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Besatzungszeit in Wien: Der Junge und das Fahrrad

SAGEN.at

Administrator
Teammitglied
Es gibt in der Region um Wien eine Erzählung aus der Besatzungszeit (1945 - 1955), die auch mir aus frühester Kindheit - von Verwandten erzählt -bekannt ist:

Es ist dies die schreckliche Geschichte von dem Jungen mit dem Fahrrad und dem russischen Besatzungssoldaten.

Wir bekommen relativ häufig Anfragen zu dieser Geschichte, wie diese einzuordnen sei. Offenkundig handelt es sich um eine sehr verbreitete Erzählung im Raum Wien.

Kennt jemand historische Fakten zu dieser Erzählung?

Wer kennt Varianten zu dieser Erzählung?

Wolfgang (SAGEN.at)
 
Lieber Administrator :)

leider gehöre ich zu der erschreckend kleinen Leserschaft die die Geschichte
von dem Jungen mit dem Fahrrad und dem russischen Besatzungssoldaten
nicht kennt. Wäre es möglich diese in wenigen Worten wiederzugeben? Wer weiß, vielleicht ist man in dieser Geschichte bis zum Kalenderberg geradelt? ;)

lg Berit
 
Es handelt sich hierbei um eine schreckliche Geschichte, deren Varianten und vor allem, deren historischer Hintergrund interessant wäre.

Hier eine Variante aus einer Zusendung:

"In der russ. Besetzungszone soll ein russ. Soldat (wohl aus dem hintersten Winkel Sibiriens stammend), einmal einen Jungen gesehen haben, der an ihm freihändig mit dem Fahrrad vorbei fuhr. Dem lief er nach, zwang ihn, von seinem Rad abzusteigen, stieg selbst auf und wollte damit fahren.

Dieser Russe dachte, das Fahrrad würde von alleine, noch dazu, ohne, dass er es an der Lenkstange zu halten bräuchte (wie der Junge, dem er es weggenommen hatte), fahren. Doch fiel der Russe in kürzester Zeit mit dem Rad um, was eigentlich von vornherein klar war. Daraufhin griff der Russe zu seiner Waffe und erschoss den Jungen, der noch in der Nähe stand - da er wohl dachte, der Junge (!) hätte dies mutwillig getan ..."


Ich kenne diese Geschichte auch von meinen Verwandten in Mödling. Manche erzählten die Geschichte auch mit der Betonung Augenzeugen dieses Vorfalles gewesen zu sein.


Wolfgang (SAGEN.at)
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Fall aus dieser Zeit aus unserer Gegend (Altenmarkt bei Fürstenfeld):

Franz Horvath (genannt „Lulu“), Knecht beim Urschler 25, wollte nach Jobst gehen. Ein Russe schrie ihn an: „Stoi!“. Horvath ging seinen Weg weiter. Auf der Auwiesen in der Nähe Arbeiter Josef 65 erschoss ihn der Russe von hinten.
Franz hatte die Aufforderung nicht gehört, da er taub war.
 
Zuletzt bearbeitet:
Solche Geschichten wie oben angeführte über die vermeintlich "bösen Russen" kursieren in rauen Mengen noch immer in Wien.
Da ich diese Zeit nicht erlebt habe, mich aber einige Zeit intensiv für die Besatzung Österreichs, speziell Wien, interessierte und noch dazu etliche Verwandte aus diversen ehemaligen Russischen Besatzungszonen (unter anderem auch Mödling) besaß und besitze, habe ich damals nachgefragt.

Seltsamerweise hat keiner meiner Verwandten die Russische Besatzung negativ beurteilt, oftmals ganz im Gegenteil, wurde vor allem ihre Haltung Kindern gegenüber als sehr gutmütig und gutartig beurteilt.
Auch solche Geschichten wie jene, die mir öfters unterkam, dass Russen den Kindern scherzeshalber in Schokaldepapier verpackte Holzscheiben schenkten und sich über deren Traurigkeit amüsierten, wurden eher den französischen Besatzern zugeordnet.
Einziger Fall von russischer Bösartigkeit in meinen Familienkreisen ist jene Geschichte, wo eine Gruppe sichtlich bereits schwer alkoholisierte russische Soldaten in das Haus einer Großtante (?) eindrangen und mit ihren Gewehren ein großes Madonnenbild (das sich jetzt im Besitz meiner Mutter befindet) beschossen, leere Flaschen an die Wand schmissen und dann grölend zum nächsten Haus aufbrachen.

lg
Erich
 
Hallo!
Die Geschichte von dem Jungen auf dem Fahrrad ist für mich eine klassische Legende der Gegenwart mit allen nötigen Elementen, einschließlich der (gesellschaftspolitischen) "Botschaft", die in diesem Fall klar rassistisch ist und lautet: Die russischen Besatzer waren unkultiviert, dumm und brutal.
Das gibt es auch in harmloserer Form. Einer meiner Lehrer, der aus Oberösterreich stammte, erzählte in den Siebzigerjahren von einem russischen Soldaten aus der Besatzungszeit, der sich überschwänglich lobend über die Lebensqualität des Hauses geäußert habe, in dem er einquartiert war. U. a. sagte er, dass es da ein "Strick-Zimmer" geben würde. Auf Nachfrage erklärte der Soldat, was darunter zu verstehen sei: "Zimmer mit Strick - du ziehen an Strick und Dreck weg" - er meinte das Wasserklosett.
In ähnliche Richtung geht eine Geschichte, die im Grenzgebiet zwischen Legende der Gegenwart und Witz angesiedelt ist: Ein russischer Besatzungssoldat geht zu einem einheimischen Uhrmacher, weil seine (natürlich geraubte) Uhr nicht mehr geht. Der Uhrmacher öffnet das Gehäuse und schaut sich alles an. Dabei entdeckt er eine Laus und zieht sie mit der Pinzette eine Laus heraus. Darauf der Russe, der interessiert zugeschaut hat: "Aha, Maschinist tot!"
Verwandt mit diesen Geschichten von den unkultivierten Fremden sind Anekdoten, die man in Tirol von den Südtiroler Umsiedlern erzählt, die ab 1939 nach Nordtirol kamen und auf die man eifersüchtig war, weil sie moderne neue Wohnungen bekamen, die man selber meist nicht hatte. Von meiner Mutter (Jahrgang 1924) habe ich mit Bezugnahme auf die Südtiroler-Seidlung in Telfs gehört, dass die Südtiroler damals in der WC-Schüssel die Butter kalt gestellt hätten, weil sie nichts mit diesen sanitären Anlagen anzufangen wussten.
Ich nahm das erst für bare Münze, bis ich (ich glaube, bei Klintberg) gelesen habe, dass genau dasselbe in den Sechzigerjahren in Stockholm über die angeblich hinterwäldlerischen Zuwanderer aus der schwedischen Provinz erzählt wurde...
 
Meine Mutter hat die Besetzung als Kind erlebt: Sowjetische Besatzungszone,
Ostzone, DDR ... Um den Kindern die Angst zu nehmen, wurde ihnen erzählt,
die "Ballerei" sei Silvesterfeuerwerk. Als sie neugierig aus dem Fenster lugte,
hatte sie Glück. Ein Schuß traf oberhalb ihres Kopfes, vielleicht war es auch
"nur" ein Warnschuß, die Bevölkerung sollte ja in den Wohnungen bleiben.
Als letzte" Verteidiger " wurden ganz junge Schüler noch aufgerufen, die
schon längst nicht mehr bestehende Heimatfront zu verteidigen. - Die Russen
waren dann recht freundlich zu den Kindern! Aus dem Osten erzählten mir
jedoch geflüchtete und vertriebene Frauen: wehe, wenn man nicht mehr
als Kind angesehen wurde! Nun muß man sagen: den "Russen" gab es wohl
nicht. Viele Völker waren in dieser Armee, nicht nur freiwillig. Es gab auch
welche, die auf deutscher Seite kämpften. Nicht weil sie Nazis waren, sie
wünschten eine andere Politik in ihrer Heimat und Freiheit . Ich glaube: wir
jüngeren haben keine Vorstellung, was Krieg bedeutet in der Realität. Auf
beiden Seiten gibt es Moral, Dummheit, Grausamkeit, Menschlichkeit ...
Wäre schön (Wunsch fürs neue Jahr) wenn die Menschheit aus der
Vergangenheit lernen und endlich vernünftig und tolerant miteinander
leben würde! - Es gibt natürlich ganz persönliche Erlebnisse: Als vor
kurzem für die Oder-Hochwassergeschädigten( in Deutschland und Polen)
gesammelt wurde, sagte mir ein älterer Mann (inzwischen im Altenheim):
Von mir aus sollen alle absaufen, ich bezahle doch nicht für den Wiederaufbau
eines Hofes, der mir gestohlen wurde! Ich (immer bemüht, als gute Christin
zu leben) fragte: Können Sie nach so langer Zeit nicht verzeihen? Ein klares
"Nein" ! Was soll ich dem entgegensetzen? Was wäre, hätte ich es so erlebt?
Es bleibt eine gewisse Hilfslosigkeit! Nun aber genug und nachdenkliche
Grüße von Ulrike
 
@ stefan 99:Die Geschichte mit dem "Strick-Zimmer" kenne ich von meiner Oma und hat sich angeblich in Leipzig zugetragen.....also:eindeutig Legende!
 
Nein! Sicher keine Legende! Hier kann ich absolut nicht zustimmen!

Ein sehr schwer zu beurteilende Mischung aus Realität, Erzählvariationen und Tradition im Sinne von Weitergabe der Information ...

Wolfgang (SAGEN.at)
 
Ist ja irgendwie gut, dass man über manches heute lächeln kann (Strick-Zimmer), man sollte sich aber vor Arroganz hüten. Einige Jahrzehnte zuvor war man bei uns auf dem Land auch nicht sehr viel weiter. Ich bin noch mit Plumps-Clo aufgewachsen und hab den Strick erst in der Schule kennen gelernt. Krieg ist sicher eine für uns unvorstellbare Ausnahmesituation. Die Sprachbarriere kommt dazu, die Angst, der Hass. Man darf nicht vergessen, was in Russland verbrochen wurde, ehe wir besetzt wurden. Und aus jüngster Geschichte weiß man, was den Amerikanern alles im Irak "passiert" ist, weil sie aus Amgst und Missverständnis geschossen haben. Wobei ich glaube, dass die Öffentlichkeit von solchen Vorfällen nur einen Bruchteil erfährt. Wie bei uns halbe Kinder in den Krieg geschickt wurden, so hat man in Russland sicher auch alle aus den hintersten Dörfern (ich meine das nicht abwertend) geholt und die wurden dann mir Dingen konfrontiert, die sie an überfordert haben. Im Haus meiner Großeltern waren auch Russen einquartiert. Mein Großvater wollte die Wiese mähen, ein Soldat kam her und schrie ihn an, die Familie lief zusammen, man verstand ihn nicht. Großvater mähte dann weiter, das brachte den so in Rage, dass er auf ihn anlegte. Meine Mutter, ca. 17, stellte sich vor den Vater und begann dermaßen zu schreien mit dem Russen, dass der sich umdrehte und ging. Großmutter hat bis ans Ende ihrer Tage erzählt, wie ihr das Herz stehen geblieben ist, weil sie dachte, jetzt würde sie beide verlieren. Auf diesen Vorfall hin soll sich angeblich die Stimmung im Haus mit den Besatzern entspannt haben.
 
Die Russen-Geschichte meiner Oma:

(Auszug aus der Erzählung über meine Großeltern die ich unter "Erzählungen" gepostet habe)

Oma ist 1925 in Lassing geboren, ihr Vater Wilhelm war beruflich Jäger, der später an Kehlkopfkrebs gestorben ist und angeblich ein sehr unkeusches und rücksichtsloses Leben führte- gelinde ausgedrückt.
Omas Mutter Maria hatte ein sehr schweres Leben, sie hat nicht nur 13 Kinder zur Welt gebracht und ein 14. Kind im dritten Monat der Schwangerschaft verloren, sondern war dann auch noch 6 Jahre krank und starb dann mit 48 Jahren an Gebärmutterkrebs.
Zudem ging ihr Mann zu Lebzeiten nicht gerade zimperlich mit ihr um, aber so war das eben damals, da wurde nicht lange gefragt ob man Kinder MÖCHTE, sondern man hatte das zu tun, was der Mann sagte.

Die Grenze zwischen Steiermark und Niederösterreich war damals auch die Grenze zwischen den Alliierten Engländern und Russen. In der Besatzungs- Zeit kamen eines Tages die Russen ins Haus, um es nach Waffen zu durchsuchen. Omas Vater war Jäger und hatte somit einige Waffen in einem Waffenschrank
Als Oma einmal alleine zu Hause war, durchsuchten Russen ohne Befehl das ganze Haus.
Es gab einen großen Streit darum, ob die Waffen nun privat seien, oder ob es Waffen der Truppen (militärische Waffen) seien.
Die russischen Soldaten schütteten die Patronen auf den Boden und schrieen herum, doch Oma blieb hart und verteidigte die Waffen ihres Vaters.
Als ihr Cousin Fritz zu der Tür rein kam, sagte Oma ihm, dass er einen russischen Major holen sollte. Dieser lief los und kam wenig später mit einem russischen Major und einem Dolmetscher wieder zurück.
Die Soldaten schienen Respekt vor ihm zu haben, weil die Hausdurchsuchung ja unerlaubterweise durchgeführt wurde.
Als der Major an Oma vorbei in den Waffenschrank greifen wollte, gab Oma diesem eine schallende Ohrfeige.
Daraufhin zerrte der Major sie an den Haaren in die Küche wo auch ihre Mutter war. Die Soldaten im anderen Raum verzogen sich schleunigst und von diesem Moment an konnte der Major plötzlich auch deutsch sprechen.
Er kam ganz nahe an Omas Gesicht und sagte ganz leise zu ihr:“ Karoscho Deoschka“- gutes Mädchen. Nur EIN österreichisch Mädchen schlagen russisch Offizier!“
Dann verließ er das Haus ohne sich noch einmal umzudrehen.
Im Jahr 1955 sind alle Russen abgezogen.
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Die Gesschichte mit dem Fahrrad kenne ich übrigens auch, die soll sich direkt vor unserem Haus abgespielt haben! :floet:
 
Ich kenne auch Geschichten: Die Russen haben Kloschüsseln zum Salatwaschen
benutzt. Sie haben gute Holzmöbel mit roter Farbe angestrichen. Sie haben sich
von Wodka "ernährt" ... Eine Frau erzählte mir: Russen stürmten ins Haus (nur
Frauen und Kinder): Keiner sagt ein Wort, sonst alle tot. Gewehr auf sie
gerichtet. Es waren Plünderer. Vor Angst hätte sie einen gellenden Schrei
ausgestoßen, die Russen wären geflohen. In ihrer Erinnerung sei ihr der
eigene Schrei laut wie Glockenklang vorgekommen, es wäre ihr gar nicht
bewußt gewesen, daß sie es war, die schrie. Später sagten es die anderen.
Sie hatte den größten Schock! Es waren aber bei uns entlaufene Zwangsarbeiter, keine Besatzer. Auf jeden Fall hatten wir" Glück", in
Westdeutschland zu leben. Denn in der sowjetischen Besatzungszone
war es besonders schlimm, auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin.
Im Westen war doch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder sprichwörtlich.
65 Jahre Frieden kann man gar nicht hoch genug schätzen!
Einen besinnlichen Jahreswechsel wünscht Ulrike
 
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