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„Derstunken und derlogen“: Sorgen um Sagen

dolasilla

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Heute bin ich in der „Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie Band XXXIV, Gesamtserie Band 83“ (aus dem Jahr 1980) zufällig über einen interessanten Artikel von Richard Wolfram gestolpert: „Sorgen um Sagen“. Dabei geht es u.a. um die beiden Autoren und Sagensammler Karl Felix Wolff und Johann Adolf Heyl, und deren offensichtlich recht unbefangener Umgang mit den ihnen zugetragenen Sagen.

Wolff war ein autodidaktischer Volkskundler und Sagensammler, er ist vor allem für seine Sammlung der „Dolomitensagen“ bekannt. Wikipedia dazu:„Sein bleibendes Verdienst ist, noch vor dem Ersten Weltkrieg ladinische Sagen gesammelt und veröffentlicht zu haben, die, wie Wolff selbst bitter feststellen musste, schon wenige Jahre später fürimmer vergessen gewesen wären oder nicht mehr vervollständigt werden konnten, weil es keine Gewährsleute mehr gab. Wolff konzentrierte sich auf Sagen, die ihm typisch für Ladinien erschienen, während er jene ladinische Sagen, die auch anderswo ähnlich erzählt wurden, weitestgehend nicht beachtete. Insgesamt hat Wolff das Material zu Südtiroler Sagen wesentlich bereichert. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Felix_Wolff )

Dabei hat er es aber nicht beim Sammeln belassen, sondern die Sagen weiter bearbeitet, um nicht zu sagen: stellenweise frei erfunden. Das gab er auch ganz freimütig zu: "... komme ich noch einmal darauf zurück, was ich schon1913 erklärt habe, nämlich daß die Erzählungen von mir frei bearbeitet worden sind...Dazu gehört das Überbauen der Lücken und das Herausholen jener seelischen Stimmung, von der die Dolomitenbewohner selbst überhaupt nie sprechen.“ (zitiert nach https://www.sagen.at/doku/biographien/wolff.html)

Dazu fühlte er sich als Einheimischer offenbar berechtigt, denn „nur ein Verfasser, dervon seiner Kindheit an solche Eindrücke in sich aufgenommen und immer wieder Land und Leute gesehen und erlebt hatte, durft das unternehmen. …" (zitiert nach sagen.at: https://www.sagen.at/doku/biographien/wolff.html). Nun ja.

Die italienische Volkskundlerin und Professorin Ulrike Kindl bemängelte den allzu „kreativen“ Umgang Wolffs mit dem „Sammeln“ von Sagen, die tatsächlich eine subjektive Bearbeitung darstellen, auch in ihren Werken („Kritische Lektüre der Dolomitensagen von KarlFelix Wolff. Band I: Einzelsagen.IstitutLadin „Micurá de Rü“, St. Martin in Thurn 1983 und „Kritische Lektüre der Dolomitensagen von Karl Felix Wolff. Band II:Sagenzyklen – Die Erzählungen vom Reich der Fanes.Istitut Ladin „Micurá de Rü“, St. Martin in Thurn 1997, ISBN88-8171-003-X. )

Der Autor des Artikels „Sorgen um Sagen“, Richard Wolfram, schreibt, dass Wolff weiters auch zugab, lediglich zwei (!) Sagen, nämlich „Salvarja“und „Der Wintersenner“ wörtlich übersetzt aus dem Ladinischen Original übernommen zu haben. Eine der von ihm bearbeiteten Sagen hat er aus sage und schreibe fünf (!) verschiedenen Elementen zusammengeschustert. Wolfram wollte mehr darüber wissen und suchte das Gespräch mit Wolff (das scheint noch in den 1940er Jahren gewesen zu sein). Wolff meinte, dass die ladinischsprachigenMitschriften nach seinen Volkserzählern meist recht kurz und einfach waren. (Vielleicht hat er sie einfach zu kurz und langweilig gefunden und sie deswegen mehr „ausgeschmückt“, das ist mein Gedanke dazu). Wolfram interessierte sich brennend für die Urfassungen dieser Sagen und bat Wolff inständig, ihm (und der Wissenschaft )diese zugänglich zu machen. Wolff hingegen meinte nur, er habe die Originale verbrannt...

Nun zu Johann Adolf Heyl. Heyl war Lehrer, und wie Wolff sammelte auch er Sagen aus dem Volk. Eine der wichtigsten und größten Sagensammlungen Tirols stellt sein 800 Seiten starkes Buch „Volkssagen, Bräuche und Meinungen ausTirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl“ (Brixen1897) dar, das hier auf sagen.at online zu finden ist: https://www.sagen.at/texte/sagen/oesterreich/tirol/heyl/sagen_heyl.html und das zu den Standardwerken der tirolischen Sagenforschung gehört.

Heyl benennt brav seine Quellen (die Gewährsleute aus dem Volk), dabei fiel dem Autor des eingangs erwähnten Artikels auf, dass unter den Quellen ungewöhnlich viele Lehrer (eigentlich Lehrerinnen) zu finden waren. Wolfram wurde neugierig und wollte mehr darüber wissen, forschte nach und konnte eine ehemalige Lehrerin (Frau Amalia Laimer) ausfindig machen, die ihm von ihrer Ausbildungszeit zur Lehrerin unter Heyl erzählte. Heyl war nämlich von 1886 bis 1905 Lehrer an der Staatlichen Lehrerinnenbildungsanstalt in Innsbruck (ab 1906 sogar der Leiter) und bildete somit in dieser Funktion die künftigen Lehrerinnen aus. Zu seiner Ausbildung gehörte auch, dass die Lehramtskandidatinnen ihrem Lehrer Sagen liefern mussten. Frau Laimer berichtete, dass er die Lehramtskandidatinnen deswegen immens sekkiert hat und wenn diese ihm keine guten Sagen brachten, gab er ihnen schlechte Noten, was zu folgendem Ergebnis führte: „Ein Teil der Sagen bei Heyl ist deshalb derstunken und derlogen.“ (O-Ton Frau Laimer)

Ich muss schon sagen, ich bin wirklich platt!

Die Dolomitensagen von Wolff hab ich schon im Volksschulalter rauf und runter gelesen, die Tatsache, dass er die Sagen stark bearbeitet bzw. Teile davon schlichtweg erfunden hat, ist mir hingegen neu. Für mich geht das weit über die sogenannte künstlerische Freiheit hinaus. Dass er weiters die Originalmitschriften vernichtet hat – nun, da fehlen mir einfach nur mehr die Worte.

Freilich ist es so, dass bei jedem neuerlichen Erzählen von Geschichten jeglicher Art bewusst oder nicht bewusst Details weggelassen werden, andere, neue dazukommen oder leicht verändert werden, das liegt in der Natur der Sache und erinnert mich an das Kinderspiel „Stille Post“, dieses Phänomen ist uns wohl allen aus dem Alltag bekannt. Ein Sagensammler jedoch sollte – zumindest meiner Ansicht nach - jedoch Sammeln und das Gehörte und Erzählte so wortgetreu wie nur möglich wiedergeben (bzw. gegebenfalls übersetzen, wenn es sich um eine andere Sprache handelt). Nach meinem Verständnis heißt sammeln sammeln – und nicht verändern bzw neu erfinden, egal ob dies bewusst oder nicht bewusst geschieht.

Wolff hat die subjektiven Veränderungen jedoch mit voller Absicht vorgenommen und sah sich dazu auch durchaus berechtig, wir erinnern uns an seine Aussage: „Nur ein Verfasser, der von seiner Kindheit an solche Eindrücke in sich aufgenommen und immer wieder Land und Leute gesehen und erlebt hatte, durft das unternehmen. …

Wir begegnen hier also einem Sagensammler, der die ihm zugetragenen Sagen nach Belieben ändert, ergänzt oder neu erfindet und einem Lehrer, der seine Schülerinnen mit schlechten Noten erpresst, um an gutes „Material“zu kommen; das Ergebnis sind Werke, die nunmehr als „Standardwerke der tirolischen Sagenforschung“ bzw. als "Bereicherung der Südtiroler Sagen" gelten. Die fragwürdigen Methoden dieser beiden lassen mich nun schwer an der Seriosität und Glaubwürdigkeit von Sagensammlern überhaupt zweifeln. Vielleicht waren die beiden ja nur„schwarze Schafe“, dennoch bleibt ein bitterer Geschmack zurück und für mich stellen sich die Fragen: Wer noch hat auf diese Art Sagen „gesammelt“, wieviele (und welche) Sagen, die heute als ursprüngliche „Sagen aus dem Volk“ gelten, sind eigentlich nur Erfindungen (oder Hirngespinste, um es mal ganz böse auszudrücken) von Einzelnen, die sich dazu bemüßigt fühlten, ihnen Erzähltes nach eigenem Gutdünken zu „verbessern“?

Bin auf Eure Gedanken gespannt!

LG,
Dolasilla

PS: Der Artikel von Richard Wolfram mit dem Titel „Sorgen um Sagen“ ist hier vollständig zu lesen (ab S. 243):
https://www.volkskundemuseum.at/jar...ploads/downloads/OeZV_Volltexte/OEZV_1980.pdf
 
Du hast ein interessantes Thema angesprochen! Hier bei sagen.at von F. Gottschalck in der Vorrede zu seiner Sagensammlung: WAs sind Volkssagen ... Vielleicht auch interessant die Vorrede der Grimms zu ihren Deutschen Sagen, finde ich hier aber nicht. Unverfälschte Wiedergabe einer mündlichen Volkserzählung ist sicherlich schwierig. Meine kleine SAmmlung der SAgen meiner Heimatstadt schöpft größtenteils aus
bereits vielfach gedruckten Quellen in verschiedenen Fassungen. Viele Lehrer haben sich mit diesen Stoffen befaßt,
auch ich hatte in der NAchkriegszeit noch das Fach Heimatkunde. Eine Lehrerin (!) hat z.B. das Dortmunder Sagenbuch "verfaßt" . Manche Geschichte
hielt ich für Volksgut, bis ich herausfand: es gab einen Verfasser. So ist es auch oft mit sog. Volksliedern, sie sind schon Allgemeingut geworden,
dabei steht ein Dichter dahinter. Für recht authentisch halte ich Tonbandaufzeichnungen, wobei auch diese Geschichten bereits älter waren und durch stetige
Weitergabe sicherlich auch verändert, ausgeschmückt , angepaßt, verständlich gemacht, verfälscht - ob bewußt oder in bester Absicht ... Ich glaube,
es werden ??? bleiben. - Demnächst kommt K I , ob spätere Generationen dann unterscheiden können und alte gedruckte (!) Quellen noch von Interesse sind? - Weiterhin viel Spaß bei der Beschäftigung mit Sagen, dies verbindet uns ja auch mit sagen.at !!!
Dir viele Grüße aus dem sagenhaften Westfalen! -Ulrike
 
Liebe Ulrike,
wie ich ja geschrieben habe, ist es schon klar, dass in jeder Wiedergabe von Sagen (oder auch anderem) diese eine Veränderung erfahren (das Phänomen der "Stillen Post"), darum geht es mir nicht. Wie die Brüder Grimm zu ihren Märchen kamen, ist hinreichend bekannt, dazu habe ich an einer anderen Stelle hier schon mal geschrieben. Trotz Suchfunktion kann ich es gerade leider nicht finden, habe es aber auf meinem PC gespeichert, sollte es dich interessieren, kann ich es hier nochmal einstellen.

Freilich ist es ein Unterschied, welche Sagen - und vor allem auf welchem Wege - ihren Eingang in Sagensammlungen gefunden haben.

Was mich entsetzt, ist die Art und Weise, wie Wolff und Heyl damit umgegangen sind bzw wie sie zu ihrer Sammlung kamen. Der eine erfand einfach bzw bastelte halt zB aus mehreren Sagen eine einzige zusammen, der andere erpresste seine Schülerinnen, die dann aus Angst vor schlechten Noten einfach irgendwelche Geschichten erfanden ("derstunken und derlogen"). Dabei ging es vermutlich nicht einfach nur mal um eine einzige schlechte Note, die die Frauen bekamen, wenn sie keine adäquaten, dem Ausbildner genehmen, Sagen liefern konnten, sondern die jungen Frauen riskierten einen negativen Abschluss ihrer gesamten Berufsausbildung als Lehrerin - und als Lehrerin arbeiten zu können war eine der wenigen Berufe, die Frauen damals überhaupt offenstanden, um ein zumindest halbwegs finanziell unabhängiges Leben führen können. Diese Frauen setzten ihr gesamte Zukunft aufs Spiel. Hier wurde mir die Tragweite dieser Erpressung seitens Heyl sehr deutlich.

Wie du selbst schreibst, hast du in deiner Sagensammlung über Schwerte bereits vorhandene Quellen verwendet. Ich vermute jetzt mal ganz stark, du hast für die Erstellung deiner Sammlung niemanden bedroht und eingeschüchtert, um an "gutes Material" zu kommen, das dann - aus lauter Angst vor negatien Konsequenzen seitens der Gewährsleute - schlichtweg erfunden wurde. Solche "Sagen" sind wohl kaum überliefertes Volksgut.

DAS ist der Unterschied!

LG,
Dolasilla

PS: Hast du den von mir verlinkten Artikel von Richard Wolfram gelesen?
 
Hallo Dolasilla,

ich muss Dir zu diesem Thema die Gegenfrage stellen: Wie stellst Du Dir die ideale Volkssage vor?

Zweitens ist es leider eine sehr naive Vorstellung, dass in einem beliebigen Gebiet jeglicher Wissenschaft das Wissen dem Sammler oder Wissenschaftler friedlich und gelassen entgegenfliegt und er nur aufsammeln braucht.
Egal in welchem Gebiet der Wissenschaft von A wie Archäologie bis Z wie Zahnmedizin ist die gesamte Wissenschaftsgeschichte durch ziemlich raue Methoden belegt, da ist jegliche erdenkbare Form niederträchtigen Handelns bis in die Gegenwart vertreten. Natürlich nicht nur in der Wissenschaft, auch sonst, sei es in der Wirtschaft, im Handel und wo auch immer.

Dennoch darf man bei den Sagen auf Grund gewisser und gelegentlicher literarischer Auswüchse keinesfalls das ganze Fachgebiet danach beurteilen oder gar aburteilen! Es gibt einen wesentlichen Überhang an authentischen Geschichten in einem regionalen Bereich, bis hin zu archäologischen Grabungen auf Grund von Regionalsagen, die dann Belege zur Erzählung zutage gefördert haben.

Wolfgang (SAGEN.at)
 
Hallo Wolfgang,

Wie stellst Du Dir die ideale Volkssage vor?

Z. B. so:
In einem Dorf in Brandenburg erzählten sich die Menschen seit Jahrhunderten, dass in einem der drei (künstlich aufgehäuften) Hügel ein goldener Fingerring eines Riesen vergraben sei. In einem anderen der drei Hügel soll ein heidnischer König in einem dreifachen Sarg begraben liegen, erzählten die Bauern der Gegend. Der König (Hinz war wohl sein Name) war ein guter Mann, er war gerecht und sehr beliebt im ganzen Volk, unter seiner Herrschaft lebten alle in Frieden und Wohlstand. Irgendwann starb der König. Seine Untertanen wollten die Erinnerung an ihn und die goldenen Zeiten, die sie unter seiner Herrschaft erleben durften, lebendig erhalten. So errichteten sie ihm ein Grabmal, das einzigartig war: Der beliebte Herrscher wurde mit einigen Schätzen in einem goldenen, dreifachen Sarg bestattet und um das Grab errichteten sie einen mächtigen Hügel. So erzählten es sich die Menschen dieser Gegend seit Urzeiten.

1899 gruben Archäologen bei dem märkischen Dorf Seddin diese drei künstlichen Hügel auf. Der Fingerring des Riesen aus der Sage erwies sich als bronzener Armreif. In dem anderen, 11 m hohen Hügel entdeckte man die bis dahin größte bronzezeitliche Königsbestattung auf deutschem Boden: Dieses sogenannte „Königsgrab“ gilt heute als die bedeutendste Grabanlage des 9. Jh. v.u.Z. im nördlichen Mitteleuropa. In der aus Steinplatten errichteten Grabkammer stand ein großes Tongefäß, das eine bronzene Aschenurne barg (den "goldenen" Sarg), umfasst von zwei weiteren äußeren Umhüllungen – das war der dreifache Sarg der Sage.

Seit dem Jahr 2000 wird das Königsgrab und die umgebende Rituallandschaft erforscht. Erst im vergangenen Jahr (2023) wurde eine neue Entdeckung gemacht: Bei Grabungen im Frühjahr 2023 sind Archäologen auf Überreste eines riesigen Gebäudes, das hier vor fast 3.000 Jahren errichtet wurde (und somit aus der Bronzezeit stammt) gestoßen. Dabei soll es sich um die Halle des sagenumwobenen König Hinz handeln.

Zweitens ist es leider eine sehr naive Vorstellung, dass in einem beliebigen Gebiet jeglicher Wissenschaft das Wissen dem Sammler oder Wissenschaftler friedlich und gelassen entgegenfliegt und er nur aufsammeln braucht.
Egal in welchem Gebiet der Wissenschaft von A wie Archäologie bis Z wie Zahnmedizin ist die gesamte Wissenschaftsgeschichte durch ziemlich raue Methoden belegt, da ist jegliche erdenkbare Form niederträchtigen Handelns bis in die Gegenwart vertreten. Natürlich nicht nur in der Wissenschaft, auch sonst, sei es in der Wirtschaft, im Handel und wo auch immer.

Sammeln war selten eine unschuldige Angelegenheit. Und ja, es geht mitunter schon recht grob zu auf der Welt, da gebe ich dir durchaus recht. Doch das Argument ("es ist naiv zu denken, dass das Wissen dem Sammler oder Wissenschaftler friedlich und gelassen entgegenfliegt und er nur aufsammeln braucht; von Archäologie bis Zahnmedizin ist die gesamte Wissenschaftsgeschichte durch ziemlich raue Methoden belegt") rechtfertigt z.B. auch den kolonialen Beutekunstraub. Also die illegale und gewaltsame Beschaffung von Kunstschätzen von Völkern anderer Kulturen durch hiesige Anthropologen, Ethnologen, Missionare, Kaufleute – die oft im Auftrag von Museen handelten, welche ihnen konkrete Listen ihrer begehrten Objekte mitgaben, wenn diese Leute zu ihren bewaffneten Expeditionen aufbrachen. Mit dem Ergebnis, dass geschätzte 95% (!!!) des afrikanischen Kulturerbes nicht etwa in Afrika zu finden sind, sondern in europäischen Museen liegen. Natürlich alles im Dienst der „Wissenschaft“ - der Zweck heiligt schließlich die Mittel. Wobei dabei immer noch das Märchen erzählt wird, dass westliche Museen doch lediglich selbstlos und uneigennützig handel(te)n, um genannte Kunstgegenstände zu „retten“ und damit vor dem endgültigen Verlust zu bewahren - dabei basiert diese museale „Kultur“ des Sammelns (besser gesagt: Aneignens) auf einer gewalttätigen Geschichte.

Europäische Museen sehen sich auch heute noch gern in der Rolle des Bewahrers und Hüters. Ich sag nur: Federkrone von Montezuma, die aus dem heutigen Mexiko stammt. Die Federkrone ist bis heute DAS Aushängeschild des Weltmuseums in Wien. Dort stammen auch heute noch 60 bis 90 % der Bestände aus kolonialem Kontext, wozu nicht nur die genannte Federkrone zählt. Seit Jahrzehnten fordert Mexiko die Rückgabe der Federkrone, doch Österreich war nicht bereit, die Federkrone wenigstens als Leihgabe zum “freudigen“ Anlass des 500. Jahres der Eroberung Mexikos bereitzustellen. Angeblich würde der Transport die fragilen Federn des Objekts beträchtlich beschädigen, hieß es aus dem Kulturstaatssekretariat. Dass dafür mexikanische StaatsbürgerInnen freien Eintritt ins Weltmuseum Wien bekommen und sich den Federkopfschmuck gratis anschauen dürfen, ist für mich blanker Hohn.

Der Kolonialismus wirkt auch heute noch in unserem Denken nach, unser angebliches „Recht“ auf Kulturgüter anderer Völker und Kulturen ist immer noch von kolonialen Denkmustern durchzogen. (Wer sich näher damit beschäftigen möchte, dem lege ich die 8-teilige Dokumentationsreihe "Geraubte Schätze - Wem gehört das koloniale Erbe?" nahe. Diese beschäftigt sich mit berühmten Kunstschätzen und Kulturgütern, die durch die Kolonialisierung in den Besitz großer europäischer Museen gelangt sind. Zum Teil schwer erträglich!)

Zurück zu den Sagen, die von Wolff und Heyl mit meiner Ansicht nach sehr fragwürdige Methoden „gesammelt“ wurden. Es geht nämlich auch anders.
Ich denke da z.B. an Friedrich Panzer, einem bayerischen Beamten (er war Architekt) im 19.Jhdt, der auf seinen Dienstreisen Sagen sammelte. Auf seinen Dienstreisen, die ihn durch ganz Bayern führten, war er oft in einer Wirtschaft, wo er den Leuten „aufs Maul schaute“, er hat ihnen also einfach zugehört, was sie so erzählten und mitunter wohl auch näher nachgefragt. In seiner Sammlung „Bayerische Sagen und Bräuche: Beitrag zur deutschen Mythologie “ liest sich das dann z.B. so: „Die Frau von Donnersberg und die alten Leute im Dorfe sagten uns oft,…“ oder auch „der Bauer XY von XY hat mir dies erzählt…“.

Johann Nepomuk Sepp, ein bayerischer Historiker, Kirchenhistoriker und Volkskundler, ebenfalls aus dem 19.Jhdt, gab in seinem „Altbayerischen Sagenschatz“ und auch in seinen „Denkwürdigkeiten aus dem Bayeroberland“ die bayerische Sagenwelt (sofern literarisch belegt) wieder. Beide Titel sind übrigens auch heute noch überaus lesenswerte Bücher und für mich ein steter Quell der Freude.

Panzers Methode der Sagensammlung würde ich in die teilnehmende Beobachtung, eine Methode der Feldforschung der Sozialwissenschaft, einordnen. Das erscheint mir um einiges seriöser und macht seine Sagensammlung glaubwürdiger als Heyls Methode der Einschüchterung, Bedrohung und Erpressung. Auch Sepp nennt seine Quellen, so berichtet er z.B. von einer Frau, die ihm erzählt hat, dass sie in ihrer Jugend oft von St. Georgen am Ammersee nach Wessobrunn gegangen ist und dort die Kümmernis in Menschengröße und mit langem Bart in der Vorhalle der Klosterkirche am Kreuz hängen gesehen hat. (Als Prof. Sepp das Kloster 1861 kaufte, fand er die Kümmernis bereits „renoviert“ vor, also massiv beschädigt). Sepps Erzählung über die Begegnung mit dieser Frau klingt jetzt auch nicht nach gewalttätiger Aneignung („Sammlung“) einer Geschichte.

Ich denke da auch an Weston A. Price, einen US-amerikanischen Zahnarzt aus dem frühen 20.Jhdt, der jahrzehntelang die Ernährung indigener, isoliert lebender Völker auf der ganzen Welt untersuchte, um herauszufinden, warum modern lebende Menschen so schlechte, kariöse Zähne haben und sogenannte „Zivilisationskrankheiten“ wie Tuberkulose, Diabetes, Krebs, Karies, etc entwickeln, während diese Krankheiten bei sogenannten „primitiven“ Völkern kaum anzutreffen sind. Dabei fotografierte er die Zähne von Menschen, die die Nahrung der modernen Lebensmittelindustrie zu sich nahmen sowie die Zähne von indigenen Menschen, die sich noch traditionell ernährten. Nachdem Fotografie damals noch ein sehr neues Medium war, waren manche indigene Menschen nicht bereit, sich bzw ihre Zähne fotografieren zu lassen; der Prozess des Fotografierens war ihnen anfangs schlichtweg suspekt. Dr. Price zwang sie jedoch nicht dazu, sondern lebte oft viele Wochen oder monatelang mit ihnen zusammen. Geduldig wartete er, bis diese Menschen genügend Vertrauen zu ihm und seiner Forschung aufgebaut hatten und dann – und nur dann, wenn diese es explizit zuließen und erlaubten – fotografierte er sie.

Dennoch darf man bei den Sagen auf Grund gewisser und gelegentlicher literarischer Auswüchse keinesfalls das ganze Fachgebiet danach beurteilen oder gar aburteilen!

Ja, gewiss. Ich habe kein Pauschalurteil abgegeben, geschweige denn ein ganzes Fachgebiet in Frage gestellt. Ich habe lediglich die Frage gestellt, wer sonst noch hat auf diese Art (nämlich wie es Wolff und Heyl taten) Sagen „gesammelt“, und wieviele (und welche) Sagen, die heute als ursprüngliche „Sagen aus dem Volk“ gelten, sind eigentlich nur bloße Erfindungen von Einzelnen. Ich wüsste z.B. wirklich sehr gerne, welche Sagen konkret es sind, die Heyl von seinen Schülerinnen erpresst hat und somit „derstunken und derlogen“ sind. Die Originalmitschriften der ladinischen Sagen, die die Gewährsleute Wolff erzählten, fände ich auch sehr spannend - dass er diese vernichtet hat und sie somit für immer verloren sind, finde ich überaus betrüblich.

Seriöses, vor allem wissenschaftliches Forschen schaut anders aus. Auch wenn es üblich bzw. die Norm war (oder ist), sich Sammlungen (egal ob es sich um Sagen, Kunstobjekte oder was auch immer handelt), gewaltsam anzueignen, bedeutet das nicht, dass diese Methode erstrebenswert, wünschenswert oder gar legitim ist. Hier vermisse ich eine deutliche Abgrenzung aktuell Forschender (egal ob universitär-akademische Wissenschafter oder privat Forschende) zu diesen gewalttätigen Methoden. Wenn die Methoden von Wolff, Heyl und andern Forschenden auch heute noch als wissenschaftliche Norm gelten und von anderen Wissenschaftern lediglich als „literarische Auswüchse“ benannt und somit auch als legitim akzeptiert werden, kann ich das nicht mittragen.

Aus solchen Gründen habe ich mich schon früh dafür entschieden, dass ich zu diesem illustren Kreis nicht dazu gehören will – denn mit so etwas will ich nichts zu tun haben.

Mein Fazit ist daher: Alle, die sich mit Sagen, Erzählforschung, oralen Traditionen usw. beschäftigen, sollten nicht nur beim Sammeln, sondern auch beim Lesen eine sehr kritische Haltung an den Tag legen.

LG,
Dolasilla
 
Liebe Dolasilla, solch "rabiaten" Lehrer hatten wir zum Glück nicht. - Im heimischen Raum sammelten sie oft als ehrenamtliche Heimatpfleger
neben ihrem Lehrerberuf und weiter im Ruhestand heimische Sagen. Wahrscheinlich" beauftragten" sie ihre Schüler für den Heimatkundeunterricht in der Familie nach alten Sagen zu forschen. Bei uns gibt es Beispiele, dass mündliche in Platt(deutsch)
überlieferte Geschichten dann ins Hochdeutsche übertragen wurden, der Verständlichkeit wegen. Die Mundart wurde hier schon
stark verdrängt . Oft wurde Sagenstoff in dichterischer Freiheit in Versen wiedergegeben, ähnlich einer Ballade. Die Geschichten wurden ausgeschmückt zu ganz eigenständigen Erzählungen, nur im Kern konnte man die ursprüngliche Überlieferung noch erkennen.
Übrigens habe ich das Vorwort zu den Grimmschen Sagen gemeint, du hast wohl von den Märchen gesprochen. Letztere sind auch viel bekannter
als die Sagen. Ich besitze Gesamtausgaben von verschiedenen Verlagen. - Mir gefällt das Bild auf einer Sammlung aus dem Sauerland, eine
Spinnstube. Im Vorwort heißt es auch: dort wurden die Geschichten erzählt.
Literaturtipp: Walter Ewig, In der Spinnstube. 1957.
Viele Grüße!-Ulrike
 
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