Dornröschens Betriebsgeheimnis
Heute vor 200 Jahren brachten die Brüder Grimm ihren ersten Märchenband heraus. Das Erfolgsrezept gehört patentiert.
Von Dagmar Just
Erfolg ist ein viel zu schwaches Wort für das, was das Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm vor 200 Jahren ausgelöst hat. Weder Karl May noch Stephen King, Stephenie Meyer, Goethe oder sonst ein Bestsellerautor des Abendlands hat, Luthers Bibel ausgenommen, je einen solchen Wirkungs-Tsunami entfacht. Aber Achtung: Hier trennen sich womöglich Wege. Denn wer sein Bild von den guten alten Brüdern Grimm mit dem Sammeltick und der Dauer-WG retten will, sollte gleich zum nächsten Artikel übergehen. Es löst sich sonst womöglich in Luft auf, wenn hier noch mal ganz von vorn und ohne Rücksicht auf Verluste gefragt wird, wie so was überhaupt möglich sein kann: 17 Nachauflagen zu Lebzeiten der zwei Verfasser. Nach dem Erlöschen der Urheberfrist 1893 eine Flutwelle von Neuausgaben. Mit und ohne Illustrationen, fürs Volk, für Kinder, für Soldaten, für die Kuschel- und die Schmuddelecken, die „Gartenlaube“, die Universität. Dazu Übersetzungen in 160 Sprachen. Und das unendliche Meer der Adaptionen: die Märchen als Bilderbogen, Karten- und Puppenspiel, Lotto, Comic und Ballett, Skulpturen, Gemälde, Grafikzyklen, Sammeltassen und Tapeten, Musicals, Briefmarken, Stereoskop-Fotoserien, Papiertheater und Bühnenfassungen, Opern und Kantaten, Straßennamen, Roll- und Stumm- und Kinder-, Trick- und Erotikfilme. Von den Karikaturen und Persiflagen ganz zu schweigen. Das Erfolgsrezept gehört patentiert.
Wilhelm Grimm behauptet in der Vorrede zu seiner letzten Ausgabe der Märchen, er und sein Bruder hätten damals, als zwanzigjährige Jurastudenten, dem Volk einfach aufs Maul geschaut und mitgeschrieben. Ergebnis: die 156 Märchen. Diese Erklärung ist dann aber Nummer 157. Nicht nur, dass das sogenannte „Volk“, wie man heute weiß, meist aus dem hochgebildeten Bekanntenkreis der Brüder kam. Die angeblich an Lagerfeuern und „heimlichen Plätzen am Ofen, Küchenherd, unter Bodentreppen, in Triften und Wäldern“ erzählten urdeutschen Weisen stammten vielfach aus italienischen Romanen, französischen Kunstmärchen, alten Legendenbüchern und der blühenden Fantasie der Brüder selbst. Sind die Professoren Grimm also Lügner?
Band eins der Märchen erschien am 20. Dezember 1812, das heißt sieben Jahre nach Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, sechs Jahre nach Zerschlagung der Preußischen Armee vor Jena und Auerstedt und ein Jahr vor Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht. Wer damals jung war, warf sich in den Kampf. Für ein einiges deutsches Vaterland und gegen die französischen Besatzer. Mit Waffen – wie der Dichter vom Dresdner Körnerweg Theodor Körner. Oder mit Worten – wie Kleist. Oder diese zwei hessischen Brüder. Und sei es mit der ersten Großausgabe deutscher Märchen.
Das erklärt die Energie, mit der Wilhelm, vor allem Wilhelm, 40Jahre lang an jeder Ausgabe immer wieder neu feilte. Unermüdlich tauschte er Märchen aus, strich, ergänzte, ersetzte Anspielungen – meist sexuelle – durch unverfängliche Motive, änderte Ausdrücke, streute kräftige Redewendungen und die berühmten Formeln „Es war einmal“ und „Wenn sie nicht gestorben sind“ wie Glühwürmchen über die Sammlung. Instinktiv oder planmäßig erfand er dabei das Betriebsgeheimnis von Rotkäppchen & Co. Das einzige echte Alleinstellungsmerkmal, das diese Märchen denen der Tschuktschen, Ungarn, Russen, Dänen oder Betschuanen voraushaben und das inzwischen die ganze Welt von China bis Afrika, von Walt Disney bis zu den Barandov-Studios erobert hat: das Grimm-Design.
Vom „Froschkönig“ bis zum „Machandelboom“ beherrscht sie alle dieses gewisse Zwielicht, der leicht morbide Ton und das von der schaurigsten Schauerromantik durchtränkte Setting und hüllt sie, egal, aus welcher Zeit oder Quelle sie stammen, wie ein spinnwebfeines Outfit ein. Ein weniger begabter eitler Autor hätte dem Affen Zucker gegeben und jedes Märchen anders erzählt. Grimm hat sie alle in das gleiche Färbebad getaucht und so, wie „die kluge Bauerntochter“ das Stroh in Gold verwandelt, den reinen Roh-Stoff in einen Welt-Klassiker. Warum die Nachwelt ihn trotzdem zum stupiden Pedanten stempelt, bleibt ihr Geheimnis.
Der Autor, der aus den Märchen spricht, ist mit allen Wassern der Moderne gewaschen. Da ist diese unglaubliche Ökonomie. „Aschenputtel“ braucht ganze neun Seiten, „Frau Holle“ vier, „Der Wolf und die sieben Geißlein“ drei, und um das Ende vom „süßen Brei“ zu erfahren, muss man nicht mal umblättern. Die Märchen sind die ersten Short Storys! Dann die verrückte Idee, sie wie einen Fortsetzungsroman in 156 Teilen zu erzählen. Alles geschieht im gleichen schattig dunklen Wald mit Brunnen und Brücken, Türmen und Schlössern, einsamen Häuschen und der Stadt, in der man das immer gleiche rauschende Fest feiert. Die Märchen als erste Serie! Grimms dritter Coup: das Happy End. Das französische Rotkäppchen kannte es noch nicht. Am Ende war es tot und blieb es. Grimm hat das Blutbad mit dem glücklichen Ende als so nachhaltiges Prinzip eingeführt, dass noch James Bond davon profitiert.
Noch verrückter sind wahrscheinlich nur die vielen kleinen Fehler, Widersprüche und Lücken in den Geschichten. So flüchtet „Allerleirauh“, die Königstochter, von daheim statt ihres inzestversessenen Vaters. Der Leser schluckt es wie der Fisch den Köder an der Angel. Auch das goldene Spinnrad ein paar Zeilen später, das sie angeblich unbemerkt mitten in die Suppenschüssel praktiziert, die ein Diener dem rein zufällig auch noch heiratswilligen König serviert. Oder dieser Jäger, der dem kleinen Schneewittchen Herz und Lunge nur deshalb nicht herausreißt, „weil sie so schön war“ – gehört der nicht selbst an den Marterpfahl?
Und wie gierig ist erst dieses Schneewittchen, das sich lieber dreimal umbringen lässt, als auf ein einziges Ding, das ihr gefällt, zu verzichten? Dass Rapunzel in ihrem Turm geheimen Sex mit dem Prinzen hatte, erfährt der Leser der Erstausgabe von 1812 aus ihrer naiven Frage: „Sag mir doch, Frau Gotel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.“ 1857 beschwert sie sich plötzlich nur noch unglaubhaft dreist: „Frau Gotel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir?“ Ein König schwört, seine Tochter dem erstbesten Bettler, der an die Tür klopft, zur Frau zu geben, aber kein Bettler interessiert sich für die reiche Partie. Erst der verkleidete König Drosselbart erbarmt sich „ein paar Tage darauf“.
Es gibt Dutzende solcher Beispiele. Der Witz ist, dass die Märchen trotzdem funktionieren. Gut möglich, dass diese Ungereimtheiten sogar wie Whisky im Feuer sind: Sie lähmen die Alltagslogik und schüren die Spannung. Jedenfalls scheinen sie so unverzichtbar wie die Nieten an den Bluejeans von Grimms oberfränkischen Zeitgenossen. Dann müssten seine Märchen gar nicht zum immateriellen Weltdokumentenerbe erklärt werden, da sie wie die Bluejeans schon als Marke geboren sind.