• Willkommen im SAGEN.at-Forum und SAGEN.at-Fotogalerie.
    Forum zu Themen der Volkskunde, Kulturgeschichte, Regionalgeschichte, Technikgeschichte und vielem mehr - Fotogalerie für Dokumentar-Fotografie bis Fotogeschichte.
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst Du eigene Beiträge verfassen und eigene Fotos veröffentlichen.

Wurmzettel

dolasilla

Active member
Ich frage mich, welche Würmer im Finger damit gemeint sein könnten? Welche Krankheit wird hier beschrieben?
Ich könnte mir z.B. Milben vorstellen. Hat wer noch eine Idee?

Beim Schluckzettel ist klar, was gemeint ist (Tollwut).

wurmzettel.jpg
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist eine interessante Fragestellung aus einem ebenso interessanten Dokument!

Nach meiner Einschätzung handelt es sich nicht um einen physikalischen Wurm, sondern um eine lokale Dialektbezeichung einer Handerkrankung, vielleicht in Richtung Rheuma oder Gicht?

Das wäre toll, wenn ein Mediziner diesen Begriff deuten könnte?

Wolfgang (SAGEN.at)
 
Ein Wurm stand für die Symptome einer meist bakteriellen Entzündung (pochende, drückende Schmerzen, evtl. eitrig, abzessbildend etc.) und war, je nach Lokalisation ein Zahn, Finger oder sonstwas -wurm.
Daher würde ich auf Nagelumlauf tippen. In Zeiten ohne Gummihandschuhe, Hygienemassnahmen und Antibiotika gabs durchaus Gründe, ihn zu fürchten, wenn er nicht ausheilen konnte.
 
Windsbraut hat recht, danke für den Hinweis!

Der "Wurm im Finger" nennt sich "Panaritium":
"Ein Panaritium, deutsch Nagelgeschwür, Fingerumlauf oder kurz Umlauf (früher auch das „Ungenannte“, der „Wurm am Finger“ und der „Fingerwurm“) genannt, ist eine Infektion eines Fingers oder Zehs mit Nagelbettentzündung und Saumgeschwür mit Einschmelzen von Gewebe." Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Panaritium

"Das Panaritium wird am häufigsten durch eine Infektion mit Staphylokokken und Streptokokken, seltener durch eine Infektion mit anderen Bakterien verursacht. Die Erreger treten durch kleine Verletzungen im Bereich der Haut, durch Bisswunden oder durch Stichwunden in den menschlichen Körper ein. Lokal führen sie zunächst zu einer Einschmelzung des Gewebes. Die betroffenen Patienten klagen über pulsierende Schmerzen im Bereich des Fingers bzw. der Zehe. Der Finger bzw. die Zehe ist gerötet und geschwollen und in ihrer bzw. seiner Funktion eingeschränkt." Quelle: https://flexikon.doccheck.com/de/Panaritium

Aus volkskundlicher Sicht interessant auch dieser weitere Hinweis, den ich mittlerweile gefunden habe:
"Unter den Geschwüren ist in der Volkstherapie der Wurn (Wurm, Panaritium) am meisten bekannt. Im Volksglauben heisst es, dass man in denjenigen Finger, mit dem man' auf den Regenbogen zeigt, den »Wurn« bekomme. Den Namen hat dieses häufig vorkommende Fingergeschwür von dem im Volke festgewurzelten Glauben, dass dieses Leiden durch einen im Fingergliede nagenden Wurm entstanden ist. Gegen den »Wurm im Finger« wird folgendes Mittel angegeben:
Man lege auf die innere Handfläche jener Hand, an welcher ein wurmkranker Finger ist, drei Regenwürmer, zerdrücke und verreibe sie
mit einem Finger der anderen Hand so lange, bis nichts mehr vorhanden ist. Mit diesem Finger macht man an dem wunden Finger
mehrere Kreuze und spricht dabei:
„Jesus und Petrus fahren ackern aus,
sie ackern drei Würmer aus,
der erste ist weiss,
der zweite ist schwarz,
der dritte ist roth,
der Wurm, den ich jetzt abbet, der ist todt.
Im Namen Gott des Vaters f des Sohnes f und des heiligen Geistes f Amen.)"

Quelle: Zeitschrift für österreichische Volkskunde, 1903, 9.Jahrgang, S. 216 ff.

Also bestimmt keine angenehme Angelegenheit, zudem gewiss auch sehr schmerzhaft 😰, vor allem bei der Verrichtung der alltäglich notwendigen Arbeiten (in der Küche, am Feld und im Stall), die ja trotz alledem gemacht werden mussten.

Die Fotos, die man zu sehen bekommt, wenn man das Stichwort "Panaritium" in die Suchmaschine eingibt, sehen wirklich alles andere als appetitlich aus😖. Das Wissen über die dadurch verursachten Schmerzen, gepaart mit der Vorstellung, drei Regenwürmer zu zerdrücken und zu verreiben, bis nichts mehr vorhanden ist, löst bei mir ziemlich unangenehmes Kopfkino aus 😱

LG,
Dolasilla
 
Den armen Regenwurm konnte man in der Volksmedizin für alles mögliche brauchen, hier (pdf, ab S.44) eine Zusammenfassung.

Die Wirkung war sicher nicht nur eine magische, denn der Schleim des Regenwurms hat antibiotische Wirkung und erweicht schrundige Ränder, ähnlich dem Schneckenschleim. Es ist auch nicht gesichert, dass der Regenwurm kein Schmerzempfinden hat, wie gern behauptet wird, vor allem von Anglern natürlich
(https://www.sueddeutsche.de/wissen/schmerz-lass-nach-wie-geht-s-dem-wurm-am-haken-1.912296)
dass er jedoch (getötet) schmerzlindernd wirkt, ist Erfahrungstatsache und erlaubt wenigstens den Verdacht, dass er körpereigene 'Schmerz'mittel, in welcher Form auch immer (Hormone, Opioide) freisetzt bei Verletzung, die auch beim Menschen wirksam sind.

Fussnoten 37, 38 daselbst

Interessant finde ich darüber hinaus, dass der Wurm verschiedene Farben haben konnte und auch das körperlose, geistartiges Wesen bezeichnete, das jemand befallen oder ihm 'angehängt' werden konnte, jedenfalls Krankheit hervorruft und entsprechend zu behandeln ist. Also auf geistiger, magischer Ebene, wie auf obigem Zettel, via Abbeten, Wurmsegen (weitere hier: Bächtold/Stäubli), da ja nichts physisch Greifbares da war, um ihn/es aus dem Körper zu holen.

Zum Begriff Wurm im Mittelalterlexikon:

 
Kann mir gut vorstellen, dass der Regenwurm-Schleim nützlich ist (antibiotische Wirkung). Dass Regenwürmer kein Schmerzempfinden haben sollen (wie es die von dir genannten Angler gern postulieren), glaub ich auch nicht.

Ja, alle möglichen Tiere (reale wie mythische) wurden einst als "Würmer" bezeichnet, wie z.B. Schlangen, Drachen, Lindwürmer.

Was mir beim zweiten Wurmzettel sofort aufgefallen ist, dass hier die Farben weiß-rot-schwarz eine Rolle spielen ("der erste ist weiss, der zweite ist schwarz,der dritte ist roth"), was mich sofort an die Bethen, die alte Frauen-Trinität der Alpen denken lässt, die ebenfalls in den Farben weiß-rot-schwarz daherkommen. Der Bethen-Kult wurde (wie so vieles) von der christlichen Kirche okkupiert, doch die alte Göttinnen-Trinität lebte auch in der christianisierten Version im Bewusstsein der Menschen weiter, in Form der "drei Heiligen Madl'n" namens Margaretha, Barbara, Katharina. Der Glaube und der Kult um die drei gütigen Frauen, die durchs Land ziehen, den Menschen weisen Rat erteilen und ihnen auch viel schenken (z.B. Wald, das sogenannte "Frauenholz"), hat sich wirklich lange gehalten.

Was mich wieder zum Wurm bringt, denn eine der drei heiligen Madl'n hat nämlich einen "Wurm" (einen Drachen) als Haustier, und zwar Margarete. Der Spruch über die drei heiligen Madl'n ist auch heute noch vielen wohlbekannt und lautet:
"Margareta mit dem Wurm,
Barbara mit dem Turm,
Katharina mit dem Radl,
das sind die drei heiligen Madl."


Unzählige Sagen berichten darüber, dass bzw wie ein Lindwurm (Margaretes Haustier !) in einer bestimmten Stadt oder Region getötet wird: Immer ist der Drache oder Lindwurm ganz schrecklich und böse, frisst Menschen usw. usf. und wird dann durch den heroischen Einsatz vom Hl.Georg (das ist der Drachentöter) oder einem tapferen Helden namens Siegfried umgebracht - meiner Ansicht nach ein deutliches Symbol bzw ein Hinweis für die Vertreibung/Auslöschung der drei weisen und gütigen Frauen, die einst so hochgeschätzt waren und erstmal durch die drei heiligen Madln ersetzt wurden, bevor sie endgültig durch die christliche Trinität (Gottvater, Sohn & Co) ersetzt wurden.

Im zweiten Wurmzettel wird der Wurm auch getötet: "der Wurm, den ich jetzt abbet, der ist todt." - im Unterschied zum ersten Wurmzettel, wo der Wurm nur vertrieben werden soll....

In den o.g. Wurmzetteln sind die drei heiligen Frauen gar nimmer von der Partie, sondern wurden hier durch Gott, Jesus und Petrus bzw den ominösen Heiligen Geist abgelöst: Deutlich wird das im o.g. Spruch "Im Namen Gott des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes Amen".

LG,
Dolasilla
 
Wenigstens im ab-bethen könnte man sie noch beheimaten, die drei Heiligen Madln ;)

Beim ältesten schriftlich bekannten Wurmsegen "gang ut, nesso, (...)" war, laut wiki - Version noch 1 Herr zuständig fürs Austreiben des Wurms, in anderen Versionen fehlt diese letzte Zeile.

Laut Mittelalterlexikon unterscheidet sich eine Beschwörung, also ein Zauberspruch von einem Gebet oder Segen durch die angehängte religiöse Floskel.

Wenn man an die Zeit der Hexenverfolgung denkt, war es aus guten Gründen geboten, alles Abbeten, Wenden usw. ausdrücklich mit einem christlichen Segen zu verbinden. Ich denke, der Horror vor Hexenwerk, bzw. eines solchen bezichtigt zu werden, hat sich tief eingeschliffen ins Volksgedächtnis. Mit dem Kreuzzeichen war man auf der sicheren Seite :D

Dazu ist die Praktik, einen Krankheitsdämon, in welcher Form auch immer, an die Körperoberfläche zu locken, um ihn dann zu entsorgen, weder eine spezifisch christliche/katholische noch eine deutsche. Auf der ganzen Welt, und evtl. schon seits Menschen gibt, arbeiten geistige Heiler damit.

Zur Etymologie von Nesso, Nessia hier noch ein interessanter Artkel (englisch)
 
Wenigstens im ab-bethen könnte man sie noch beheimaten, die drei Heiligen Madln ;)
Unser Wort "beten" im Sinne von "eine Gottheit anrufen" ist von den Bethen abgeleitet ;)

Wenn man an die Zeit der Hexenverfolgung denkt, war es aus guten Gründen geboten, alles Abbeten, Wenden usw. ausdrücklich mit einem christlichen Segen zu verbinden. Ich denke, der Horror vor Hexenwerk, bzw. eines solchen bezichtigt zu werden, hat sich tief eingeschliffen ins Volksgedächtnis. Mit dem Kreuzzeichen war man auf der sicheren Seite
Ja, das geb ich Dir recht.

Ich bin überzeugt, dass die schreckliche Zeit der Hexenpogrome in uns Frauen bis heute tief weiterwirkt. Die heute oft so schmerzhaft vermisste Solidarität unter Frauen, das Zusammenhelfen von Frauen in schwierigen Zeiten wurde gebrochen, in dem die Peiniger die Frauen unter der Folter dazu zwangen, alles zu „gestehen“, was sie von ihnen hören wollten. Dazu gehörte es auch, andere Frauen zu denunzieren und der Hexerei zu bezichtigen, denen anschließend dieselbe Qual drohte bzw. angetan wurde. Der Grundsatz der Inquisitoren war, so lange mit der Folter fortzufahren, bis das Opfer viele "Komplizinnen" genannt hatte; diese wurden dann ebenfalls verhaftet und gefoltert, bis weitere Namen genannt wurden. Nicht nur die Angst und der blanke Horror vor der Folter, welche nicht nur das „peinliche Verhör“ (ein Fachbegriff des "Hexenhammers“) sondern auch mehrfache Vergewaltigungen bedeutete, auch war die Vollstreckung all der Qualen verständlicherweise unerträglich für die Frauen.

Frauen, die bis dato zahlreiche Freundinnenschaften pflegten, mit ihren Schwestern, Müttern, Töchtern und anderen weiblichen Verwandten, sowie Nachbarinnen, den eigenen Arbeitgeberinnen und anderen Frauen in ihrer Umgebung in guter Gemeinschaft lebten; Frauen, die einander in widrigen Situationen zuverlässig halfen, mussten auf einmal Angst vor genau jenen Frauen haben. Diese Angst war berechtigt, denn der schrecklichen Folter entkam kaum eine: Bei Hexenprozessen stand das Todesurteil im voraus fest. Der übliche Verlauf war: Denunziert, verhaftet, gefoltert, verbrannt. Wenn eine Frau keine andere Frau denunzierte, sondern beharrlich schwieg, war das auch keine Lösung. Schweigen galt ebenfalls als Geständnis. Es gab für die angeklagten Frauen schlichtweg kein Entrinnen (es gab nur ganz wenige Ausnahmen). Diese Angst, von einer anderen Frau, die so lange gefoltert wurde, bis sie alles „zugegeben“ hatte, denunziert zu werden und dadurch dasselbe Schicksal erleiden zu müssen, brach jegliche Solidarität unter den Frauen. Auch wenn manchen diese Geschichte nicht mehr gegenwärtig ist - dieses schreckliche Erbe steckt uns Frauen bis heute noch in den Knochen und es wirkt sich auch bis heute noch fatal aus.

Zurück zum Wurm! (Dazu fällt mir grad die Redensart "da ist der Wurm drin"" ein).
Was mir auch noch aufgefallen ist, dass es sich (zumindest im zweiten Wurmzettel), um Sympathiezauber (auch Analogiezauber genannt) handeln könnte. Sympathiezauber ist eine Vorstellung bzw. Praxis aus der Volksmagie und Volksmedizin, die weitverbreitet war und in praktisch allen Kulturen der Welt anzutreffen ist (bzw. war). Diesen Vorstellungen zugrunde liegende Annahme geht davon aus, dass zwischen zwei verschiedenen Dingen, die einander äußerlich gleichen (oder zumindest ähnlich) sind, eine Verbindung (eben „Sympathie“) und somit eine Anziehung besteht und diese sich daher gegenseitig beeinflussen.

Genau diesen Gedanken sehe ich im zweiten Wurmzettel: Hier wird der Wurm im Finger (und laut den Fotos, die ich im Internet gesehen habe, sieht Panaritium tatsächlich ein bisschen aus wie ein Wurm, der sich entlang des Nagelbettes schlängelt) mit anderen Würmen, nämlich den Regenwürmern, ausgetrieben....

LG,
Dolasilla
 
Zurück
Oben