuren, die je nach Charakter eines Menschen in unterschiedlicher Art und Weise verarbeitet werden. Als sicher kann man annehmen, dass jemand, der ein solches Extremereignis überlebt, einen ungeheuren Adrenalinstoß bekommt und, wenn er wieder festen Boden unter den Füßen hat, ein ungeheures Glücksgefühl verspürt; in diesem Fall wird er das Erlebte, vor allem, wenn es für alle Seiten gut ausgegangen ist, erzählen. Andere werden hingegen auf die Dauer wortkarg - zu groß war das Entsetzen angesichts des Erlebnisses. Die Welle wird im Nachhinein größer und gewaltiger, denn das Erlebnis des Tobens der Elemente ist sehr subjektiv; dies gilt wohl um so mehr, je erfahrener man ist und meint, jeder Situation gewachsen zu sein. Ein blumiger Erzählstil führt dann noch dazu, dass kaum ein 'nüchtern denkender' Naturwissenschaftler den Seeleuten Glauben schenkt - und so hat man erst am Ende des 20. Jahrhunderts festgestellt, dass die Erzählungen keineswegs Märchen waren. Ist dies nicht doch der Beweis, dass jeder noch so phantastisch klingende Geschichte immer auch ein Körnchen Wahrheit innewohnt?

P.S.: ich habe gerade das Manuskript einer Reportage der BBC zu Riesenwellen im Meer gefunden, das ich hier nicht vorenthalten möchte. Ihr findet es hier.
 
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