Hier eine ausführliche Antwort von einem sehr geschätzten Kollegen, dem Volkskundler Hans Haid aus dem Ötztal in Tirol.
Zitiert aus seinem für jeden an der alpinen Volkunde/Ethnologie interessierten äußerst empfehlenswerten Buch:
Hans Haid, Mythos und Kult in den Alpen. Ältestes, Altes und Aktuelles über Kultstätten und Bergheiligtümer im Alpenraum. 1992.
Christlich umgestaltet
Überaus geschickt hat es die katholische Kirche verstanden, heidnischen Kult in christlichen Kult umzuwandeln, ihn überaus sensibel der christlichen Kult-Welt anzupassen. Sehr sorgfältig haben einzelne Päpste und infolgedessen auch Bischöfe, Klöster, Missionare dieses Gedankengut umgewandelt.
Das war nicht immer so. Zuerst hat die Kirche massiv, durch Verbote und Strafandrohungen den „alten Glauben“ auszurotten versucht.
Die Geschichte der alpinen Kulte ist voll davon. Eine radikale Bekämpfung blieb ohne Erfolg. Um 590 schreibt Papst Gregor der Große an den Abt Melitus in einem Kloster in England:
„Nach langer Überlegung habe ich
erkannt, dass es besser ist, anstatt die
heidnischen Heiligtümer zu zerstören,
dieselben in christliche Kirchen
umzuwandeln ... es ist nämlich
unmöglich, diese rohen Gemüter mit
einem Schlage von ihren Irrtümern zu
reinigen. Wer die Spitze eines Berges
erreichen will, steigt nicht in Sprüngen,
sondern Schritt für Schritt.“
(zit. nach Caminada. S 44)
Ab etwa 590 wurden also an den Orten, wo früher heidnische „Götzenstandbilder“ standen, wo an heiligen Wassern heidnische Götter angebetet wurden, wo heidnische Kultsteine verehrt und heidnische Feste abgehalten wurden, christliche Kreuze aufgestellt, Marienbilder dem frommen, verängstigten Volk zur Verehrung empfohlen, sicherlich sehr dringend empfohlen.
Die Heiligen Wasser blieben heilige Wasser und darüber wurden christliehe Kirchen erbaut. Dem frommen Volke wurde empfohlen, von diesem Wasser zu trinken, die Kirchen zu besuchen. Aus den heiligen Kultsteinen wurden Altartische der katholischen Wallfahrtskirchen, wie solches hundert- und tausendfach im ganzen Alpenraum und überhaupt in allen christianisierten Ländern anzutreffen ist. Es war diese Behutsamkeit ein Zaubermittel besonderer Art. Die großen Erfolge irischer Mönche hängen damit zusammen.
Die Päpste hatten erkannt, dass in etlichen Regionen Europas nur irische Mönche dazu imstande waren, weil irischer Glaube und irischer Kult weitgehend keltische Kulte waren, dass also die keltischen Heiden am besten über das Verständnis irischer Christen zu richtigen Christen umgewandelt werden können. Irische Mönche waren die Vertrauten der alten Kultur. Sie wussten um die Bedeutung der Heiligen Steine, der aufragenden Menhire und der Grabstätten aus Steinen. Sie wussten um die den Menschen so wichtigen Quellen. Durchkriechsteine. Rutschplatten. Fruchtbarkeitszauber und Abwehrriten. Also geschah es in den ersten Jahrhunderten der sogenannten Christianierung weiter Teile des Alpenraumes, dass der Übergang von einer Religion in die andere, von einem Kult zum anderen fast konfliktfrei ablaufen konnte.
Offenbar wurde auch geduldet, wenn alte Relikte nicht sofort ausgemerzt wurden, wenn das gläubige Volk weiterhin an alten Kultvorstellungen festhielt. Diese Art von Religionswechsel war und ist sehr tiefgreifend, sehr fundamental. Auch aus diesem Grunde hat das Christentum, haben christliche Kulte und Glaubensvorstellungen eine solche Festigkeit durch die Jahrhunderte, durch nunmehr 1400 Jahre alpenländischer Kulturgeschichte.
Zutiefst im Volk verwurzelte Glaubens- und Kultvorstellungen um Steine, Quellen, Bäume, Fruchtbarkeit, Abwehr und Zauber haben tatsächlich alle Modernismen und Bilderstürmereien überlebt. Je mehr Monarchen. Kirchenfürsten, klerikale Oberbefehlshaber und päpstliche Rationalisierer diese zutiefst ur-kultischen Bereiche ausrotten wollten, umso mehr hielt das fromme Volk daran fest.
Das reicht bis in die allerneueste Gegenwart. Es zeigt sich, dass die Amtskirche in einem vermeintlichen Säuberungsprozess die dem Volk liebgewordenen Prozessionen. just diese ohne Priester und Fahnen, die nichtkirchlicher Amtsherrlichkeit gemäßen Wallfahrten abschaffen oder zumindest diskriminieren wollte, und dass erst recht eine Flut von solchen Prozessionen und Wallfahrten einsetzte. Diese Provokationen reichen bis zur amtskirchlich nicht anerkannten Verehrung der weinenden Madonnen mit einem Zug von Abertausenden. Es hängt auch damit zusammen, dass super-religiöse Kulte entstehen können, dass die Menschen auf der Suche nach dem Kult antikirchliche, neuheidnische, esoterische Kulte und Pseudokulte pflegen.
Als im Ötztal in Tirol - in der Pfarre und Gemeinde Längenfeld, amtlich vom Landesbischof bewilligt, vom Gemeinderat beschlossen - eine über 240 Jahre lebendige Bittprozession am Annatag, dem 26. Juli, zur Abwehr von Muren und anderen Katastrophen abgeschafft wurde, haben sich etliche Frauen selbst organisiert und sind fortan genau an diesem Tag weiterhin wie bisher nach Gries zur wundertätigen Madonna Maria Hilf gepilgert. Jetzt ohne Pfarrer, Messgewänder, Kirchenkreuze und Ministranten. Dieser verlobte Bittgang am Annatag wurde erst im Jahre 1972 abgeschafft und hatte die für dieses Alpendorf kennzeichnende Ursache: Mit Rücksicht auf die Hochsaison könne an einem Werktag kein Dorffeiertag gehalten werden, könne den Gästen nicht zugemutet werden, wenn Lebensmittelgeschäfte und Souvenierhandlungen geschlossen halten. Also hatte über Betreiben des Wirtschaftsbundes sowohl der Gemeinderat als auch der Pfarrgemeinderat dem Ansinnen zugestimmt, und waren sowohl Pfarrer wie Bischof dem wirtschaftlichen Tourismusdenken zum Opfer gefallen.
Eben an diesem denkwürdigen Annatag sind auch die hundert Frauen zur Alp Madris gepilgert. Selbstverständlich ohne Pfarrer und Messgewänder. Aber sie haben auf der Alpe ein Tanzfest gefeiert, ein Abwehrfest gegen Polit- und Finanzlobby.
Von den unzähligen Verchristlichungen
Dem 1200 Jahre alten rätoromanischen Margriatha-Lied wurde - wie bereits dargestellt - eine verchristlichte. nicht sehr poetische, eine eher plumpe Strophe beigefügt:
„Unter der Glocke Sankt Jörgs und Sankt Galls
Ist die Maid vorübergezogen.
Da hat es geläutet so lauten Schalls.
Dass der Klöppel herausgeflogen.“
Die weitaus liebenswürdigste Umwandlung der Elemente Wasser, Feuer, Stein, Baum und Natur zu christlichem Gebrauch finden wir beim heiligen Franziskus und seinem Sonnengesang. Dieses franziskanische Denken hat im christlichen Volk die allergrößte Sympathie. Sie hat heute noch größere Sympathie bei „Grünen“, bei ökologisch und natursensibel denkenden Zeitgenossen. Bruder Baum und Schwester Wasser sind unsere Partner. Also denken wir uns hier eine Verantwortung statt einer kultisch-unbedingten Abhängigkeit. Wir leben mit dem Element Wasser, benützen es, gehen mit ihm sorgfältig um; wir nehmen das Schicksal selbst in die Hand.
„Laudato si, mi signore. per sor aqua
la quale èmolto utile et humile et pretiosa et casta.“
„Gelobt sei, mein Herr, durch unsere Schwester, das Wasser,
das sehr nütz ist und demütig und kostbar und keusch.“
Papst Leo hat den Termin des Weihnachtsfestes, das jetzt auf den 25. Dezember verlegt ist. unter anderem damit begründet, dass es nicht nur um die Geburt Christi gehe, sondern dass dieser Tag „wegen des Anfanges der neuen Sonne ehrwürdig sei“.
Seit Kaiser Julian war dies der heidnische Reichsfeiertag. an dem man den Geburtstag des unbesiegten Sonnengottes,. Natalis Solis Invicti, feierte.
In einem alten Wallfahrtslied von Nossa Dunna Della Glisch, Maria Licht zu Trun im Kanton Graubünden, das 1695 gedruckt worden ist, wurde die Umwandlung heidnischen Wasserkultes zu einer christlichen Marienwallfahrt beschrieben. Im Lied heißt es. man habe lange vor dem Kirchenbau Tag und Nacht ein helles Licht gesehen, und es habe
„hernach aus den zwölf Fenstern des Heiligtums durchs Tal hingeleuchtet“ (Caminada, S 96). In der zweiten Strophe heißt es:
„Cau en quei liug fievan fiug.
Frint schibas ent il tscheiver.
Quei has midau, santificau,
Per nos riugs cau receiver.
Regina dil Parvis, o Maria della Glisch.“
„An dieser Stätte wurden Feuer entzündet,
Da man Scheiben in der Fasnacht warf.
Das hast Du geändert, hast den Ort geheiligt.
Um hierorts unsere Bitten zu empfangen.
Königin des Himmels Mariä Licht.“
(Caminada. S 96)
Dieser Hinweis ist aus zweifachen Gründen aufschlussreich. Einmal ist es die Verchristlichung einer alten Kultstätte und eines Kultopfers, zum zweiten wird hier das heidnische Feuerwerfen erwähnt und umgedeutet.
Der in einigen Teilen der Alpen, vor allem im alten rätischen Kerngebiet Engadin, Vintschgau, oberes Inntal, Montafon, bis in die Gegenwart sehr lebendige Brauch des Scheibenschlagens, des Funkenwerfens am ersten Fastensonntag, ist kirchlich zumindest anerkannt.
Die beim Werfen der glühenden Holzscheiben verwendeten Sprüche sind selbstverständlich sehr alt, teilweise kultisch, vielfach „heidnisch“. Wie es im Vintschgau üblich ist, wird eine besondere Scheibe der Geistlichkeit, dem Pfarrer gewidmet. Das ist wahrlich sehr geschickt und wichtig.
War der Pfarrer beruhigt und geehrt, konnten die geliebten Mädchen geehrt werden, konnte der Spott losgehen. Da war also die Absegnung bereits erfolgt.
Quelle: Hans Haid, Mythos und Kult in den Alpen. S. 67 - 75.
Wolfgang (
SAGEN.at)