• Willkommen im SAGEN.at-Forum und SAGEN.at-Fotogalerie.
    Forum zu Themen der Volkskunde, Kulturgeschichte, Regionalgeschichte, Technikgeschichte und vielem mehr - Fotogalerie für Dokumentar-Fotografie bis Fotogeschichte.
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst Du eigene Beiträge verfassen und eigene Fotos veröffentlichen.

dreh dich nicht um

Nebelfee

New member
„Mensch Karin, komm da jetzt weg.“
Doch Karin rührte sich nicht. Sieh stand mit dem Rücken zu mir auf dem schmalen Rand der Eisenbahnbrücke und starrte in die Tiefe. „Geh nach Hause Josi“, entgegnete sie nur. An ihrer Stimme hörte ich, dass sie weinte.
„Verdammt, Karin, lass den Scheiß und komm da jetzt endlich runter“, schrie ich sie an. Panik ergriff mich. Was konnte ich jetzt nur tun. Weit und breit keine Menschenseele, niemand da, der mir helfen konnte. „Mensch Karin, mach keinen Blödsinn, den du später bereuen wirst.
“ War ich eigentlich bescheuert, was Besseres fiel mir wohl nicht ein. Was sollte sie denn bereuen, wenn sie tot auf den Schienen lag? Ihr Leben? Steckte ich in ihrer Haut, ich wäre bereits vor einem Jahr gesprungen, als klar war, woher ihre ständigen Kopfschmerzen kamen.
Gehirntumor.
Eine Operation war kaum möglich ohne das Gehirn zu verletzen. Man könnte es riskieren, aber es sei ein großes Risiko und sie müsste das selbst entscheiden, meinten die Ärzte. Und Karin hat sich entschieden.
Wie eine Behinderte wollte sie nicht sein.
Die Schmerzen waren ihr mittlerweile unerträglich. „Trotz der Hammerkeulen, sagte sie mal und zeigte dabei auf den Tropf, der unaufhörlich irgendwas in ihr Blut laufen ließ.
Wenn ich sie im Krankenhaus besuchte, saß sie oft weinend in ihrem Zimmer, presste den Kopf zwischen die Hände, als wollte sie ihn ausquetschen. Manchmal sah ich in ihren Augen, wie sie mich anflehte zu helfen. Doch ich konnte nichts tun, außer eine Schwester rufen, die ein weiteres Schmerzmittel in den Tropf spitzte. Ich konnte nichts weiter tun, als Karin in den Arm zu nehmen, wie ein kleines Kind zu wiegen, und warten bis sie einschlief. Oft war es bereits mitten in der Nacht, bis ich endlich nach Hause kam, um dort in einen unruhigen Schlaf zu fallen.
In meinen Träumen wachte Karin nicht mehr auf und ich stand weinend an ihrem Grab.
Und jetzt stand ich hier.
Ich wusste nicht, warum sie mich überhaupt angerufen hatte. Warum ist sie nicht direkt aus dem Krankenhausfenster gesprungen? „Kannst du mich abholen und mit mir raus zum See fahren?“ hatte sie mich gefragt.
Ich war nicht sicher wie das überhaupt funktionieren sollte, immerhin war es schon spät am Nachmittag, sie hing am Tropf und bestimmt durfte sie auch das Krankenhaus überhaupt nicht verlassen.
Doch als ich eine Stunde später dort eintraf, war sie bereits angezogen. Der Tropfständer stand in der Ecke.
„ Hast du den Arzt gefragt, ob das gut ist, wenn du jetzt da draußen rumläufst“, machte ich mir Sorgen. Sie sah mich mit ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen an und knuffte mir in die Wange. „Klar, hab ich, was denkst denn du.“

Im Auto legte sie eine CD in den Player und drehte die Lautstärke auf Maximum. Knocking on heavens door, röhrte es aus den Lautsprechern. Wie oft hatten wir uns eigentlich den gleichnamigen Film angesehen. Und wie oft hatten wir uns vorgenommen, am Ende nicht zu heulen. Es muss so zwanzig Mal gewesen sein. Ja, bestimmt, wenn nicht noch mehr. Lauthals sangen wir den Refrain mit.
Mitten auf der Brücke, unter der die Schnellzüge Richtung Süden rasen, wurde es Karin übel und ich steuerte den Wagen auf den Seitenstreifen. Schnell stieg sie aus und ich hörte wie sie sich mehrmals übergeben musste. Ich stellte die Musik leise und wartete im Auto.
„Beim Kotzen brauch ich keine Zuschauer“, hatte sie mal gesagt.
Ich würde zurückfahren. Karin wieder in die Klinik bringen. Ich konnte das nicht verantworten. Was, wenn ihr jetzt etwas zustoßen würde? Sobald sie wieder im Auto saß, wollte ich wenden. Es war sowieso eine blöde Idee, so spät noch zum See raus zu fahren. Wie konnte ich mich nur auf sowas einlassen. Die Sonne stand bereits tief und bis zum See waren es noch fast dreißig Kilometer. Es wäre dunkel, wenn wir ankämen.
Doch Karin kam nicht zurück ins Auto. Als ich mich umdrehte, um zu sehen wo sie blieb, sah ich wie sie über den, bestimmt drei Meter hohen, Zaun der Brücke kletterte. Nachdem hier zwei Menschen in den Tod gesprungen waren, hatte man dem Zaun noch Stacheldraht aufgesetzt. Aber das schien Karin nicht abhalten zu können. Mir war klar was sie vorhatte, und doch war es mir gar nicht klar. Verwirrt stieg ich aus dem Auto, stolperte über meine eigenen Füße, schlug mir das Knie auf dem Asphalt auf und humpelte so schnell es ging zu ihr hinüber.
Da stand ich nun.
Ich vor und sie hinter dem Zaun. Oder vielleicht stand sie auch vor und ich hinter dem Zaun? Wer weiß das schon.
„ Hey Karin“, ich bemühte mich, meiner Stimme einen ruhigen Ton zu geben. „Was ist, wenn du gar nicht tot bist, wenn du da unten ankommst?“ Ich wusste, dass sie nicht die Mutigste war, noch nie gewesen ist, und versprach mir von dieser Frage, dass sie ihr Vorhaben abbrach. Doch die erwünschte Wirkung blieb aus. Stattdessen lachte sie und meinte trocken: „ Josi, mein Kopf ist schon längst da unten, jetzt lasse ich nur noch meinen Körper hinterher fallen. Das wird schon funktionieren, wirst sehen.“
Sie hatte ja recht. Die Brücke, auf der sie stand, war zudem die höchste Eisenbahnbrücke in der Gegend. Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.

Bin ich jetzt vielleicht die letzte, die Karin lebend sieht, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Werde ich ihr die Hand halten, bevor sie stirbt? Wird es so sein wie in diesem Film, wo der Schweiger am Strand liegt und sein Freund ihm die Hand hält? Als ich darüber nachdachte, kam mir diese Szene doch ganz schön kitschig vor. Seit fast einem Jahr malte ich mir jetzt schon aus, wie ich an Karins Bett sitze und sie für immer die Augen schließt. Und obwohl ich das doch schon zigmal im Kopf durchgespielt hatte, lief es mir jetzt eiskalt den Rücken runter. Tränen stiegen mir in die Augen. Nein, hier war es kein Film. Hier war es Realität.
„Mensch Karin, das ist doch scheiße was du da vorhast“, meine Stimme hatte ich bald nicht mehr unter Kontrolle. Ich suchte verzweifelt die Gegend ab. Warum verdammt nochmal, kam da niemand? Sonst fuhren hier doch auch jede Menge Autos.
Was sollte ich bloß tun? Ich sah wie Karin die Hände um das Brückengeländer krampfte, den Oberkörper noch ein Stück weiter nach vorne beugte…
„Karin!“ schrie ich panisch. “Karin, ich geh jetzt, hörst du? Hey, ich geh jetzt! Nun komm da endlich runter, ja. Komm, lass uns nochmal in Ruhe über alles reden. Es gibt doch sicher noch eine andere Möglichkeit. Hey, Karin.“
Doch Karin rührt sich nicht.
„Hilfe“ schrie ich so laut es meine Stimme noch zuließ. „ Hilfe“ hört mich denn niemand?“ Mein Blick suchte verzweifelt die Gegend ab. Vielleicht war da irgendwo ein Bauer, der die Wiesen neben den Gleisen mähte, vielleicht ein Spaziergänger, irgendjemand musste mich doch hören. Ein leises Lachen ließ mich wieder zu Karin blicken. „ Wen rufst du denn da um Hilfe“, fragte sie mit einem spöttischen Unterton. Hier hört dich ja doch niemand und selbst wenn? Was soll der dann tun? Dir helfen, mich hier runter zu holen? Fragt sich, wem damit geholfen ist. Ihr irres Lachen schnitt mir ins Herz. „Sieh mich doch an Josi“, wütend drehte sie sich um und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Trotz der Dämmerung sah ich die Angst in ihrem Gesicht. „Hey, Karin“ versuchte ich zu beruhigen. So schlimm ist das doch alles gar nicht. Der Arzt hat doch gesagt…
„Verdammt, lass mich mit doch damit in Ruhe, ich kann die ganze Scheiße nicht mehr hören. Wie lange soll ich mich denn noch mit diesen Schmerzen quälen, Josi. Wie lange noch? Ich kann nicht mehr, verstehst du, ich kann nicht…“, Karins Stimme brach ab und ich sah hilflos zu, wie ihr Körper von einem Weinkrampf geschüttelt wurde.
Ich stand da und wusste nicht mehr was ich machen sollte. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, aber dafür hätte auch ich über dieses Brückengeländer klettern müssen. Erschöpft setzte ich mich auf die Leitplanke und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Zaun. Was sollte ich nur tun.

„ Josi?“
Karins Stimme holte mich aus meinen Gedanken. “ Ja, Karin“ antwortet ich und betete leise, sie würde mich jetzt bitten, ihr die Hand zu reichen. „Jeder Sterbende hat doch einen Wunsch frei, so wie in dem Film, du weißt doch…“„ Du wirst nicht sterben Karin“, ich hätte diesen Satz am liebsten geschrien, gab meiner Stimme aber bewusst einen ruhigen Tonfall.
„ Weißt du Josi, was mein letzter Wunsch ist?“ „Nein Karin, das weiß ich nicht“, antwortete ich. Mir wurde übel. „ Mein Wunsch ist es, dass du jetzt gehst“, flüsterte sie. „Was?“ ich sprang auf und starrte ihren Rücken an.“ Du hast mich schon verstanden“, sprach Karin jetzt mit fester Stimme. „ Geh Josepha!“ Ihre Stimme hatte jetzt einen bedrohlichen Unterton. Es war auch das erste Mal, dass sie meinen vollen Namen aussprach und er klang merkwürdig aus ihrem Mund.
„ Vergess es“, schrie ich sie an. „Nein, du bist ja bescheuert Karin, komm da jetzt weg und ich fahr dich zurück in die Klinik. Oder du kommst mit zu mir in die Wohnung und wir sehn uns den Film nochmal an. Nun los, mach schon.“
„ Josi ! ich brauche keine Zuschauer, du weißt schon“, sie sprach jetzt ruhig und deutlich. Mir zitterten die Beine. Ich wünschte mir jetzt ohnmächtig zu werden, aufzuwachen aus einem verrückten Traum oder irgendwas, nur nicht hier sein. Mir war kalt. Ich wischte mir mit dem Ärmel der Jacke übers Gesicht und starrte sekundenlang auf die feuchte Spur, die die Tränen darauf hinterlassen hatten.
Was meinte noch der Psychologe, der Karin betreute und den ich mal irgendwann gefragt hatte, wie ich Karin helfen könnte? >Sehen sie nicht ständig nach hinten, Josi. Reden sie mit ihr darüber. Sie will es.
Ich hielt ihn damals für wenig einfühlsam. Sollte ich etwa Karin darauf ansprechen, sie ständig daran erinnern? Der hatte doch einen weg. Es reichte wohl noch nicht, dass Karin bereits anfing mir zu erzählen, wie sie sich ihre Beerdigung vorstellte? Ich wollte das nicht hören.
Und nun stand ich da. Unfähig überhaupt irgendwas zu tun.
„Ach, mach doch was du willst“, schrie ich unter Tränen und stolperte Richtung Auto. Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Ich wollte nicht, dass sie sich noch länger mit diesen Schmerzen quälte, aber ich wollte sie auch nicht verlieren.
„Sie wird mir hinterherlaufen“, sprach ich zu mir selbst. Ja, das wird sie. Ganz sicher. Ich werde mich ins Auto setzen und ihr Lied spielen lassen. Dreh dich nicht um, Josi. Dreh dich nicht um. Sie wird kommen. „Knock, Knock Knocking on Heavens Door”, brüllte ich in die Stille. Mir war kalt. Ich steckte die Hände in die Jackentaschen. Das Handy! Warum fiel mir das jetzt erst ein? Ich hatte gar nicht daran gedacht den Notruf zu wählen. Wie war noch die Nummer? 112? >Wer zuerst tot ist, schreibt ne SMS an den anderen und beschreibt wie es ist >, das hatten Karin und ich uns mal irgendwann lachend versprochen. Langsam steckte ich das Handy wieder in die Tasche zurück.
„Dreh dich nicht um, Josi. Dreh dich nicht um…“
 
Zurück
Oben