• Willkommen im SAGEN.at-Forum und SAGEN.at-Fotogalerie.
    Forum zu Themen der Volkskunde, Kulturgeschichte, Regionalgeschichte, Technikgeschichte und vielem mehr - Fotogalerie für Dokumentar-Fotografie bis Fotogeschichte.
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst Du eigene Beiträge verfassen und eigene Fotos veröffentlichen.

Die letzten Schultage des Jahres 1945

Babel

Active member
Unser Schulweg von Potsdam-Babelsberg nach Glienicke war recht lang; niemand würde ihn heutigen Sechsjährigen zumuten. Wir gingen ihn zu dritt, drei Erstklässlerinnen aus derselben Straße: erst durch unsere Doppelhaussiedlung, dann am Babelsberger Park entlang, dann überquerten wir den Teltowkanal auf einer Brücke, anschließend ging es eine wenig bebaute, sandige Straße hinauf, noch einmal um die Ecke, irgendwann kam dann die Schule. Neben der Schule lag der Kindergarten, den ich zuvor schon besucht hatte. Im Kindergarten hatten wir jeden Morgen unter der Fahne singen müssen: "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen ..." Dieses Ritual gab es in der Schule nicht.

Das Schuljahr hatte im September 1944 begonnen; jetzt, im Frühjahr, hatten wir alle Kleinbuchstaben und die ersten Großbuchstaben gelernt. Aber eines Tages wurden uns die Lesebücher weggenommen. Wir bekamen einen Tag schulfrei, es können auch mehrere gewesen sein: Es waren ja unruhige Zeiten, denn in Berlin wurde "gekämpft" (worunter wir uns freilich wenig vorstellen konnten); wenn es abends dunkel wurde, sahen wir im Osten den Himmel rot von den Bränden. Und sicher würden bald die Russen kommen. Unter den Russen konnten wir uns auch nicht viel vorstellen, wir wußten nur, daß ihre Ankunft Furchtbares bedeutete, schlimmer jedenfalls als der allnächtliche Bombenalarm.

Wir kamen wieder in die Schule und erhielten unsere Lesebücher zurück. Aber wie sah es darin aus: Überall waren kleine Stellen mit schwarzen Flecken überstempelt, größere mit weißem Papier überklebt. Auf einem Bild zum Beispiel war ein Pimpf zu sehen mit einer Hakenkreuzbinde am Arm – die Binde war noch da, aber das runde weiße Feld mit dem Hakenkreuz war nun schwarz. All diese Entstellungen irritierten; wir waren an unsere Bilder gewöhnt. Das Schlimmste für mich aber war, daß man zwei Seiten zusammengeklebt hatte, und damit war das Schönste im ganzen Buch verloren: Ein Lied, dessen Noten lauter Schwalben waren, die auf Notenlinien aus Telegrafendrähten saßen. Ich habe sehr um diese Seite geweint.

An nächsten Tag fanden wir uns in der Schule ein, aber die Lehrerin war nicht da. Was nun? Ein älterer Schüler kam, stellte uns auf, wie wir es gewöhnt waren, immer zwei und zwei, die sich an den Händen fassen mußten, und nachdem wir eine ordentliche Schlange gebildet hatten, führte er uns zurück nach Hause, wie er sagte – allerdings nicht auf dem üblichen Weg, sondern auf Waldwegen, die wir nicht kannten. Zweimal kamen Tiefflieger; wir mußten uns eilig loslassen und im Wald verteilen. Als die Flugzeuge sich entfernt hatten, wurden wir wieder aufgestellt und weitergeführt. Wir verstanden es nicht, bekamen es aber erklärt: Wenn die Flieger uns auf der Straße und ordentlich hintereinander marschieren sähen, würden sie uns für Soldaten halten und auf uns schießen. Nun, der Junge, der uns führte, war schon groß, er mußte es wissen.

Wir haben unser Schulhaus nicht wiedergesehen. Die Brücke war gesprengt worden (das erfuhren wir erst später), die Schule nicht mehr erreichbar. Der Unterricht fand nun in einem Nebengebäude der Sternwarte statt. Wir freuten uns, denn unser Schulweg war nun viel kürzer, und wir konnten ein bißchen länger schlafen. Auch unsere Lehrerin war verschwunden, und ein alter Mann, der mit einem steifen Bein daherhumpelte, unterrichtete uns.

Lange dauerte auch das nicht. Eines Morgens gingen wir wie üblich zu dritt die Straße am Park entlang. Da saß ein Mann, der seltsam aussah – wie ein Soldat, aber seine Uniform war nicht so, wie wir sie kannten. Er saß einfach so am Straßenrand im Gras und sah eigentlich nicht sehr bedrohlich aus. Nur daß da eben eigentlich niemand sitzen sollte ... Wir drei Mädchen blieben stehen. Weitergehen, umkehren? Nun, Schule war Pflicht, also machten wir schließlich doch wieder zögernde Schritte. Der Mann stand auf, winkte uns, machte uns Zeichen: Nicht weiter! Zurück! Wir waren erleichtert: Unter diesen Umständen konnte uns niemand schimpfen, wenn wir wieder nach Hause kamen. Der Mann war sicher ein Russe!

Ja, es war einer. Zu Hause beschrieben wir sein Aussehen. Allgemeine Panik brach aus: Sie sind schon da!!! In den Luftschutzkellern hatte man bereits Löcher in die Wände zum Nachbarhaus gebrochen, "damit die Frauen türmen können". Wer das Hitlerbild und "Mein Kampf" noch nicht verbrannt oder unterm Komposthaufen vergraben hatte, tat es in aller Eile. Unter uns Kindern kursierten Horrorgeschichten: Da und da waren Russen gewesen, und hinterher habe man ein Kind tot gefunden, ganz zerschnitten ... Nachts hatten wir Alpträume, und am Tag hörten wir den Nachbarinnenklatsch: „Ham Se 't schon jehört? Die Wernicke hat sich uffjebammelt.”

Unser erstes Schuljahr war zu Ende. Und das zweite fing erst fast ein Jahr später wieder an.


Wer unseren Schulweg googeln will, kann das nur noch näherungsweise. Start: Potsdam, Filchnerstraße; Ziel: Potsdam, Am Waldrand. Die Brücke über den Teltowkanal, die man in den letzten Kriegstagen gesprengt hat, ist nicht wieder aufgebaut worden, aber man erkennt noch, wo sie war: Die "Allee nach Glienicke" läuft hier noch auf den Kanal zu – freilich ins Leere.
 
Zuletzt bearbeitet:
Um solche Erinnerungen ist niemand zu beneiden und schon gar nicht um die, welche viele deutsche Frauen in dieser Zeit machen mussten.
 
Danke für diese Erinnerungen, die Ereignisse und was noch folgte waren für ein Stadtkind sicher noch wesentlich schlimmer als auf dem Land.
 
@Babel: Vielen Dank für diesen interessanten Bericht. In einem anderen Beitrag (da ging es um die Telefonbücher) hast Du erwähnt, dass Du 1999 nach Berlin umgezogen bist. Ich vermute daraus, dass Du Berlin also schon mal für ein paar Jahre verlassen hast. Warst Du beim Mauerbau noch in Berlin und wenn ja, wie hast Du diese Tage erlebt, als eben dieser in der Luft schwebte. Würde mich freuen, wenn ich hierzu ein Feedback bekäme, da das Ereignisse sind, bei denen ich jeden Bericht eines Zeitzeugen schätze!
 
@Babel: Vielen Dank für diesen interessanten Bericht. In einem anderen Beitrag (da ging es um die Telefonbücher) hast Du erwähnt, dass Du 1999 nach Berlin umgezogen bist. Ich vermute daraus, dass Du Berlin also schon mal für ein paar Jahre verlassen hast. Warst Du beim Mauerbau noch in Berlin und wenn ja, wie hast Du diese Tage erlebt, als eben dieser in der Luft schwebte. Würde mich freuen, wenn ich hierzu ein Feedback bekäme, da das Ereignisse sind, bei denen ich jeden Bericht eines Zeitzeugen schätze!
Wir haben Babelsberg, das ja unmittelbar an (West-)Berlin grenzt, aber zur sowjetisch besetzten Zone gehörte, 1951 verlassen, also lange vor dem Mauerbau. Das bedeutet nicht (hier stellt man sich das meist so vor), daß man vor dem Mauerbau einfach so von Ost nach West reisen konnte. Über unseren Umzug nach Süddeutschland und eine ziemlich abenteuerliche Reise in den Westen im Jahre 1949 kann ich gelegentlich auch mal was schreiben.

Nach Nürnberg, Ulm und München habe ich 30 Jahre in Aachen gelebt; ein vages Heimatgefühl, das mich immer wieder bei Dienstreisen in Berlin überkam, veranlaßte mich, nach der Pensionierung nochmal dorthin zu ziehen. Es war ein Fehler, und nun bin ich zum Glück wieder in Süddeutschland. :)

Nachtrag: Einen Bericht über unsere Ost-West-Reise (1949) habe ich hier eingestellt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nach Nürnberg, Ulm und München habe ich 30 Jahre in Aachen gelebt; ein vages Heimatgefühl, das mich immer wieder bei Dienstreisen in Berlin überkam, veranlaßte mich, nach der Pensionierung nochmal dorthin zu ziehen. Es war ein Fehler, und nun bin ich zum Glück wieder in Süddeutschland. :)

@Babel: Warum war es ein Fehler, nach der Pensionierung wieder nach Berlin zu ziehen? Kamst Du mit der Stadt nicht mehr klar? Bist Du wieder in den Ostteil der Stadt gezogen? Wie hast Du die verschiedenen Stadtteile in Berlin erlebt. Ich erinnere mich an meinen ersten Berlin-Aufenthalt 10 Jahre nach dem Mauerfall. Wenn ich vom Westen (Zehlendorf) in den Osten (Friedrichshain) gefahren bin, kam ich mir vor wie in einer anderen Welt.
Am interessantesten war für mich die Bernauer Straße, da gab es ein Haus, da konnten die im Westen den anderen im Osten über die Mauer zuwinken.
Das für mich imposanteste Berlin-Bild zur Zeit des Kalten Krieges wurde dort geschossen. Es zeigt Conrad Schumann. Wer kann mit dem Namen spontan etwas anfangen? Die meisten kennen das Bild, aber nicht den Namen des Herrn. Hier ist er: https://www.latoilescoute.net/IMG/jpg/203717.58772262_o.jpg
 
@Babel: Warum war es ein Fehler, nach der Pensionierung wieder nach Berlin zu ziehen? Kamst Du mit der Stadt nicht mehr klar? Bist Du wieder in den Ostteil der Stadt gezogen? Wie hast Du die verschiedenen Stadtteile in Berlin erlebt.
Ich habe vorher vier Wochen lang im Westteil der Stadt gewohnt, um mir in Ruhe eine Wohnung zu suchen. Da war Berlin so, wie ich es von früher kannte: Laut, munter, frech, hilfsbereit nicht aus Nächstenliebe, sondern weil es Spaß macht und man sich toll dabei vorkommt. Ich dachte, ganz Berlin ist so. Dann bin ich ins ehemalige Ostberlin gezogen. Dort war in den vergangenen 50 Jahren eine ganz andere, seltsame Mentalität entstanden: Mißtrauisch, neidisch, initiativlos, unfreundlich, am Alten hängend – ich empfand die Leute als ständig schlecht gelaunt (nicht alle natürlich, aber "im Durchschnitt") und sehnte mich nach ein paar Jahren einfach wieder nach Fröhlichkeit. Also bin ich wieder ins Schwäbische gezogen, wo ich früher schon mal gewohnt hatte.

Um den Mentalitätsunterschied zu beschreiben: In den paar Westberlinwochen fragte ich, als ich in einem Schreibwarenladen irgendwas bezahlte, den Kassierer nach einer Straße. Er kannte sie nicht, rief erst nach seiner Frau: "Weeßt du, wo det is?" und brüllte dann durch den ganzen Laden, um alle Kunden in die Suche mit einzubeziehen: "Wo is die XY-Straße, weeß det eener?" – Ein Kassierer in Ostberlin hätte mich mißtrauisch angeschaut (Was will die da?) und abweisend gesagt: "Weeß ick nich."

Ich wohnte von 1999 bis 2007 in Berlin. Vermutlich sind die Unterschiede inzwischen etwas geringer geworden. Andererseits: Man zog nicht von Ost- nach Westberlin oder umgekehrt. Ich wurde immer mit großer Verwunderung gefragt, wieso ich – aus Westdeutschland kommend – denn nach Ostberlin gezogen sei. Und ich habe immer wieder über andere Leute den Satz gehört: "Das ist/war ein Westler, der paßt(e) nicht zu uns.”
 
Zurück
Oben