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Die Reisen der Großmutter aus Österreich

Elfie

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Das war die Aufschrift einer Mappe, in der meine Freundin Margarethe Lutz, Jg. 1918, ihre Reiseerlebnisse aufbewahrte.
Ich hab schon einige veröffentlicht, natürlich nach Anfrage - und bekam eines Tages die Generalvollmacht mit den Worten: Frag nicht immer, ich freu mich, wenn das jemand liest.
Eben fand ich eine spezielle Geschichte - ich geb sie gern im Original weiter:


Der Einbrecher

Als Einleitung möchte ich vorausschicken, dass ich zwei Töchter habe und beide im Ausland verheiratet sind. Die eine lebt in Kalifornien mit Mann und zwei Kindern, die andere, kinderlos, mit ihrem Mann in Jerusalem, Israel. Ich besuche sie immer wieder, mein Mann fuhr der Strapazen wegen nur einmal nach den Staaten und nach Israel überhaupt nicht. Ich setze diese Reisen noch immer regelmäßig fort und habe rückblickend bei einigen dieser Flüge und Aufenthalten die ungewöhnlichsten Situationen erlebt. Über eine davon möchte ich heute berichten.

Anlässlich der Geburt meines zweiten Enkelkindes war ich wieder einmal in Kalifornien. Das Fliegen macht mir keine -Schwierigkeiten, es gefällt mir und alles was so drum und dran ist, macht mir sogar Spaß. Mein Enkel kam gesund zur Welt, Mutter und Kind waren wohlauf. Sie mussten nur noch einen Tag im Krankenhaus verbleiben und wurden gegen Abend zurück erwartet. Ich saß im Wohnzimmer eines dieser weitläufigen, amerikanischen Häuser, alle ebenerdig angelegt, mit vielen, aber winzigen Zimmern. Jedes Haus umrundet von einem wohlgepflegten kleinen Garten, bepflanzt mit blühenden Kameliensträuchern, Mimosenbäumchen und vielen mir unbekannten Blumen. Jeder Garten, vom Nachbarn durch keinen Zaun getrennt, ist paradiesisch schön.
Ich war guter Stimmung und freute mich auf die Heimkehr des neuen Enkels. Im Nebenzimmer schlief der zweijährige Johannes, noch immer österreichisch Hansi gerufen. Eine gewisse Besorgnis, die mein Schwiegersohn Brendan am Morgen mir gegenüber geäußert hatte, ich solle nur ja alle ins Freie führenden Türen und auch die Fenster geschlossen halten, nahm ich überhaupt nicht ernst. Im Morgenradio wurde gemeldet, dass aus der im Bezirk gelegenen Irrenanstalt ein Kranker ausgebrochen war und, besondere Warnung: er war im Besitz einer Schusswaffe. Ich fragte zwar gewissenhaft, wie man sich zu verhalten habe, falls Verdächtiges bemerkbar wäre. „Du rufst den Sheriff an, Mutti", sagte mein Schwiegersohn. „Ganz einfach!" Wie ruft man einen Sheriff an? Brendan befestigte neben dem Wandtelefon einen Zettel und sagte: „ Du brauchst nur die Nummer wählen und dann liest du ganz einfach alles herunter was auf dem Zettel steht: Hilfe, der Verdächtige schleicht ums Haus. Alles andere geschieht dann von alleine.“

Ich saß also und fühlte mich behaglich, als ich im entfernten Schlafzimmer der Eltern ein Geräusch hörte. Es wird die Katze sein, dachte ich, sie schlüpft durch den Fensterspalt und kommt gleich wieder zurück, denn draußen regnet und stürmt es. Ich ging um das Tier zu holen und trocken zu reiben, öffnete die Schlafzimmertür und stand völlig überrascht und erschrocken einem sehr großen Mann gegenüber.
Das Wasser rann nur so von ihm herunter, von den triefend nassen Haaren, über eine vollgesogene rote Steppdecke, die er über die Schultern wie einen Mantel zusammengefasst hielt, bis zu den schmutzigen, nassen Füßen. Wir sahen uns an, er verstört, ich verstört und ich weiß bis heute nicht, welcher Schutzengel mich den lächerlichen Satz sagen ließ: „ ich bin die Großmutter aus Österreich!" Gleichzeitig reichte ich ihm die Hand hin zur Begrüßung. Nun gibt man sich in USA seltener die Hand als bei uns.
Angst vor mangelnder Sterilität, die Bakterien fliegen dort ständig in der Luft und die Küsse, die doch sehr häufig gewechselt werden, zielen immer rechts und links von der Wange in den Äther. Nun der Mann, sichtlich über Unangebrachtes erstaunt, drückte mir seine nasse, große Hand und sagte: „ Ich will eine Unterhose und Socken.“ Ich riss aus der Kommode sofort das Gewünschte heraus und er drückte sich damit an mir vorbei in die Küche.
Ich folgte sogleich und dabei fiel mir ein, dass neben meinem Willkommenshandschlag auch Essen beruhigend wirken müsste. Von einer Schusswaffe hatte ich nichts bemerkt. In der Küche schmiss er die Steppdecke über einen Sessel und zog ganz selbstverständlich die trockene Unterhose über die andere drüber. Als er bei den Socken war, fragte ich: „ Ich habe Fleisch und Gemüse wollen sie essen?" Er schrie richtig wütend: „ Nein, kein Fleisch, kein Gemüse!" „Vielleicht Kaffee“ bot ich weiter an, "ja, Kaffee.“ Ich stellte die Wasserkanne auf und betete, dass er nicht des Zettels neben dem Telefon gewahr werde. Aber er setzte sich und wartete. Dann ging die Tür zum Kinderzimmer auf und der kleine Hansi kam heraus getrippelt. Er war ausgeschlafen, ging ganz selbstverständlich auf den Mann zu, stellte sich zwischen dessen Knie und staunte ihn an. Was mache ich, fragte ich mich, wenn er dem Kind was antun will? Aber lieben Irre nicht Kinder und Tiere? Was machen die Bedrohten immer in den Krimis? Ein Schlafpulver in den Kaffee? Lächerlich der Mensch lässt mich doch nicht aus dem Zimmer gehen und wo überhaupt finde ich Schlafpulver?

Der kleine Hansi spielte sich mit den nassen Fingern des Mannes und dieser hatte nichts dagegen. Mein Gott, es kann Stunden dauern bis jemand kommt und der Mensch denkt nicht daran fortzugehen. Soll ich so tun als ob er ein normaler Besuch wäre und ihm allerhand erzählen? Ich stellte ihm den Kaffee hin, er schrie: „Milch! Zucker!" Ich gab reichlich Milch in ein hohes Kaffeehäferl und schaufelte immer wieder Zucker nach. Dann klopfte es an der Eingangstür!
Mit einem Satz war der Mann in der Höhe, riss die Decke vom Sessel und rannte ins nächste Zimmer. Ich rannte ebenfalls mit dem kleinen Hansi an der Hand zur Eingangstür und öffnete. Da standen zwei wirkliche Sheriffs, wie ich sie aus dem Kino so gut kannte, den Stern auf der Brust, mit Hut und der Waffe in der Hand. Sie drückten sich an mir vorbei, an der Wand entlang ins Zimmer und deuteten mir zu schweigen, denn ich zeigte sofort auf die Tür hinter welcher der Mann verschwunden war. Sie schüttelten die Köpfe und schlichen in Richtung Elternschlafzimmer, immer einander deckend und mit der Waffe nach allen Richtungen zeigend. Ich stand mit Hansi da und wagte nicht aus dem Haus zu fliehen, denn aus dem Nebenraum, in den der Mann geflüchtet war, führte eine Glastür ins Freie und ich wäre ihm wieder begegnet. Ich stand wie gelähmt bis die beiden Sheriffs sehr bald zurückkamen und jetzt endlich in das bewusste, letzte Zimmer gingen. Sie kamen von dort sehr rasch wieder, entspannt und die Waffe locker in der Hand. „ M'am, er ist nicht mehr im Haus, er ist durch das Fenster wieder hinaus geflüchtet, durch das er eingestiegen ist.“ Es ist erstaunlich wie weit der Wortschatz einer fremden Sprache in den Augenblicken der Angst zusammenschmilzt und man nur mehr die wesentlichen Worte findet. Ich bin seit diesem Erlebnis viel toleranter gegenüber ausländischem Wortgestammel geworden, wie es uns in Wien jetzt so oft begegnet.

„ Die Tür dort, ist sie offen?“, brachte ich heraus. „ Die Tür ist versperrt" versicherte der Sherriff, „ es kann niemand herein. Er ist durchs Fenster und die Streife draußen wird ihn finden!"
"Wenn nicht offen, ist er noch im Zimmer! Bitte schauen sie zweimal.“ Der eine Sheriff sah den andern an, blinzelte mit den Augen und sagte: „ Geh nochmals hinein, die Lady hat einen Schock, ich nehme einstweilen alles auf.“ Er zog Papiere aus seiner Brusttasche, einen Kuli und setzte sich zu Tisch. Der Andere kam rasch wieder: „Alles in Ordnung, die Glastür ist von innen versperrt, Fenster gibt es keines.“
„ Gehen sie nicht fort, er ist dort“ rief ich aufgeregt. In diesem Moment fiel mir die gute alte Agathe Christi ein, bei der sich die Verbrecher auf der Flucht sehr oft in den weiträumigen Schloten der Kamine versteckten. Aber weder das Wort für Schlot, noch das für Kamin fiel mir ein, nur der Feuerplatz. „Er ist im Feuerplatz“ behauptete ich, „ das gibt es!" „Geh nochmals“, sagte der Sheriff geduldig, „die Lady hat einen Schock.“
Der Andere ging ein wenig unwillig, ich tat ihm sichtlich leid und dann ertönte ein geradezu tierischer Schrei. Mein Schreibsheriff ließ den Kuli fallen und stürzte mit der Waffe ins Nebenzimmer. Sie zogen den armen Irren aus dem Kaminschlot, er hatte sich mitsamt der Decke dort hineingezwängt. Ich drückte das Kind an mich, dass es nicht sähe wie sie ihn an mir vorbei schleppten. Aber Hansi hatte Gott sei Dank auch die Schreierei nicht so nervenerschütternd empfunden wie ich. Durch die offene Tür sah ich, wie sie ihn in den vergitternden Rücksitzraum pressten, er schrie noch immer.
Bei uns wären jetzt von allen Seiten die Leute herbeigelaufen, nicht so in Amerika. Der Einzige der kam, war der Nachbar. „ Ich habe ihn beim Fenster einsteigen gesehen und den Sheriff verständigt!“, sagte er zu mir, „Setzen Sie sich M´am, trinken sie den Kaffee aus oder besser noch einen Whisky , ich nehme auch einen!"
Er bediente sich und ich trank den süßesten Kaffee meines Lebens. Während ein Sheriff im Auto wartete, kam der andere wieder zurück um seine Meldung zu schreiben. Jetzt kam die Großmutter aus Österreich wieder zum Zug. „Ah“ sagte er, „sie sind aus Australien!"

Ich war empört, war es möglich dass ein USA-Sheriff Austria mit Australien verwechseln konnte? “Austria“ sagte ich, „Europa! In der Mitte von Europa, verstehen sie? Wien!“ „Ah" begriff er endlich, „ Wien, sie sind aus Wien! Ich verstehe, Wien....weiße Pferde...ja, ja, Austria!"Er schrieb und schrieb, dann sagte er: „Okay M´am, sie sind okay!" Dann ging er und hatte kein Wort über den Feuerplatz verloren. Der Nachbar blieb noch eine Weile und nahm noch einen Whisky und nun geschah mir etwas Merkwürdiges: meine Knie, auf denen der kleine Hansi saß, begannen plötzlich ganz von alleine auf und ab zu hüpfen, ich konnte sie trotz aller Willensanstrengung nicht zum Ruhighalten zwingen. „Okay" sagte der Nachbar verständnisvoll, „das sind die Nerven, nur ruhig, ruhig, ich bin da und nehmen sie noch einen Whisky!" Der kleine Hansi fand die Hopserei sehr lustig, er lachte vergnügt. Ja, Hoppa-hoppa-Reiter dürfte allen Kindern der Welt das gleiche Vergnügen bereiten.
Ich blieb mit dem Kind auf dem Schoß sitzen, bis endlich die Familie kam. Erzählen brauchte ich nichts, der Nachbar hatte sie an der Tür abgefangen und alles berichtet. Es gab eine berührende Begrüßung, meine Tochter umarmte mich schweigend, heftig und dankbar. Schwiegersohn Brendan klopfte mir auf die Schulter und sagte „ Du bist okay Mutti, das hast du gut gemacht!“ Das war aber auch alles, dann ging es nur mehr um den neugeborenen, kleinen Christoph und die große Freude! Ich war schon ein wenig betroffen, dass so gar niemand eine nähere und aufregende Schilderung von mir zu hören erwartete. Es war mit dem okay in USA anscheinend die Summe aller Begebenheiten umrissen und erledigt. Man spricht nicht mehr darüber.

Später sagte Silvi dann noch so beiläufig und ein wenig vorwurfsvoll zu mir: „ Mutti, warum hast du den Irren von den ganz neuen Unterhosen und die neuen Socken gegeben?" Als ich mich bei Brendan über die Unbildung, Austria mit Australien zu verwechseln, beschwerte, sagte er: „Ein Sheriff von hier? Wie sollte er das alles wissen und auseinanderhalten? Weißt du übrigens alle 52 Staaten von uns?“
Ich habe später in Wien alles Versäumte nachgeholt und hinausgeredet: Der Irre, die Nässe, die rote Decke, die Angst um Hansi und den Kaminschlot vom Feuerplatz. Auch die Knieschlotterei kam zur Sprache und ich fand vollstes Verständnis, alle lebten mit, alle schauderten mit. Dann habe ich begriffen, warum so viele US-Bürger die Unterstützung der Psychiater brauchen, weil sie sonst mit ihrem anerzogenen keep smiling und dem Erlebnisberichtungsstop allein nicht fertig werden können. Wir haben es gut in Austria , wir haben Freunde die zuhören , miterleben und mitfühlend helfen, Angst und Entsetzen abzutragen, statt zu verdrängen. Ja, und die nicht zuletzt ein kleines Wort des Lobes und der Anerkennung finden.
'Wie es wohl die Menschen in Australien machen?
Wien, 1983
 
Das war ganz sicher wirklich so! Ich hab Silvi mal gefragt, dachte: irgendwas wird schon gewesen sein, aber so? Sie hat es bestätigt.
Was nicht drin steht: der psychisch Kranke kannte das Haus von früher.
Grete war zuletzt mit 93 in Amerika
Sie geriet immer in die unmöglichsten Situationen, bis zuletzt, wo das Loch für die Urne im falschen Grab war. Sie hat sicher bedauert, dass sie nicht mehr drüber schreiben konnte :).
 
haha wie genial. super geschrieben, toll erzählt, danke fürs teilhaben lassen! MEHR DAVON!!!

liebe grüße, sonja
 
Danke - ich hab zwar einige Mappen voll mit Erlebnisgeschichten geerbt (und zur Verfügung, das hat sie betont), aber sie sind mit alter Maschine geschrieben und teils revidiert..., das Einscannen geht nicht, da beißt sich der FineReader die Zähne aus :(. Ich versuchs mal mit fotografieren, weiß nicht. Abschreiben müsste man, aber bei meinem System :smi_augen, da kann ich das nur weitervererben :D.
Eins hab ich gefunden über vergangene Berufe, muss ich schauen.
 
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