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Ich beschäftige mich zur Zeit ein wenig Tiroler und alpinen Mythen im heutigen Tourismus.
Einen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse der historischen Tiroler Landwirtschaft bringt der Tiroler Volkskundler Prof. Hermann Wopfner in seinem berühmten Bergbauernbuch:

"Vom Grasrupfen

Der Wirtschaftspolitik der Aufklärungszeit - zuweilen groß im Kleinen – war das sogenannte Grasrupfen der Kleinbauern ein besonderer Stein des Anstoßes. Ihre Vertreter beliebten es sogar als Grasdiebstahl anzusehen. Sternbach behauptet in seinem wiederholt erwähnten „Öconomischen Vorschlag" von 1767 (623, S. 26, § 14), dass mancher Söllhäusler ebenso viel Vieh halte, wie ein großer Bauer; dabei komme es nur darauf an, dass der Kleinbauer genug Töchter zum Grasstehlen habe. Diese müssen sich nach Ansicht des Barons „einen Teil des Jahres mit Faulenzen, den übrigen mit Grasstehlen beschäftigen". Da sie das Gras auf der Gemeinweide stehlen würden, wäre es auch aus diesem Grunde angezeigt, die Gemeinweiden in Wiesen zu verwandeln. Der Baron ereiferte sich unnötig; dafür, dass die Töchter der Kleinbauern sich nicht mit Grasstehlen versündigen konnten, sorgte schon die Gemeinde, in der gewöhnlich die größeren Bauern das entscheidende Wort führten. Verbote der Gemeinden bedrohten das Grasrupfen auf der Gemein an allen Stellen, wo das Vieh noch weiden konnte, mit erheblichen Strafen. Eine Ordnung für die Marktgemeinde Imst aus dem Jahre 1682 verfügt beispielsweise im zweiten Punkt: „Zum andern, und nach deme man mit schaden wahrnehmen miessen, das etwelliche burger und inwohner mit wenigen gietern vill vich gewintert, wellichs dahero komen, das solche persohnen sich des strafmeßigen grasropfen sowol in und neben den veldern in den Stauden, gemeinen threuen (Viehwegen) oder auch im walt der gemainen atzung zum schaden bedient und also mit deme, was der gemain entzogen, merer vich, als ire gieter ertragen kinden, eingestelt und auf die atzung geschlagen, so dem gemainen wesen zu hechsten schödlich, als hat man beschlossen, das hinfirder alles grasropfen, sowol anhaimbs im velt als in der gemain ganz bescheidenlich und nur aus den Stauden und denen orten, albo das rintvich die waid nit suechen kan, zuegelassen, sonsten aber in den veldern, sowol auf den ackern, als mädern genzlich verpoten sein solle, pei peen zwai pfunt perner ..." (TW. II, S. 148, Anmerkung).

Viele von den Plätzen, an welchen Gras gerupft wurde, hätte auch der größte Eifer der Reformfreunde nicht in Wiesen verwandeln können. Diese Plätze lagen nämlich hoch droben am Berg zwischen schwer zugänglichen Schrofen. Über das Grassammeln an solchen Stellen berichten eingehender zumeist erst jüngere Quellen. Erwähnt wird ein Mähen des Grases auf schmalen Grasflecken zwischen den Felsen bereits im 15. Jahrhundert. Ärmere Bauern werden es wohl schon vorher geübt haben, um den Vorrat an Winterfutter zu strecken. Beda Weber (730, Bd. 2, S. 298 und 3, S. 404) berichtet von solchem Futtersammeln, wie es beispielsweise im Vinschgau und Stubai üblich war: „Um das Vieh zu überwintern, sammeln die Weiber (im obern Vinschgau) an den steilsten Berghängen jedes Hälmchen Gras, um es dem oft sparsamen Wiesenertrag wirtschaftlich einzureihen." Über Stubai berichtet er: „Die Stubayer als Bauern betrachtet, sind rastlose Arbeiter. Wie Ziegen klettern sie an den gefährlichsten Abhängen umher, um eine Handvoll Heu für ihr Vieh zu gewinnen, unabgeschreckt durch öfter vorkommende Beispiele von Tod und Verstümmelung im jähen Absturz." Der Ötztaler Bauer F. J. Gstrein, ein vorzüglicher Schilderer der Bergbauernarbeit, erzählt aufgrund einer alten Überlieferung aus dem Ötztal (185, S. 18 f.): „In früherer Zeit holten sich Kleinbauern und ärmere Leute im Sommer viel Gras aus den Bergen. Das wenige gute Feld, das man besaß, diente dem Flachs- und Getreidebau, eine Kuh oder ein paar Ziegen wollte man doch halten, und daher stieg man oft in Felsen und hohe Wände hinein, wo das Weidevieh nicht hinkam, mähte mit dem Hacker das Gras oder rupfte es mit Händen aus, füllte Ruckkorb oder Blache damit und trug es nach Hause. Mit welcher Kühnheit die Alten mitten in hohe Wände hineinsteigen um ein paar Körbe voll Gras, darüber staunt man heute noch, wenn einem alte Leute die Plätze zeigen, die früher gemäht wurden. Hie und da kam es wohl vor, dass einer dabei abstürzte. ,Als ich für meine Gaißen Gras mähte, da stürzte ich über diese hohe Felsenwand', heißt es auf einem Marterl. Eine andere Überlieferung erzählt: Zwei Männer stiegen in die Wand ober dem Seestall hinauf, um sich ihre Ruckkörbe voll Gras zu holen. Der eine begann mit gefülltem Korb den Abstieg, stürzte aber hinunter und blieb tot liegen. Sein Kamerad sah es, doch machte er zuerst noch seinen Korb voll, dann begann er den Abstieg, kam glücklich unten an und eilte nach Hause, um das Unglück zu melden. Als man ihn fragte, warum er nicht gleich, als der andere abstürzte, heimgegangen sei, da meinte er: Ja, wenn der eine nichts nach Hause bringt, wie hätt ich auch noch können leer heimgehen, da hätten wir ja beide keine Schicht gemacht.'"

Ausgerüstet waren die Grasrupfer mit einer Sichel oder einer kurzen Sense, dem vorhin genannten Hacker. Auch in dem überfüllten Defereggen mähen die Kleinbauern mit der kurzen „Zattensengse" oder mit der Sichel das Gras in den höher gelegenen Teilen des Gemeindewaldes, von denen das Weidevieh wegen der Absturzgefahr ferngehalten wird; öfters wird das Gras auch einfach mit der Hand abgerupft. Auch in den Schweizer Hochalpen hat die Landnot in gleicher Weise zur Gewinnung von „Ritzheu" oder „Flueheu" Anlass gegeben. Fleißige Almleute benützen die freie Zeit, um an Plätzen, zu denen das Weidevieh nicht gelangen kann, Gras zu rupfen. Was man dabei gewinnt, wird dem Almvieh als zusätzliches Futter gereicht. Im tirolischen Villgraten nennt man dies „Miate machen", die Mundart hat hier, wie in so vielen anderen Fällen, alten Sprachgebrauch gewahrt: „Miete" bedeutet im Mittelhochdeutschen soviel wie Lohn oder Gabe; in unserem Fall bedeutet „Miate" eine Zugabe an Futter.
Für die Erhaltung der Bergbauernhöfe kann unter Umständen diese mühsame Art der Futtergewinnung Bedeutung gewinnen. Im Jahre 1653 bestanden zu See im innersten Kaunertal vier Höfe mit 43 Stück Großvieh und 50 Stück Ziegen und Schafen. Heute ist die Siedlung verödet; vom Ertrag der Heimwiesen könnte man nur mehr 2-3 Stück Großvieh füttern. Die Muren haben das Hofland arg verwüstet; aber der hohe Viehstand von 1653 war auch damals nur möglich, „weil die Leute in allen Felsen und Rinnen Wildheu gewannen".

Das Grasrupfen stellt geradezu einen Hohn dar auf all das, was kaufmännische Rechnungsmäßigkeit vom Verhältnis zwischen Arbeitsaufwand und Arbeitsertrag lehrt. Solcher Auffassung muss es als unsinnig erscheinen, viele Stunden mühevollster und oft auch gefährlichster Arbeit zur Gewinnung eines zumeist nicht einmal hochwertigen Futters aufzuwenden. Dem Bauern bietet das so mühsam gewonnene Futter aber die Möglichkeit, sich auf seinem schmalen Gut zu behaupten. Auch dieses Grassammeln ist ein Teil des Kampfes um die Heimat. Und dieser Kampf hat seinen Sänger in keinem Geringeren als Friedrich Schiller gefunden:
„Ein armer Wildheuer ...
Der überm Abgrund weg das freie Gras
Abgemäht von den schroffen Felsenwänden,
Wohin das Vieh sich nicht getraut zu steigen."
(Wilhelm Teil, 4. Aufz., 3. Szene)."

Quelle: Hermann Wopfner, Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben des Tiroler Bergbauern. 3. Band, Wirtschaftliches Leben. (1951-1960), Innsbruck 1997. S. 367 - 369.

Wolfgang (SAGEN.at)
 
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