Ein etwas älterer Artikel, ich hab ihn vor etwa 5 Jahren geschrieben zur Situation mit "meinen" Flüchtlingen hier im Ort.
Flüchtlingsgeschichten
Tschetschenien- Krieg 1996: Ein kleiner Junge im Vordergrund des Bildes.
Schwarzer Mantel, verschwitzte Haare.
Hinter ihm die zerbombte Stadt Grosny.
Alles Schutt und Asche.
Alles grau in grau.
Brennende Körperteile.
Eben gab es einen Bombenangriff.
Der kleine Junge - vielleicht vier bis sechs Jahre alt- schreit wie am Spieß, schluchzt und kreischt mit einem grässlichen Quieken. Und dazwischen stößt er in Richtung des Kameramannes verzweifelt schluchzend einige Worte hervor: "Bitte, Onkel, bitte nimm mich mit! Bitte, lieber Onkel ! Appartement 22, bitte, ich zeige Dir den Weg! Bitte lieber, lieber Onkel, komm mit mir, bitte rette mich!"
Im Hintergrund versucht ein Mitbürger, den brennenden Kopf eines am Boden liegenden toten Mannes mit Stiefeltritten zu löschen.
Und dann dreht sich der kleine Junge um und zeigt auf diesen brennenden, toten Mann. Er kreischt wieder und schluchzt: "Das ist mein Opa!"
Und der Kameramann rührt sich nicht - er filmt nur immer weiter den Jungen. Er will, dass ganz Europa diese Bilder sieht und etwas dagegen tut. Wunschtraum.
Ich wache schweißgebadet und mit nassen Wangen auf. Und ich schlage heulend auf meinen Kopfpolster ein und bete, dass dieses Kind zu mir kommen kann.
Seit dieser Reportage im Fernsehen dröhnte das Geschrei des Jungen die ganze Nacht in meinem Kopf. Immer wieder dieses Bild, dieser kleine graue Mantel in dieser großen grauen Stadt.... Ich hätte ihn so gerne festgehalten. Umarmt und ihm gesagt, dass jetzt alles gut wird. Ich wollte ihm den kleinen kreischenden Kopf an meinen warmen Bauch drücken und ihn streicheln und ihm ins Ohr flüstern, dass ich jetzt für ihn da bin.
Etwa zwei Jahre später, ich war inzwischen von Oberösterreich nach Niederösterreich umgezogen, wurde in der Zeitung nach einer Kinderbetreuung für Flüchtlingskinder im Ort gesucht. Meine Gebete waren erhört worden, mein Wunsch ging in Erfüllung. Etwa 40 Flüchtlinge aus Georgien, Tschetschenien, der Mongolei, und einigen anderen Ländern, lebten in einem Gasthaus ganz in der Nähe. Für die erste Welle von Flüchtlingen wurde ein Deutschkurs organisiert, und ich übernahm einige Wochen lang die Kinderbetreuung, jeden Tag drei Stunden.
Ich betreute in einer kleinen Gaststube in der wir uns kaum bewegen konnten, weil überall Gläser herumstanden, etwa zwölf bis neunzehn Kinder täglich, deren Sprache ich nicht verstehen musste, um ihnen ein bisschen Freude machen zu können.
Kriegsgeschädigte, teilweise psychisch gestörte, verhaltensauffällige Kinder, die zusammenzuckten wenn sie ein Flugzeug hörten.
Kinder, die sehr schnell aggressiv reagierten, besonders wenn sie aus einem Kriegsgebiet kamen.
Einer der älteren Jungen hatte zugesehen, wie Leute niedergemetzelt wurden, sein kleinerer Bruder - um die vier Jahre alt- beschützte den Älteren. Kam es zu einer Rangelei, stand der Vierjährige da und trat mit aller Kraft mit seinen kleinen Beinen dem Gegner in den Bauch.
Sein Gesichtsausdruck dabei war so ernst und so voller Hass, dass ich jedes mal Gänsehaut bekam in solchen Situationen.
Es waren aber auch sehr viele Kinder dabei, die dermaßen eingeschüchtert waren, die sehr freundlich und still und in sich gekehrt waren- was zwar zum betreuen einfacher war, aber nicht minder traurig wie die Aggressivität der anderen.
Über die Kinder entwickelte sich auch das Verhältnis zu deren Müttern ganz gut, und es wurden jeden Tag nach der Kinderbetreuung Probleme an mich herangetragen, da es kaum andere Ansprechpartner gab.
Muslimische Frauen fragten mich, ob sie auch während ihrer Periode zum Zahnarzt gehen dürften, oder wo es weibliche Frauenärzte gäbe, da sie nicht zu Männern gehen wollten bzw. durften.
Es gab keine Verhütungsmittel für die Frauen und dadurch, dass sich in diesen Flüchtlingslagern sehr viele zwischenmenschliche Dinge abspielten, wurden einige Frauen ungewollt schwanger.
Ich wurde des Öfteren nach Abtreibungsmöglichkeiten gefragt, oder woher man Verhütungsmittel billig bekäme.
In einem fremden Land, mit ungewisser Zukunft, und einer Vergangenheit die nur Angst macht wenn man an sie denkt, bleiben oft nur noch Beziehungen, die wieder Kraft geben, in denen man Nähe und Geborgenheit und Schutz sucht, und daraus entstehen sehr oft Kinder.
Eine der mongolischen Frauen, sie hieß „Togi“ hatte einen Jungen zur Welt gebracht- es war ihr zweites Kind- und war nun wieder schwanger. Ungewollt. Sie kam weinend zu mir und bat um eine Adresse wo sie abtreiben könne. Das Baby das sie vor kurzem bekommen hatte, hatte die Nabelschnur mehrmals um den Hals gewickelt, sie musste mit dem Notarzt geholt werden, ich kümmerte mich einige Zeit um ihren ihren achtjährigen Sohn Tuguldur.
Diese Familie kam aus der Mongolei, es waren Buddhisten. Der Achtjährige Tuguldur stand einfach eines Morgens vor der Tür.
Dann kam der Tag des „Interviews“.
Unter den Flüchtlingen wurde so die Prozedur genannt, die im österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen durchgeführt wurde, und darüber entscheidet, ob jemand hier bleiben darf oder zurück in seine Heimat geschickt wird.
Als die mongolische Mutter ihr erstes „Interview in Traiskirchen“ hatte, fehlte der gesetzlich vorgeschriebene Rechtsbeistand, Togi traute sich vieles nicht zu sagen.
In Traiskirchen war alles hoffnungslos überfüllt, die Menschen mussten sich mehrere Stunden anstellen um ihr Essen zu erhalten, es lebten bis zu achtzehn Leute in einem kleinen Zimmer, verschiedenste Nationalitäten, Religionen und Kulturen prallten aufeinander.
Als sie wenige Wochen später den Bescheid des Asylamtes bekam, dass sie abgeschoben werden sollte, fuhr ein Freund von mir mit ihr nach St. Pölten zur Diakonie, während ich mich um ihren älteren Sohn kümmerte, um eine kostenlose Rechtsberatung in Anspruch nehmen zu können, sodass wir Berufung gegen das Urteil einlegen konnten.
Ein Mann aus Georgien fuhr mit um zu übersetzen, ein Freund begleitete sie und spielte während des Gespräches mit ihrem Baby.
Danach lud ich die Leute noch zu einem Essen bei mir zu Hause ein, da sie während dieses ganzen Tages nichts zu essen hatten, und bis zum Abend erzählten sie von ihrer Heimat Georgien oder Mongolei, die Frauen der Männer buken Kuchen für mich, und die Männer zeigten Fotos, schauten ins Internet, oder redeten über den Krieg, sangen georgische Lieder und trommelten dazu auf meiner Djembe, erklärten mir die Verhältnisse in ihren Ländern und waren froh, mit jemandem darüber reden zu können- während die Frauen mich wieder schüchtern nach Möglichkeiten fragten, wo man abtreiben könne, oder woher man billige Verhütungsmittel bekommen könne.
Togi und die beiden Männer aus Georgien hatten Glück, die anderen 99,9% der Flüchtlinge wussten kaum, dass sie so eine Rechtsberatung in Anspruch nehmen könnten, und selbst WENN sie es wüssten, hätten sie nicht die Möglichkeit gehabt nach St. Pölten zu kommen und darum zu bitten, geschweige denn, dann noch bei einer österreichischen Familie zum essen eingeladen zu werden und über ihre Sorgen und Probleme reden zu können.
In St. Pölten bekam man auch Gutscheine für Winterbekleidung, schlauerweise wurde das so eingefädelt, dass man die Gutscheine selbst abholen musste und sich von Morgens um 6.00 Uhr bis Abends um 23.00 Uhr dafür anstellen musste um sie zu bekommen. So wurden viele abgeschreckt, konnten entweder mit den vielen Kindern nicht mit dem Zug so weit fahren, konnten sich die Fahrt nicht leisten, oder konnten auch nicht so lange im Winter in der Kälte warten. Auf diese Weise sparte sich das Land die Gutscheine, und die Flüchtlinge blieben unter Kontrolle, sie konnten ohne Winterbekleidung das Haus ja nicht verlassen. Die zuständige Dame in St. Pölten hätte ich mehrmals angerufen, sie war kein einziges Mal erreichbar.
Ich habe dann private Kleidersammlungen organisiert. Allerdings war es da schon fast zu spät weil der Winter beinahe vorbei war.
Es wäre meiner Meinung nach keine große Sache gewesen, die Gutscheine für 40 Flüchtlinge in ein Kuvert zu stecken, und von St. Pölten mit der Post an die Flüchtlingshäuser zu schicken. Wenn von jedem Gutschein ein Euro abgezogen worden wäre für das Porto, dann hätte es dem Land nicht mehr gekostet.
Männer lebten oft schon seit zwei Jahren oder länger hier, wussten nicht, ob sie bleiben können, bekamen keine Arbeitsgenehmigung und waren dazu verdammt, in ihren Zimmern zu sitzen, zu rauchen und abzuwarten. Diese Hoffnungslosigkeit machte sie aggressiv, sie begannen Alkohol zu trinken, starten Raufereien und wurden dann erst recht abgeschoben, weil sie Probleme machten oder schwarz arbeiteten.
Für die zweite Welle von Flüchtlingen wurde kein Deutschkurs mehr gemacht, es gab dann auch keine Kinderbetreuung mehr, die Mütter hatten also nur die Chance, mit ihren Kindern die in die Schule gingen mit zu lernen.
Immer intensiver wurde der Kontakt zwischen den Flüchtlingsfrauen und mir… Frau Petirova, eine tschetschenische „Mama“ kochte Borschtsch für mich, auf einer kleinen elektrischen Herdplatte, mitten im Zimmer, in einem riesigen Topf, der für die ganze Familie reichte…
Sie zeigte mir Privatvideos aus Tschetschenien, in denen man Menschen ohne Köpfe in zerschossenen Autos sitzen sah, Frauen, die vor einem zerbombten Schulbus in der Wiese saßen und zum Himmel schrieen aus lauter Verzweiflung über ihre toten Kinder, alte Frauen, die nur noch jammerten und weinten, Flugzeuge, die Bomben abwarfen, Krankenhäuser, in denen verstümmelte Menschen nur in Leintücher gewickelt werden konnten, weil sonst nichts da war. Das Schweizer Fernsehen interessierte sich brennend für diese Videos, weil es Reportern nicht erlaubt war, in Tschetschenien zu filmen. Und wenn, dann nur in Begleitung von russischen Soldaten, die allerdings genau vorschrieben, was gefilmt werden durfte und was nicht.
Das Video habe ich später noch einem deutschen Theater-Reggiesseur geliehen, der mich angerufen hatte und es unbedingt haben wollte- und von dem ich es nie wieder zurück bekam und der plötzlich auch nicht mehr erreichbar war.
Tugi wollte sich eines Nachts, nachdem sie viel Whiskey getrunken hatte umbringen, hatte sich mehrmals ein Messer in den Bauch gerammt und dabei die Sehnen der Finger durchgeschnitten, Tuguldur stand nachmittags heulend vor meiner Tür und sagte: "Mama tot- Polizei"
Später habe ich erfahren, dass er neben der Mutter stand und die ganze Nacht geschrien hatte wie am Spieß er musste zusehen, wie seine Mutter in einer Blutlache zusammenbrach.
Sie wurde eine Nacht lang in die Nervenheilanstalt gebracht, eine Sozialarbeiterin kam, schaute sich alles an, konnte nichts machen, psychologische Betreuung auf mongolisch gibt es
ja nicht, ich erklärte ihr alles, was sie wissen wollte, letztendlich war es aber doch wieder so, dass ich halt schauen sollte ab und zu, wie es der Frau geht, und wenn "was ist" sollte ich mich melden.
Einige Monate lang durfte ich mit diesen Menschen Feste feiern, georgische Trinksprüche lernen, mit ihnen singen, essen und lachen.
Zu Silvester hatten die belgischen Busgäste des Gasthauses, in dem die Flüchtlinge untergebracht waren, draußen am Parkplatz kräftig Raketen geschossen, während sich die tschetschenischen Kinder unter den Tischen verkrochen und schrieen vor Angst, weil sie meinten, der Krieg hätte sie eingeholt. "Gutes neues Jahr"
Ich weiß nicht wie es Togi und ihren beiden Jungs heute geht.
Sie rief noch einmal am Tag ihrer Abreise in die Mongolei bei mir an und verabschiedete sich.
Seither habe ich keine Nachricht von ihr oder ihren Söhnen.