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Hier im SAGEN.at-Forum möchten wir Technikgeschichte und hier im speziellen Eisenbahngeschichte auch aus dem Fokus der Volkskunde bringen.

Der folgende Beitrag stammt aus dem Jahr 1906 und bringt ein sehr markantes Beispiel, wie technische Errungenschaften sehr rasch in der Volkskultur abgebildet werden.

Das Phänomen ist natürlich bis heute unverändert gleich geblieben, so finden sich neue Technologien heute ebenso in moderner Volksmusik oder "Computer, Handy, Video und allerlei Hürden mit der Technik" in modernen Erzähltexten.

Das Volkslied vom Eisenbahnunglück.
Mitgeteilt von Gustav Jungbauer, 1906.

Welch schnellen Flug ein Volkslied in kurzer Zeit über weite Teile Deutschlands zu nehmen imstande ist, möge im folgenden ein bezeichnendes Beispiel dartun. M. Adler hat 1901 in der „Zeitschrift des Vereines für Volkskunde" XI., S. 450 f., unter „Zwei Volkslieder aus dem Geiseltal bei Merseburg“ ein Lied: „Hört, Jungfrau'n, welch ein' Schreckenskunde“ veröffentlicht und durch die beigegebenen Anmerkungen Aufschluss über die Entstehung dieser Volksdichtung gegeben. Um 1870 herum hatte sich Marie S ... aus Bergsulza, ein von einem bereits verheirateten Manne verführtes Mädchen, zwischen Sulza und Kosen einem heranfahrenden Zuge unter die Räder geworfen und so auf diese vor sechsunddreißig Jahren wohl noch neue, jetzt aber schon ganz gewöhnliche Art den Tod geholt. Diesen traurigen Vorfall behandelte eine Frau Schlegel, Bäuerin aus Auerstedt, in einem Liede, welches nach der Weise von „Seht Ihr drei Rosse vor dem Wagen“ gesungen wird.
B. Kahle stellte in der Zeitschrift „Alemannia" VI. (1905), Heft 1, zwei den 1902 von E. Marriage herausgegebenen „Volksliedern aus der badischen Pfalz“ entnommene Varianten dieses Liedes aus Handschuhsheim (Vorstadt von Heidelberg) und aus Kirchardt bei Mosbach der Urform gegenüber und beleuchtete die nicht geringen Veränderungen, welche das Lied im Verlaufe der Wanderung von Mund zu Mund und von Ohr zu Ohr erfahren hat.

Dieses Stück neuerer Volksdichtung ist nun auf seinem Wanderfluge auch in die abgelegenen Dörfer des Böhmerwaldes gekommen, wo es, und zwar im Gerichtsbezirk Oberplan, allgemein bekannt ist und von vielen Leuten bereits als ein „altes“ Lied bezeichnet wird. Nähere Nachforschungen haben ergehen, dass vor etwa fünfzehn Jahren ein gewisser Wilhelm Schneider aus Uhligstal bei Salnau dieses Lied in Prag während seines Militärjahres gelernt und nach seiner Heimkunft Freunden und Bekannten überliefert hat, von welchen es wieder weiterverbreitet wurde, so dass es heute eines der beliebtesten und bekanntesten Lieder zwischen Wallern und Höritz ist. Doch wird es nicht mehr nach der Melodie von „Seht Ihr drei Rosse vor dem Wagen“, sondern nach einer ähnlichen, etwas bänkelsängerisch klingenden Weise gesungen, welche mir Herr Hans Brazda aus Oberplan in zuvorkommendster Weise aufgezeichnet hat. Das Lied selbst wurde nach dem Gesange der Dienstmagd Marie Köchl aus Deutschhaidl niedergeschrieben. Es lautet:

(1. Strophe mit Noten als Anhang)

2. Das Mädchen war ja hingerichtet
Durch eines Jünglings Heuchlerei;
Ihr Herz, das war ja ganz zerrissen,
Sie fühlte, dass sie Mutter sei.

3. Von ihren Eltern ganz verstoßen.
Ging sie des Sonntags einmal aus;
Sie hat sich's fest ins Herz geschlossen,
Nicht mehr zu kehr'n ins Elternhaus.

4. Sie ging von Ecken bis nach Bremen,
Von dort an ging sie auf der Bahn,
Wo sie ihr Haupt auf Schienen legte,
Bis dass der Zug von Hamburg kam.

5. Die Schaffner hatten sie gesehen,
Sie bremsten mit gewaltiger Hand;
Allein der Zug, der bleibt nicht stehen,
Ihr Haupt rollt blutig in den Sand.

6. Als ihre Eltern dies erfahren
Von ihrer Tochter Schmerzenstod,
Da rangen beide sich die Hände
Und schrien laut: Verzeih' es Gott!

7. Sie haben ihr die Tür geöffnet
Und haben sie verzagt gemacht.
Weil sie des Jünglings Wunsch erfüllet,
Hat ihr das bitt're Grab gebracht.

In einem Hefte, in welches die Bäuerin Anna Wagner aus Böhmischhaidl bei Oberplan im Jahre 1904 alle von ihr gesungenen Lieder eingeschrieben hatte, fand ich dasselbe Lied mit folgenden kleineren Abweichungen: Gesätz I, Zeile 3, jetzt (es); III, 3, ihr's (sich's); IV, 1, Etern (Ecken); IV, 2, von Stunde an ging's auf der Bahn ; V, 4, fiel (rollt); VI, 1, Und wie die Eltern ...; VI, 2, ... Tochter schnellsten Tod; VI, 3, sie rangen ; VI, 4, es (uns); VII, 1, Wir (Sie); VII, 4, der (hat).

Unser Lied (B) hat die meiste Ähnlichkeit mit der Variante aus Kirchardt (K), doch finden sich auch Einzelheiten, die es nur mit der Urform (U) oder der Handschuhsheimer Fassung (H) gemeinsam hat, zum Beispiel B III, 1. Von ihren Eltern ...; H II, 1. Vom Elternhaus ...; dagegen U IV, 1 und K III, 1. Vom Mutterherzen ...

Ähnlich B IV hat H III.

Sie ging von Hamburg bis nach Bremen,
Sie fasste sich den harten Plan,
Sie wollt' ihr Haupt auf d' Schienen legen,
Grad' wo der Zug von Hamburg kam.

K IV.
Sie ging gerad' nach der Stadt Gesen,
Wo grad' der Zug von Hamburg kam,
Auf d' Schienen tut sie sich hinlegen,
Dass ihre Schand ein Ende nahm.

Dagegen U V.
Von Sulza ging sie bis nach Kösen
Und bei Schulpforta auf die Bahn,
Sie tat ihr Haupt auf Schienen legen,
Weil eben der Zug von Naumburg kam.

Schließlich B V, 2 mit U VI, 2 (sie bremsten mit gewaltiger Hand), während H IV, 2 (sie bremsten ein es mit Gewalt) und K V, 2 gar statt „gewaltiger Hand" „mit Gewalt heran" schreibt.

Bemerkenswert ist noch, dass die Schlussstrophen der einzelnen Varianten ganz verschiedene sind, die letzte (8.) von U ist ganz verlorengegangen, die vorletzte (7.) in veränderter Gestalt nur mehr in K, während in H eine im Zusammenhang ganz sinnlose Wanderstrophe angeschlossen wurde, und in unserer Fassung zwei später hinzugedichtete Gesätze, die aber, weil sie den Schmerz und die Reue der Eltern schildern, einen ganz guten Abschluss bilden.

Quelle: Gustav Jungbauer, Das Volkslied vom Eisenbahnunglück, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XII. Jahrgang 1906, S. 215 - 217.


Wolfgang (SAGEN.at)
 

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