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Frau Ha.

Elfie

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Eine kleine Geschichte zum Thema: Sepulkralkultur

FRAU HA.

Je älter ich werde, desto mehr besteht das Leben aus Bildern, denkt Lisa.
Oder aus Filmsequenzen mit Szenen, in denen Menschen auftauchen, die es nicht mehr gibt.
Oder die heute ganz anders aussehen.
Immer deutlicher wird das in ihrem Heimatort, dessen einziger Knotenpunkt der Friedhof ist.

Frau Ha., die wohnt da.
Also nicht richtig, aber kürzlich sagte sie zu Lisa: “ Seit 41 Jahren komm ich jeden Tag her! Und was hat es gebracht?“
„Was hätte es sollen?“ fragt diese etwas hilflos zurück.
Es ist nicht leicht, mit der ewigen Verzweiflung im Gesicht der alten Frau umzugehen. Es ist keine echte, nur Mimik - bewusst eingesetzt um die Worte zu verstärken. Mit der gleichen Mine erzählt sie Anekdoten.

So erfuhr Lisa eines Tages, dass sie – Frau Ha. – ebenfalls ein altes Leintuch geopfert hatte damals, als die Pepi schwanger war. Mein Gott, so jung und eh nix gehabt und jetzt auch das noch! Und dann kam jemand auf die Idee, brauchbare Tücher zu sammeln, um aus ihnen Windeln zu machen.
Fast schuldbewusst hörte Lisa zum ersten Mal diese Geschichte. Sie schiss also einst Frau Ha.´s Leintuch voll – wie klein die Welt in diesem Dorf doch war.
Und heute?
„Schau mal, wenn sie nicht täglich gekommen wären, wären sie heute auch um keinen Tag jünger. Im Gegenteil – frische Luft ist doch gesund“ versucht Lisa den Spagat zwischen dem Verbot, Frau Ha. zu siezen und dem Respekt vor der Freundin der Mutter.
„Mein Gott, die Pepi“, sagt sie jedes Mal, wenn sie ihr ans Grab folgt.
Sie hatte Herrn Ha. nur um vier Jahre überlebt, beide starben bei Unfällen – als ob das jetzt noch wichtig wäre.
Frau Ha. hält auch den Flurfunk aufrecht.
Wenn Lisa bei ihrer Ankunft zu dem Schaukasten geht um nachzusehen, ob ein neues Sterbebildchen sich zur Galerie dazu gesellt hat und wenn dabei Fragen auftauchen, dann wird Frau Ha. konsultiert.
Oder besser gesagt: es wird Ausschau nach ihr gehalten.
Der Friedhof hat vier Abteilungen, durch Mauern getrennt und Frau Ha. - die Miazl , wie ihre Mutter sie immer nannte – viel zu tun. Sie konnte also gerade mit der Gießkanne unterwegs sein oder mit Menschen reden oder mit sich selbst.
Es gibt untrügliche Zeichen.
Wenn Lisa die kleine Runde von der Mutter zu den Großeltern, dann zu Erni und Christl geht und Frau Ha. noch nicht entdeckt hat, erweitert sie zu Fritz.
Denn auf dem Weg dorthin kann sie über die Mauer zum Grab von Herrn Ha. sehen. Liegt da eine Tasche, eine Weste oder sonst was, das der Rudl nicht mehr braucht, kann die Miazl nicht weit sein. Dann lohnt es sich zu schauen, zu bummeln, die nächste Runde etwas länger zu gestalten, aufmerksam zu horchen und der Richtung zu folgen.
Ein langgedehntes Eee…. , in dem unendliches Staunen liegt so als ob sie im August des Christkindes ansichtig geworden wäre – signalisiert Erkennen und nach den üblichen Floskeln kann man die Neuigkeiten ausgiebig besprechen.
Vieles, das für Lisa neu ist, hat Frau Ha. schon wieder abgehakt, es liegen doch immer Wochen dazwischen. Aber sie erinnert sich schnell, man sieht den Gedanken förmlich auftauchen, indem er blankes Entsetzen in ihr Gesicht malt, als wäre es eben geschehen.
Dieses Auf und Ab der Gefühle – scheinbar beliebig wiederholbar - haben vielleicht ihren Teil daran, dass dieses wettergegerbte Gesicht kaum Falten hat.
Es ist markant, vielleicht etwas hart mit einigen Kerben, aber ohne Runzel.
Nein, da ist nichts schlaff oder welk, da haben sich einundachtzig harte Jahre eingeschrieben in einer erstaunlichen Lebendigkeit.

Lisa weiß nicht mehr, ob sie diese Frau je anders kannte.
War sie jemals jung? Wies die hagere, eckige kleine Gestalt mit den großen Händen jemals weiche Formen auf?

Ein Bild, tief aus der Erinnerung.
Ein Sonntagsspaziergang zu Vaters Arbeitskollegen Rudl.
Eine Hausbaustelle, an der Mischmaschine die Miazl. In Schlosserhosen und zwei Kopf kleiner als ihr Mann. Daneben ein kleiner Bub – der Sohn.
Weg ist das Bild. Gut so.
Das Leben ist was Sonderbares, denkt Lisa, als sie ins Auto steigt.
Beim Wenden sieht sie Frau H. nach ihrem Fahrrad greifen.

September 2009

Noch viele Geschichten gelebter Ethnologie auf www.menschenschreibengeschichte.at
 
Liebe Elfie, ich bin mittlerweile JEDEN TAG auf der Seite dort und lese und lese und lese und lese und kann gar nicht mehr aufhören damit.
Die Geschichten sind einfach wunderbar.
Und selber habe ich auch schon mindestens 5 Geschichten eingeschickt, habe auf die erste Einsendung Antwort erhalten, danach nix mehr gehört und veröffentlicht wurde auch noch nix- das wird halt ne Weile dauern, schätz ich...
Aber ich finde das Projekt einfach genial und finde, daß das ein riesiger SCHATZ ist, der für die Nachwelt (wenn es denn eine gibt *haha*) aufgehoben wird.

Liebe Grüße, Sonja
 
Liebe Sonja, fein, dass das so ein guter Tipp war für dich. Ich glaube, einmal im Monat stellen sie das Neue rein. Also wird schon kommen. Liebe Grüße, Elfie
 
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